Zur Situation in Bolivien vor dem Referendum

robin 12.07.2004 17:17 Themen: Soziale Kämpfe Weltweit
Neun Monate nach den Ereignissen vom Oktober 2003 bleibt die Situation in Bolivien angespannt. Am kommenden Wochenende steht das Referendum über die Zukunft der fossilen Brennstoffe ins Haus.
Zunächst ein Rückblick:

Im Februar 2003 führte die Regierung unter Präsident Gonzales Sanchez de Lozada ( kurz einfach Goni, oder der Gringo genannt ) eine Steuererhöhung durch, die gemeinsam mit dem Internationalen Währungsfond ausgearbeitet wurde um den Staatshaushalt zu konsolidieren. Dieser Steuerschlag (impuestazo), wie die Erhöhung rasch genannt wurde, stieß auf starke Ablehnung in der bolivianischen Bevölkerung.
Die folgenden Massendemonstrationen im ganzen Land legten große Teile des öffentlichen Lebens lahm. Schließlich traten auch noch Einheiten der Polizei in den Streik, so dass die Regierung das Militär gegen die Demonstrierenden einsetzte. Bei gewalttätigen Auseinandersetzungen am 12. und 13. Februar kam es zu Schusswechseln zwischen Militär und Polizei, wobei mehrere Demonstranten getötet und viele Verletzt wurden.
Bei den Anschließenden Ermittlungen stellte sich heraus, dass auf Anweisung der Regierung Scharfschützen auf den Dächern der Stadt positioniert wurden, die Schießbefehl erhielten.
Die sozialen Proteste im Land entflammten erneut Anfang Oktober desselben Jahres, als Pläne der Regierung bekannt wurden, bolivianisches Gas über einen Chilenischen Hafen in die USA und nach Mexiko zu exportieren (Chile ist seit dem Krieg zwischen den beiden Ländern 1879-84, den Chile gewann und Bolivien damit seinen einzigen Meereszugang einbüßte, Erzfeind der Bolivianer). Der Protest entzündete sich zwar an diesem Detail, richtete sich jedoch insgesamt gegen die neoliberale Politik Präsident Gonis und den weiteren Ausverkauf des Landes.
Am 8.Oktober wurde in der Stadt El Alto der unbefristete Generalstreik ausgerufen und die Stadt wurde schnell zum Brennpunkt des Konfliktes. Präsident Goni lies das Militär mit unbekannter Brutalität gegen die Demonstranten vorgehen und täglich gab es zahlreiche Verletzte und Tote. Was als ein wilder und unkoordinierter Aufschrei gegen den Ausverkauf des natürlichen Reichtums des Landes begann, entwickelte sich rasch zu einem regelrechten Aufstand. Organisiert von Nachbarschaftskomitees in El Alto richtete es sich nicht mehr länger nur gegen den Export des Gases, sondern kämpfte für die sofortige Re-Verstaatlichung der bolivianischen Bodenschätze, sowie für den Rücktritt des Präsidenten und seiner neoliberalen Regierung.
„Der Kampf ums Gas“ dauerte 10 Tage, bis zum 17. Oktober, an dem sich Goni heimlich mit dem Hubschrauber aus dem Lande machte und sein Amt an den Vizepräsidenten Carlos Mesa übertrug. Zurück blieben über 80 tote und hunderte Verletzte, sowie ein Land tief in der Krise.
Carlos Mesa wurde nach kurzer Zeit als neuer Präsident bestätigt und konnte trotz der schwierigen Lage als anerkannter Historiker und vor allem als Parteiloser mit einer gewissen Unterstützung der Bevölkerung rechnen.

Das Referendum

Um den Geschehnissen vom Februar und Oktober Rechnung zu tragen kündigte Mesa für das folgende Jahr eine Volksabstimmung über die Zukunft der fossilen Brennstoffe Boliviens an.
Dieses Referendum wird nun tatsächlich am 18. Juli stattfinden, doch ist die Volksabstimmung stark umstritten. Das Referendum wurde von Carlos Mesa als Besänftigung der Gemüter und als Kompromiss nach den Protesten vom Oktober vom Zaun gebrochen, ohne es sorgfältig zu planen und vorzubereiten.
Unter demokratietechnischen Gesichtspunkten lässt die Abstimmung zu wünschen übrig. Sämtliche Werbung für das Referendum lautet: Sag „Ja“ zum Referendum- damit wird gleichzeitig dass Abstimmungsverhalten vorgegeben.
Die 5 Fragen, die in der Abstimmung gestellt werden, sind äußerst unpräzise, schwer verständlich (was angesichts der geringen Bildungsrate, besonders auf dem Land, absolut verfehlt ist) und weichen der Frage nach der sofortigen Verstaatlichung der Erdöl- und Ergasvorkommen, wie es die Forderung der Sozialen Bewegungen im Oktober war, deutlich aus.
Während in den Städten unzählige Informations- und Diskussionsveranstaltungen stattfinden dürften große Teile der ländlichen Bevölkerung nicht über den Inhalt des Referendums und die Bedeutung der Fragen und des Ergebnisses informiert sein.
Viele Basisorganisationen, inklusive der größten Gewerkschaftsorganisation des Landes (COB), haben daher ihre Ablehnung des Referendums bekundet und rufen offen zum Boykott der Abstimmung, bis hin zu Blockaden und der Verbrennung der Wahlurnen und Wahlzettel auf. Ihre Forderung ist die sofortige Verstaatlichung der fossilen Brennstoffe, ohne Kompromisse oder Rücksicht auf bestehende Verträge, mit Transnationalen Unternehmen.

