Vergangenheitsbewältigung auf hanseatische Art

Birgit Gärtner 01.02.2004 20:27 Themen: Antifa Repression
Bei der Antifa-Demo am vergangenen Samstag in Hamburg wurden Wasserwerfer und Reizgas gegen Opfer des Faschismus eingesetzt - die Neofaschisten konnten unter Polizeischutz aufmarschieren.
Vergangenheitsbewältigung auf hanseatische Art

Mehr als 3.200 Uniformierte waren laut Polizeibericht am vergangenen Samstag in Hamburg im Einsatz, um ca. 1.000 NeofaschistInnenen von 6 bis 7.000 GegendemonstrantInnen "voneinander zu trennen". Während die FaschistInnen relativ unbehelligt vor Kampnagel aufmarschieren konnten, wurde die angemeldete und genehmigte Kundgebung der VVN gewaltsam und ohne jede Vorwarnung aufgelöst. Die vorläufige Bilanz des Tages: 221 in Gewahrsamnahmen, 15 vorläufige Festnahmen und 30 Verletzte, davon 26 Polizeibeamte/beamtinnen und vier DemonstrantInnen.
Während der Demo machten jugendliche DemoteilnehmerInnen ausgiebig Gebrauch von der weißen Pracht, die den Uniformierten zu handlichen Kugeln geformt an die Helme geschmissen wurde. Die Schneeballschlacht blieb jedoch einseitig, die Freude darüber ebenso. Vereinzelt flogen auch Flaschen und andere Gegenstände und einige Leuchtkugeln wurden abgefeuert.
Als der Protestzug die Kreuzung erreichte, auf dem die angemeldete und genehmigte Abschlusskundgebung der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes/Bund der AntifaschistInnen (VVN/BdA) stattfinden sollte, kam die Retourkutsche der Staatsmacht für die Schneebälle. Ohne jegliche Vorwarnung kamen Wasserwerfer und Schlagstöcke zum Einsatz, noch bevor der Demozug überhaupt richtig angekommen war. Die Shoa-Überlebende und Vorsitzende des Auschwitz-Komitees Esther Bejarano, die als Hauptrednerin zu der Kundgebung geladen war, forderte die Polizei über Mikro auf, den Beschuss durch die Wasserwerfer sofort zu stoppen und die BeamtInnen sowie die Fahrzeuge zurückzuziehen. Dieser Appell wurde mit der Beschlagnahmung des Stromaggregats der Lautsprecheranlage beantwortet. Nachdem ihr der Saft abgedreht wurde, musste die 79jährige Auschwitz-Überlebende längere Zeit in dem Kleinbus verbringen, der auf der einen Seite massiv von der Polizei bedrängt und auf der anderen von dem Wasserstrahl bombardiert wurde. Esther Bejarano war allerdings nicht die einzige Shoa-Überlebende, die Opfer dieser unverhältnismäßigen Polizeitaktik wurde. Im Gegensatz zu den Angaben in der Pressemitteilung der Hamburger Polizei stürmten nicht Steine schmeißende jugendliche Randalierer als erste den Platz, sondern einige PressefotografInnen und vor allem ältere VVN-Mitglieder, die ein Transparent und Fahnen ihrer Organisation trugen ? darunter Faschismus-Überlebende und betagte Angehörige von Opfern des Nazi-Terrors.
Die mehreren Tausend DemoteilnehmerInnen wurden in eine relativ enge Straße zurückgedrängt, die auf der einen Seite von einer Polizeikette abgeriegelt wurde und auf deren anderem Ende Wasserwerfer und Räumfahrzeuge mit hohem Tempo in die Menge preschten. Die Wasserwerfer verspritzen zum Teil eine mit Reizgas versehene Flüssigkeit.
Dieser Wasserwerfer- und Schlagstockeinsatz traf die Demoleitung völlig unvorbereitet. Die Anmelderin der Demonstration versuchte mit dem Einsatzleiter in Kontakt zu kommen, doch der war nicht erreichbar. VVN und Auschwitz-Komitee kündigten unterdessen in einer gemeinsamen Pressemitteilung rechtliche Konsequenzen an und fordern den Hamburger Innensenator zum Rücktritt auf.
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Ergänzungen

"Vergangenheitsbewältigung" !????

Kritiker 02.02.2004 - 03:16
Ich finde den Begriff "Vergangenheitsbewältigung" außerst bedenklich.
Ich muß gestehen, den herrschenden Begriff "Vergangenheitsbewältigung" habe ich auch die ersten Jahre, nach dem Beginn meiner Politisierung unreflektiert benutzt.
Dank eines Holocaustüberlebenden, der bei einer Veranstaltung auf den Wiedersinn dieses Begriffs hinwies
("Vergangenheit kann mensch nicht "bewältigen")
bekämpfe ich ihn seither, da er etwas mit Schlußstrich etc zu tun hat.

