Neues zu den Ermittlungen in Genua

gipfelsoli 09.07.2003 19:21 Themen: Globalisierung Repression
Neues zu den Ermittlungen und Verfahren wegen des G8 in Genua

Stand: Juli 2003
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Die Verfahren zur Diaz-Schule
Es gibt wegen der Diaz-Schule Verfahren gegen Polizei/ Carabinieri und gegen AktivistInnen. Für beide Ermittlungsstränge gilt, dass sie bis spätestens Juli abgeschlossen sein müssen. Dies sieht das Gesetz vor; Ermittlungen in Italien müssen 2 Jahre nach Identifizierung einer verdächtigen Person beendet werden (gegen alle Nichtidentifizierten müssen sie dann eingestellt werden, können aber bei späterer Identifizierung neu aufgenommen werden). Danach kann Anklage erhoben werden.

Ermittlungen gegen AktivistInnen
Die Staatsanwaltschaft ermittelte wegen Waffenbesitz und Bildung einer kriminellen Vereinigung. Die Ermittlungen wegen Waffenbesitz sind nunmehr eingestellt; es wurde auch offenkundig, dass die durch die Polizei vorgelegten Beweise gefälscht wurden (die Begründung der Einstellung können wir euch auf deutsch zusenden). Vermutlich werden auch die Ermittlungen wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung eingestellt.
Nicht berücksichtigt sind dabei allerdings Ermittlungen gegen Betroffene der Diaz-Schule, die sich auf Handlungen auf den Demonstrationen beziehen. Dies könnte Personen betreffen, die bei Videoauswertungen identifiziert wurden. Genauere Informationen hierzu liegen nicht vor. Allerdings kann mensch davon ausgehen, dass es schon lange bekannt wäre, wenn Personen aus der Scuola Diaz bei Straftaten während Demonstrationen identifiziert worden wären, da hieran seitens der Polizei großes Interesse bestanden hätte.

Ermittlungen gegen Polizei und Carabinieri
Es werden noch weitere ZeugInnen gehört, dann werden auch diese Ermittlungen beendet. Es sieht so aus, dass die Staatsanwaltschaft Anklage erheben wird. Angeklagt werden vor allem die Leiter der Einsatzgruppen (wegen Nichtverhinderung von Straftaten) und die identifizierten beteiligten Polizeikräfte (wegen Körperverletzung, Falschaussage, falschen Verdächtigungen, Freiheitsberaubung im Amt). Ermittelt wird auch gegen Polizeiangehörige, die am späten Nachmittag an der Diaz-Schule vorbeifuhren und behaupteten, sie seien vor der Schule angegriffen worden (dies wurde als Legitimation für die Razzia angeführt. ZeugInnen sollten sich melden!).

Es gibt wegen des Übergriffs in der Diaz-Schule politische Konflikte. Bei der Razzia waren verschiedene Polizeieinheiten eingesetzt: SCO (Servizio Centrale Operativo), Riparto Mobile Anti Somoza 7. Nucleo (die vor Genua spezielle Aufstandsbekämpfungstrainings durchliefen), Anti-Mafia-Einheiten der Polizei und Beamte der DIGOS. Alle Einsatzgruppen stehen unterschiedlichen politischen Parteien nahe.
Mittlerweile gibt es ein Angehörigen-/Elternkomitee, das die Aufklärung fordert.

Auch wegen der Razzia in der Pascoli-Schule (gegenüber der Diaz-Schule) gibt es Ermittlungen gegen Polizeikräfte wegen Körperverletzung, illegaler Durchsuchung und Diebstahl/ Raub. Hierfür werden ebenso ZeugInnen gesucht!

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Ermittlungen zur Polizeikaserne in Bolzaneto
Die Ermittlungen gegen die Leiter der Abteilungen werden ebenso im Sommer enden. Betroffen sind verantwortliche Einsatzleiter der Carabinieri, Polizei und Guardia Finanzia wegen Körperverletzung und Mißhandlung. Ebenso ermittelt wird gegen wiedererkannte Polizeikräfte bzw. Personal.