Aktuelle Umfragen ergeben ein deutliches Ergebnis: alle 5 Fragen werden ein „Ja“ erhalten.
Das bedeutet jedoch nicht, wie man vermuten könnte, das damit die Verstaatlichung der Erdgas- und Ölvorkommen beschlossen wäre. Die Verträge mit den Transnationalen wie z.B. Repsol, werden nicht angetastet werden. Eine Studie der Schweizer Investmentbank UBS sagt sogar Gewinnerwartungen für das spanische Unternehmen von 2.7 Mrd. US-$ voraus, sollte das Referendum positiv verlaufen.
Es hat also den Anschein, als würde das Referendum genau das Gegenteil von dem Bewirken, was die sozialen Bewegungen im Oktober 2003 zu erkämpfen versuchten.

Das Auswärtige Amt hat mittlerweile eine Reisewarnung für das Wochenende des Referendums herausgegeben und auch die Polizei in La Paz bereitet sich auf den Ausnahmezustand vor.
Viel wahrscheinlicher scheint es jedoch, dass die sozialen Proteste erneuet entflammen werden, wenn sich in einigen Monaten abzeichnet, dass trotz Volksabstimmung keine Änderung in der Politik der fossilen Brennstoffe stattfinden wird.

Ein zweiter Prozess, der durch die Ereignisse vom Oktober in Gang gesetzt wurde ist eine angestrebte Verfassungsreform.
Bolivien ist das Land mit dem größten indigenen Bevölkerungsanteil Südamerikas. Die größten ethnischen Gruppen sind die Quechuas und Aymaras in der Andenregion und die Guaraní in den tropischen Gebieten. Dieser heterogenen Zusammensetzung der Bevölkerung wird bis jetzt in der Verfassung nicht zu genüge Rechnung getragen und auch Themen wie die Gleichstellung der Frau und die Rechte von Kindern und Jugendlichen sollen in der neuen Verfassung nun endlich fester verwurzelt werden. Weitere Themen, die Diskutiert werden, sind die Abschaffung der Wehrpflicht, die Einführung direktdemokratischer Elemente wie beispielsweise das Referendum und zahlreiche weitere Reformen.
Geplant ist, eine Verfassungsgebende Versammlung einzuberufen, die dann eine neue Verfassung ausarbeiten soll. Ungeklärt bleiben bis jetzt aber so elementare Fragen, wie zum Beispiel der Wahlmodus der Repräsentanten der Verfassungsgebenden Versammlung, die Stimmgewichtung usw.

Die Proteste und Auseinandersetzungen des letzten Jahres haben also offensichtlich einen wichtigen Impuls für die Erneuerung des Landes gegeben. Die Akzeptanz der etablierten politischen Parteien ist auf einem Tiefstand angelangt und die Regierung Mesa versucht dieser Situation mit der Erweiterung der politischen Beteiligungsmöglichkeiten der Bevölkerung zu Begegnen (Volksabstimmung, Verfassungsgebende Versammlung).
Allerdings finden diese Prozesse bisher größtenteils auf theoretischer Ebene statt und die Lebenssituation der Menschen (besonders auf dem Land) hat sich kaum verändert, geschweige denn verbessert.