Was soll "Vergangenheitsbewältigung" überhaupt heißen und wer will da was bewältigen ?
Bei dieser Frage hilft ein wenig googeln.
 http://www.google.de/search?q=Vergangenheitsbew%C3%A4ltigung&ie=UTF-8&oe=UTF-8&hl=de&meta=
Kein Wunder das dieser Begriff fest in Rechter Hand ist.
Walser läßt grüßen.

Also bitte vorher über die Begriffe nachdenken !!!

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Das die Bullen keine Rücksicht darauf nehmen ob Holocaustüberlebende Demonstrieren, wenn sie ("Befehl und Gehorsam") ihren Beruf des bezahlten
Schlagens ausüben, sollte doch bekannt sein.
Deshalb ist bei einer Beschreibung der Vorgänge darauf zu achten besonders nüchtern die Sachverhalte zu beschreiben, um nicht in das typische Argumentationsmuster sogenannter Antideutscher zu verfallen und Holocaust Überlebende, bzw Juden/JüdInnen zu funktionalisieren.

Das viermalige Wiederholen des Überlebens, in dem kleinen Absatz, in Bezug auf das Gesamtgeschehen, gibt dem Bericht einen unangenehmen Beigeschmack.(wenn ich diese schwammige Formulierung gebrauchen darf)

Kritiker: Kennst Du Zynismus?

Frager 02.02.2004 - 03:26
Hast Du nicht bemerkt, daß die Überschrift bitterer Zynismus ist?

zur "Bewachung" der Nazis

anwesender 02.02.2004 - 09:39
Ich wollte nochmale eines Ergänzen: in vielen Beiträgen wurde hier geschrieben, dass die Nazis "schwer" bzw. "gut" bewacht von Bullen gelaufen sind. Das ist nicht richtig. Die Nazis wurden lediglich von einer Hundertschaft vorne und einer Hunderschaft hinten begleitet. Das haben die aus ausgenutzt und auf ihrem Weg mehrfach mit kleinen Gruppen Antifas und Anwohner, die am Rand standen, angegriffen und verprügelt. Dabei handelt es sich nicht um einen einzelnen Vorfall, sondern das ist mehrfach passiert. Die Bullen kamen - wenn überhaupt - immer zu spät.
In der Pressemeldung der Polizei ist euphemistisch von "vereinzelten Zwischenfällen" die Rede.
Dies sollte mensch nicht vergessen, wenn das unverhältnismäßige Vorgehen der Polizei gegen die Gegendemo kritisiert wird. Ein paar Strassen weiter wurden Übergriffe von Neo-Nazis auf Andersdenkende zumindest billigend in Kauf genommen.

Interview mit VVN

Lew 02.02.2004 - 13:01
Ein Interview mit der VVN zu den Ereignissen in HH gibt es unter:
 http://www.jungewelt.de/2004/02-02/016.php

@ real,-

hans 02.02.2004 - 15:25
lieber real,-
Es ist ok, wenn an einem (unterstelltem) Spaltungsversuch als erstes der Spaltungsversuch an sich kritisiert wird, und nicht dessen Inhalte.
Es geht um die Form der Auseinandersetzung. Wenn Abmachungen einfach übergangen werden und Lautidurchsagen nicht beachtet werden muss man halt damit rechnen von der Demo entfernt zu werden.
Kritik muss innerhalb der radikalen Linken immer solidarisch bleiben, denn wir sind immerhin die einzige gesellschaftliche Gruppierung die sich die Freiheit aller Menschen auf die Fahnen geschrieben hat. Auf nicht-solidarische Kritik kann nur mit dem Entzug der Solidarität geantwortet werden. Da gibt es keinen anderen Weg.
"Herdentrieb" ist für mich wenn Menschen unreflektiert Meinungen oder Verhaltensweisen anderer übernehmen, beispielsweise im Jagdfieber.
Die Auseinandersetzung zwischen der radikalen Linken und den antiDs zieht sich nun aber schon ein paar Jährchen hin. In dieser Zeit hatte wohl jedeR Zeit genug sich ein eigenes Bild zu machen. Den Auseinandersetzungen Triebhaftigkeit zu unterstellen zeugt von eigener mangelhaften Reflektion der Ereignisse.

zur Theorie:
AntiDs versuchen ein Unterdrückungsmuster (Antisemitismus) durch ein anderes (Nationalstaaten) auszuhebeln. Seit Mitte der Neunziger hat sich aber in der radikalen linken die Theorie durchgesetzt, dass alle Unterdrückungsmuster gleichwertig sind, und gleichermassen bekämpft werden sollen. Da die "Diktatur des Proletariats" so in die Hose gegangen ist, schien das ein passender Ansatz. Daß er unpassend ist, ist nicht bewiesen, und würde sich auch nicht mit dem Grundsatz der Linken (Freiheit für alle, kein zweck heiligt die Mittel) treffen. AntiDs heben nun den Antisemitismus als Hauptübel hervor und wollen sogar Nationalismus (Zionismus) dagegensetzen. Das ist ein theorethischer Rückschritt in die Siebziger. Natürlich ist da immer noch Raum für Zusammenarbeit, wenn die AntiDs ihre Theorie nicht zum Dogma erheben würden, und entsprechend auftreten würden.
Übt euch mal nen bissel in Toleranz!