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Zu den anderen Verfahren/ „Bildung einer internationalen kriminellen Vereinigung ‚Black Bloc’“
Es gab insgesamt etwa 350 Festnahmen in Genua während der Proteste. Dabei ist eine Unterscheidung in vor Samstag, 14.00 Uhr und danach wichtig.
Am Samstag, 14.00 Uhr wechselten die verantwortlichen Polizeieinheiten. Bis dahin wurden etwa 120 Personen festgenommen, denen Widerstand, Verwüstungen und unzulässiger Waffenbesitz angelastet wird. Dies betrifft hauptsächlich ItalienerInnen. Ab Samstag 14.00 Uhr gab es erste Massenfestnahmen (z.B. 23 Leute der COBAS); die Vorwürfe lauten fortan auf Plünderung, Verwüstung und vor allem „Bildung einer internationalen kriminellen Vereinigung ‚Black Bloc’ mit dem Ziel, Verwüstungen anzurichten“.
Es gibt im Hinblick auf die Frage der Untersuchungshaft ein Urteil des Corte Cassazione (etwa: Bundesgerichtshof), das besagt, dass unter Umständen bereits das Tragen von schwarzer Kleidung in einer Gruppe während der Demonstrationen zusammen mit wenigen anderen Indizien die Mitgliedschaft im ‚Black Bloc’ bedeuten könne. Die Carabinieri haben 1.900 Seiten Material zum ‚Black Bloc’-Konstrukt zusammengetragen. Behauptet wird die Existenz einer international organisierten Gruppe, die auch bei anderen Gipfelereignissen operiert und per Internet kommuniziert. Die Carabinieri wollen die Staatsanwaltschaft von der Existenz des ‚Black Bloc’ überzeugen und AktivistInnen verurteilen lassen.
Allerdings spielt dies für die im Raum stehenden Strafen keine Rolle: Das Strafgesetzbuch sieht auch für Verwüstung 8-15 Jahre Haft vor. Die muss allerdings bewiesen werden.

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Über die Ermittlungen und Verfahren
Nach dem G8-Gipfel hat die Polizei umfangreiche Ermittlungen angestrengt. Erstes offensichtliches Resultat der Ermittlungen war die Festnahme von 23 Personen (21 ItalienerInnen, 1 Schweizer, 1 Grieche) am 4.12.2002. Ihnen wird Plünderung und Verwüstung zur Last gelegt (im Februar 2002 gab es allerdings schon eine Razzia u.a. bei Indymedia Italien, wo Videos beschlagnahmt wurden). Unter den Festgenommen waren 3 Personen, denen Mordversuch bei dem Vorfall auf der Piazza Alimonda vorgeworfen wird. Haftgrund war Fluchtgefahr, Vernichtung von Beweismitteln und Wiederholungsgefahr. Eine Person befindet sich weiter in Haft, ein Antrag auf Hafterleichterung wurde kürzlich abgelehnt. 4 weitere sind in Hausarrest, andere haben Meldeauflagen.
Auf einer Pressekonferenz am Tag nach der Verhaftung meldete die DIGOS, dass 400 weitere Personen identifiziert worden seien. Darüber ist seitdem nichts Neues bekannt geworden.

Die ermittelnden Polizeikräfte haben Fotos und Videos an ausländische Polizei zur weiteren Identifizierung weitergegeben. Möglicherweise gibt es auch Ermittlungsverfahren im Ausland.

Es gibt schon laufende Verfahren in Genua bzw. erste Verurteilungen. Zunächst werden die „einfacheren“ Fälle verhandelt. Diejenigen, die zu einer Verurteilung führten, endeten mit verhältnismäßig hohen Strafen (1 Jahr, 6 Monate; 1 Jahr/ 8 Monate; beide allerdings zur Bewährung ausgesetzt). Ein Verfahren gegen einen Iren wegen schwerem Widerstand wurde eingestellt, da der Polizei scheinbar die Fälschung der Aussage vorgeworfen wird.

Nach dem Abschluß der Ermittlungen schreibt die Staatsanwaltschaft einen Abschlußbericht, der einige Tage später an die Betroffenen (bzw. wenn bekannt an die AnwältInnen) geschickt wird (das sollte jedenfalls so sein!). Dann läuft eine Widerspruchsfrist, innerhalb derer neue Beweismittel benannt werden können. Bis Anfang Oktober sind Gerichtsferien, bis dahin wird scheinbar nicht viel passieren. Außerdem muss nicht sofort Anklage erhoben werden. Theoretisch hat die Staatsanwaltschaft dafür 15 Jahre Zeit. Mit mündlichen Hauptverhandlungen wird nicht vor nächstem Jahr gerechnet.