Und so gehen auch die sozialen Kämpfe weiter:
In verschiedensten Teilen des Landes streiten unterschiedlichste Gruppen um ihre Partikularinteressen: Eine nicht enden wollende Diskussion über die Zukunft des Kokas , Lohnerhöhungen für die LehrerInnen, ausstehende Lohnzahlungen für die Minenarbeiter usw. beherrschen das tägliche Leben. Und Protest in Bolivien ist fast immer mit Streik, Straßenblockaden und anderen radikalen Formen, wie etwa Bürobesetzungen verbunden.
Im Gegensatz zu den starken und vereinigten Protesten vom Februar und Oktober des letzten Jahres, haben sich die sozialen Bewegungen mittlerweile jedoch wieder in ihre einzelnen Kleinkämpfe verwickeln lassen. Ein großes gemeinsames „Wir“ gibt es derzeit nicht. Und so Verständlich und Unterstützenswert einige Anliegen auch erscheinen mögen, so fallen gerade die Straßenblockaden zu Lasten der gesamten Bevölkerung.
Ein Beispiel: Dorfgemeinschaften an der Strasse zwischen La Paz und dem Grenzübergang nach Peru, Desaguadero, haben für 3 Wochen die Straße blockiert und über 150 beladene LKWs festgesetzt. Ihre Forderung: die sofortige Verstaatlichung der fossilen Brennstoffe, die Aufhebung der Immunität amerikanischer Soldaten im Land und mehr Geld für ihre Dorfentwicklung. Diese „Bloqueos“ haben sich als äußerst effektives Mittel erwiesen, den Staat zu Zugeständnissen zu zwingen. Doch durch den ausbleibenden Handel durch Straßenblockaden hat der bolivianische Staat in diesem Jahr bereits Verluste in zweistelliger Millionenhöhe erlitten.

Besonderes Aufsehen hat ein Fall von Selbstjustiz erfahren. Der Bürgermeister der Provinz Ayo Ayo wurde in einer gezielten Aktion aus La Paz entführt, wohin er nach Morddrohungen geflüchtet war, und in Ayo Ayo auf dem Dorfplatz öffentlich hingerichtet und anschließend verbrannt. Der Vorwurf lautete Veruntreuung von Geldern der Dorfgemeinschaft.
Die Regierung in La Paz hat erst nach etwa einer Woche gewagt, Polizeieinheiten in das Dorf zu schicken um den Rechtsstaat wieder herzustellen.

Gleichzeitig verstärken sich regionalistische Tendenzen. Im Bundesstaat Santa Cruz und der Region Tarija gibt es Bestrebungen sich von Bolivien unabhängig zu machen. Grund dafür sind unter anderem die dort vorhandenen Erdöl- und Erdgasvorkommen. Während das Altiplano eher zu den ärmsten Gegenden des Landes zählt, entwickelt sich Santa Cruz überdurchschnittlich. Dort ist man mitlerweile die ständigen Konflikte in La Paz leid, möchte sich dem eigenen Wachstum widmen und sich von dem weiterhin starken Zentralismus der Hauptstadt lösen.

Angesichts dieser vielen kleinen sozialen Kämpfe im Land scheint die Regierung Carlos Mesas nahezu handlungsunfähig. Die anfängliche Unterstützung für den Präsidenten in der Bevölkerung ist erheblich gesunken und so kann sich Mesa auch kein hartes Durchgreifen erlauben, will er nicht seine Präsidentschaft aufs Spiel setzen. Das Referendum wird allgemein als eine Art Stimmungstest für die Präsidentschaft Mesas gesehen. Anfangs von radikalen Gruppen als günstigen Augenblick angesehen, die ungeliebte Regierung Mesas in Frage zu stellen, nutzt der Präsident diese Stimmung nun geschickt selbst aus, indem er die Fortführung seiner Amtszeit von einem positiven Ergebnis des Referendums abhängig macht. Somit könnte die Abstimmung über die fossilen Brennstoffe leicht zu einer emotionalisierten Abstimmung über die Präsidentschaft Mesas verkommen.

Die Situation in Bolivien stellt sich also als äußerst fragil und kompliziert dar. Einerseits ist das Land an einem Punkt angelangt, an dem endlich die Hegemonialstellung der weißen Oberschicht des Landes zu Gunsten einer wahren Demokratie unter Berücksichtung der realen Mehrheitsverhältnisse und der indigenen Kulturen gebrochen werden kann. Gleichzeitig führen die unzähligen Kleinkämpfe zu Paralisierung der Regierung und somit schließlich des ganzen Landes.
Gelingt es Carlos Mesa nicht den sozialen Frieden im Land zu wahren, ist es fraglich, ob er seine Amtszeit tatsächlich zu enden wird führen können.
Die Situation im Land bleibt also spannend und vor allem völlig unvoraussehbar.
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Ergänzungen

artikel zu aktuellen auseinandersetzungen in

der nestscheißer 12.07.2004 - 20:27
bolivianischen linken unter  http://redglobe.placerouge.net/modules.php?name=News&file=article&sid=2476 (in spanischer sprache)

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Vielen Dank — tutnixzursache

tach robin — bla