Interview mit Esther Bejarano

Kritiker 04.02.2004 - 00:11
um meine Kritik an der Berichterstattung ein wenig zu relativieren:

Interview
»Das Ganze war wie ein Albtraum«
Die Auschwitz-Überlebende Esther Bejarano über das Vorgehen der Hamburger Polizei am Samstag

Die 79-jährige Esther Bejarano überlebte das KZ Auschwitz und das Frauenstraflager Ravensbrück. Sie ist Mitbegründerin und Vorsitzende des 1986 gegründeten Auschwitz-Komitees in der BRD e.V..

ND: Sie haben am vergangenen Wochenende auf der Demonstration gegen den Nazi-Aufmarsch in Hamburg gesprochen. Wie haben Sie den Samstag erlebt?
Bejarano: Das Ganze war wie ein Albtraum, von dem ich mich immer noch nicht erholt habe. Ich hatte noch nie in meinem Leben Wasserwerfer gesehen. Am Anfang habe ich gedacht: Was sind das bloß für monströse Gefährte, die die Polizei da aufgefahren hat? Dieses Rätsel sollte sich ziemlich schnell lösen, denn noch bevor die Kundgebung begann, traten sie in Aktion. Ich habe dann über Mikro die Polizei aufgefordert, den Einsatz sofort zu stoppen.
Die Reaktion seitens der Polizeileitung war, dass das Stromaggregat für die Lautsprecheranlage beschlagnahmt wurde und ein Wasserwerfer minutenlang seinen Strahl direkt auf den Wagen hielt, in dem ich saß. Und sie wussten genau, wer da drin sitzt, denn ich hatte vorher über die Lautsprecheranlage gesagt, dass ich Auschwitz-Überlebende bin. Ich konnte aus dem Auto auch nicht raus, denn auf der einen Seite waren die Wasserwerfer, auf der anderen Seite eine Polizeikette. Ich hatte große Angst, dass die Windschutzscheibe bricht und ich dem Strahl direkt ausgesetzt bin.

Hat sich jemand von der Polizeiführung bei ihnen dafür entschuldigt?
Im Gegenteil: Ich ging dann später zu einem Beamten der Einsatzleitung, um mich zu beschweren. Der Mann sagte dann zu mir, er könne nichts dafür, er führe nur die Befehle aus, die ihm gegeben werden. Ich antwortete ihm, dass ich diese Worte schon einmal gehört hätte und dass diese Haltung Zig-Millionen Menschen das Leben gekostet habe.

Anlass für die Demonstration war der Nazi-Aufmarsch gegen die Wehrmachtsausstellung. Da haben sich knapp 1000 Nazis versammelt, die größte rechtsextreme Demo in Hamburg seit 30 Jahren.
Diese Masse ist beängstigend. Ich habe den Eindruck, seitdem das NPD-Verbot gescheitert ist, haben die faschistischen Organisationen Zulauf bekommen. Vermutlich denken viele, die können uns ja doch nichts. Dass Faschisten unbehelligt demonstrieren können, liegt aber wohl auch daran, dass die Geschichte in diesem Land nie aufgearbeitet und die Akteure nie belangt wurden. Im Gegenteil, ihnen wurde zur Flucht verholfen, so dass sie die faschistische Ideologie weiterspinnen und weltweit verbreiten konnten. Heute sind Antisemitismus und Rassismus wieder – oder noch immer – gesellschaftsfähig. Faschisten demonstrieren mit denselben Parolen und Emblemen wie damals. Auch am vergangenen Wochenende: Die Nazis waren ausgezogen, die Wehrmacht hochleben zu lassen.

Macht Ihnen das Angst?
Natürlich macht mir das Angst. Ich frage mich, wie so etwas wie letzten Samstag nach den Aber-Millionen Toten, die dem deutschen Faschismus zum Opfer gefallen sind, wie das nach Auschwitz überhaupt möglich ist. Dann denke ich: Wie wird sich das wohl weiterentwickeln? Werden meine Kinder und Enkelkinder irgendwann ähnliches durchmachen müssen wie ich? Viele Menschen in diesem Land sind scheinbar unbelehrbar.
Am Sonntagabend rief mich ein Journalist der Bildzeitung an, um mit mir über die Ereignisse während der Demonstration am Samstag zu reden. Er hätte gehört, ich sei im KZ gewesen, deshalb hätte er einige Fragen an mich, begann er das Gespräch. Nachdem ich ihn fragte, was er denn wissen wolle, sagte er: »Was haben Sie denn verbrochen, dass Sie in Auschwitz waren?« Das hat mir dann den Rest gegeben, ich war völlig schockiert.

Fragen: Birgit Gärtner

(ND 03.02.04)

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