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Klagen auf Schadensersatz
Schadensersatz kann auf 2 Arten geltend gemacht werden:

1. Entschädigung für ungerechtfertigte Freiheitsentziehung. Dieser Antrag wird beim Corte d’Appello (etwa: Oberlandesgericht) gestellt. Der Staat muß eine Entschädigungszahlung leisten, deren Höhe aber unklar ist. Wahrscheinlich wird sie in den bekannten Fällen 3.000 € nicht überschreiten. Der Antrag wird erst nach Einstellung etwaiger Ermittlungen gegen betroffene AktivistInnen bearbeitet. Verdienstausfall wegen der Freiheitsentziehung kann ebenso geltend gemacht werden; Nachweise müssen allerdings erbracht werden.

2. Schadensersatz für Körperverletzung und Misshandlung. Hier können die Betroffenen zu NebenklägerInnen in den Strafverfahren gegen die Polizeikräfte werden. Sie werden dann als ZeugInnen gehört.
Auch für die Einforderung von Schadensersatz braucht es Nachweise: Atteste, Berichte, ZeugInnenaussagen. Die Höhe des gezahlten Schmerzensgeldes hängt von der Art der Verletzung ab und wird nach Tabellen errechnet. Auch aus den Verletzungen resultierende Arbeitsunfähigkeit kann geltend gemacht werden. Insoweit sind auch stets nachweise erforderlich. Die Betroffenen sollten sich die Folgen der Verletzungen daher regelmäßig von Neuem attestieren lassen.

Wenn die angeklagten Polizeikräfte wegen der Diaz-Schule und Bolzaneto verurteilt werden, gilt die Zahlung von Schadensersatz als sicher. Aber auch wenn einzelne freigesprochen werden, da ihnen eine Straftat nicht zugeordnet werden kann, sind Ansprüche möglich.
Schadensersatz kann auch für Misshandlungen auf den Demonstrationen eingeklagt werden! In diesem Fall muss ein Zivilverfahren nach einer Strafanzeige gegen Unbekannt (oder Bekannt, so sie identifiziert sind) angestrengt werden.

Für die Verfahren kann Prozesskostenhilfe (PKH) beantragt werden. Die Gewährung wird nach dem Einkommen berechnet. Das Jahreseinkommen darf dabei nicht über 9.002 € liegen; pro Familienmitglied werden weitere 1.000 € angerechnet, soweit zusammen gelebt wird. Die PKH wird nicht zurückgefordert. Veränderungen der Einkommensverhältnisse während der Verfahren müssen allerdings mitgeteilt werden.

Zivilprozesse (z.B. auf Schadensersatz) in Italien sind gekennzeichnet von sehr langer Dauer. 3-4 Jahre sind die unterste Grenze.

Bei Gerichten in Genua stehen noch 12 Kisten mit beschlagnahmten Material aus der Diaz-Schule. Dort können Anträge auf Herausgabe gestellt werden, wobei aber die Gegenstände so genau beschrieben werden müssen, dass sie identifizierbar sind.

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Einreiseverbote
Fast alle festgenommen AusländerInnen bekamen ein 5jähriges Einreiseverbot. Alle Klagen, die EU-BürgerInnen dagegen angestrengt haben, wurden gewonnen, soweit die Fristen nicht verpasst wurden. Dies ist auf einen Formfehler zurückzuführen: Die zuständigen Behörden haben vergessen, das Komitee für nationale Sicherheit zu konsultieren um die Einreiseverbote auszusprechen. Die Verhängung ohne Konsultierung dieser Behörde ist nur bei Nicht-EU-Angehörigen rechtmäßig. Allerdings wurden auch von Nicht-EU-Angehörigen Klagen gewonnen.
Auch für den Fall, dass Personen mit Einreiseverbot im Land kontrolliert werden, werden diese anscheinend nicht verhaftet. Sie bekommen eine Aufforderung, das Land innerhalb 5 Tagen zu verlassen. Dennoch sollten alle, die eine Reise planen, Kontakt mit italienischen AnwältInnen aufnehmen, denn einige Betroffene, die Verfahren gewonnenen haben, sind im SIS nicht gelöscht worden (dies geschieht nur auf Antrag). Besser ist auch, nicht über die Schweiz einzureisen, da es „EU-Ausland“ ist.

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Ergänzungen