Abdullah Öcalan - Auszug aus Anwaltsgespräch

Blandia 27.10.2004 19:42 Themen: Repression Weltweit
Hier ist ein Auszug aus dem Gespräch, das Abdullah Öcalan am 20.10.04 mit seinen Anwälten auf der Gefängnisinsel Imrali im Marmarameer führte. Diese beiden Punkte könnten euch besonders interessieren und sie zeigen auch ein bisschen, worum es nicht nur Öcalan, sondern der ganzen kurdischen Bewegung gerade geht.
Haftbedingungen: Seit vier Monaten keine Briefe

Zum ersten Mal seit drei Wochen konnte am 20.10. wieder ein Besuch des Verteidigerteams bei Öcalan stattfinden.

Seit fast vier Monaten hat Öcalan keinen Brief mehr ausgehändigt bekommen. Er erhält nicht einmal täglich eine Zeitung, dazu sind alle Artikel, die ihn in irgendeiner Weise betreffen, herausgeschnitten.
[...]

An die Frauenbewegung gerichtet:

„Diese Mädchen zu nehmen und abzuhauen ist nicht nur Triebbefriedigung. Das kann man nicht mit sexuellem Bedürfnis erklären. Das vernichtet die Frauenbefreiung. Fallt nicht auf die Spielchen von Osman und solchen herein. Ich weiß, dass ihr geduldig, opferbereit, unendlich mutig seid. Fallt auf keinen Mann herein. Die Freiheit ist für euch wichtiger als das tägliche Brot. Niemand soll Selbstmordaktionen machen. [...] In sicheren Gebieten sollen sie demokratische und kulturelle Arbeiten machen. An Pelsin und Jiyan: [...] Ich halte euch für schlau und intelligent. Ich rechne damit, dass ihr euch konzentriert und das neue Paradigma umsetzt.“

Öcalan zitiert im folgenden aus dem Schlusskapitel des Buches „Der historische Kapitalismus“ von Immanuel Wallerstein, den er sehr schätzt. Wallerstein wendet sich darin gegen einen unkritischen Fortschrittsglauben. Der Kapitalismus sei in vieler Hinsicht überhaupt kein Fortschritt gegen über vorherigen historischen Systemen. Öcalan selbst kritisiert immer wieder die Vorstellung, das Gute, der Fortschritt komme von außen, aus Europa oder den USA.

„Ich möchte Euch einen Satz aus Immanuel Wallersteins „Der historische Kapitalismus“ vorlesen, Seite 83. Er ist wichtig, ich möchte, dass ihr ihn aufschreibt: ‘Dass der Kapitalismus im Vergleich zu den historischen Systemen, die er zerschlagen oder transformiert hat, einen Fortschritt darstelle, ist so uneingeschränkt einfach nicht richtig. Selbst jetzt, wo ich das schreibe, empfinde ich das Unbehagen, das Schuldgefühle begleitet. Ich habe Angst vor dem Zorn der Götter, weil ich aus der gleichen ideologische Richtung wie meine Kollegen komme und zu den gleichen Dingen Ja und Amen gesagt habe.’ [...] Schon bevor ich das gelesen hatte, habe ich geschrieben, dass der Marxismus eine Variante des Kapitalismus ist. Auch ein weltbekannter Wissenschaftler wie Wallerstein sagt das. Denker wie Bookchin und Wallerstein sind wichtig. Lest sie. Ihr seid mutig, ihr seid opferbereit. Ich grüße in eurer Person alle Freundinnen. Ich glaube daran, dass ihr in diesen prächtigen Bergen der Freiheit das Allerschönste erschafft. Jedes Leben außerhalb davon, ist schlimmer als der Tod. Vertraut euch selbst. In eurer Person grüße ich alle Frauen und übermittle ihnen meine Liebe.“

„Basisdemokratie überall“

In der Türkei gibt es breite Diskussionen über eine Neuformierung der demokratischen Kräfte unter dem Dach einer demokratischen Bewegung oder Partei. Öcalan macht in diesem Zusammenhang Vorschläge darüber, inwiefern sich ein demokratisches Gebilde von den klassischen Parteien in der Türkei unterscheiden könnte:

„Ich finde das Model von mehreren gleichberechtigten Vorsitzenden gut. Ich glaube, bei den [deutschen] Grünen gibt es das. Bei den Grünen wird ein Mann und eine Frau gewählt. Der Mangel an innerer Demokratie ist das Hauptproblem aller Parteien in der Türkei. Wenn es keine innere Demokratie in einer Partei gibt, kann sich auch die Politik nicht demokratische gestalten. Wenn die Politik nicht demokratisch ist, kann sich auch die Gesellschaft nicht demokratisieren. Wenn sich die Gesellschaft nicht demokratisiert, demokratisiert sich der Staat nicht. Das hängt alles miteinander zusammen.“

„Es könnte verschiedene Büros geben. AbeiterInnenbüro, Bauernbüro, Frauenbüro, Jugendbüro, Ökologiebüro, politisches Büro, wirtschaftliches Büro. Vorsitz und Sekretariat könnte man deutlich trennen. Der Vorsitz könnte intensive theoretische Arbeit machen. Für das Programm möchte ich ihnen fünf Punkte vorschlagen:

1. Anerkennung, Bewahrung der und Ausdrucksfreiheit für die kulturellen Identitäten
2. Die Aufhebung aller Hindernisse, die eine Demokratisierung im Wege stehen
3. In vielgestaltiger Weise der Repression gegen sexuelle Identitäten und Gender entgegenzutreten, sie zu überwinden
4. Akzeptanz des ökologischen Gesellschaftsmodells
5. Die Lösung gesellschaftlicher Probleme ohne Anwendung von Zwang und Gewalt, also eine Friedenspolitik.
[...]
Mein zweiter Vorschlag betrifft freie Bürgerräte in Dörfern, Stadtteilen und Städten. Das Ziel ist Demokratie nicht von oben, sondern Volksdemokratie, Basisdemokratie, manche nennen es ‘deep democracy’, partizipative Demokratie überall.“ [...]
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Ergänzungen