Jenseits der Maskerade des Vergessens in Rostock

Kombinat Fortschritt 25.08.2012 21:53 Themen: Antifa Antirassismus
Als bereits in den Morgenstunden ein Helikopter über Rostock kreiste und vielfach Sirenen zu hören waren, konnten bereits erste Eindrücke von der Bedeutsamkeit des heutigen Tages gewonnen werden. Noch vor Kundgebungsbeginn flanierten hunderte bunt bekleidete Menschen mit Transparenten und Pappschildern durch die Innenstadt, um den Startpunkt Neuen Markt zu erreichen. Dort wurde ab um 11 Uhr dem mehrtägigen Pogrom von Rostock-Lichtenhagen gedacht.
Hat Rostock was gelernt?

1992 flimmerten weltweit die Bilder des brennenden „Sonnenblumenhauses“ um die Welt, während 3000 Anwohner_innen Beifall klatschten und den Angreifenden einen Rückzugsraum boten. Zwanzig Jahre später schafft es die Rostocker Bürgerschaft dann doch endlich Verantwortung als Stadt anzunehmen und entschuldigt sich bei den Opfern des Pogroms. Im direkten Vergleich mit Hoyerswerda, wo Menschen, die auf die Ereignisse aufmerksam machen wollen, als auswärtige Nestbeschmutzer und Extremist_innen – auch und gerade von der lokalen Politikelite – beschimpft werden, könnte man also auf den ersten Blick fast zufrieden sein. Doch es bleibt vor allem bei dem Entsetzen über die Gewalt. Eine ernsthafte Auseinandersetzung unterbleibt weitgehend. So fast die Ostseezeitung die Äußerungen des Innenminister Lorenz Caffier zusammen:

„Seit 1992 habe man in MV 'viel dazugelernt'. Problem sei damals die hohe Zahl von Asylbewerbern gewesen: 13000 in einem Jahr. Aktuell seien es 900. Zudem seien '92 alle Asylbewerber nach Rostock gekommen. Ein Fehler, wie Caffier heute bewertet.“

Dies zeigt deutlich, dass das Demomotto „Das Problem ist Rassismus“ wohl kaum besser hätte gewählt werden können. Denn Caffier stilisiert die Täter_innen - wie andere bereits in den 1990-er Jahren - zu Opfern einer vermeintlich drohenden Flut von Migrant_innen.

Auch die Medien beteiligten sich lange Zeit auf ihre Weise am kollektiven Wunsch nach Abwehr. Denn selten waren sie bereit, das, was sich in Lichtenhagen offen zur Schau stellte, adäquat zu bezeichnen. Häufig betitelten sie die Pogromnächte als „Randale“, „Krawalle“ oder „Ausschreitungen“ – Begriffe, die kaum die Dimension der Ereignisse beschreiben, sondern eher einem durchsichtigen Interesse des Verdrängens dienen. Erst in letzter Zeit scheinen sich auch Lokalzeitungen langsam an den Begriff zu gewöhnen. Denn wie man auf der einen Seite 20 Jahre später gewillt erscheint die offensichtlichen Dinge beim Namen zu nennen, verteidigt man sich gleichzeitig vehement gegen diese Erkenntnis, wenn man sich vor allem auf die Veränderungen im Stadtviertel beruft. Sicher ist das Lichtenhagen heute nicht mehr das Lichtenhagen von 1992 – und das nicht allein, weil sich in zwei Dekaden ein erheblicher Bevölkerungsaustausch vollzogen hat – allerdings: Kontinuität hat weiterhin die rassistische Ausgrenzungspolitik staatlicher Behörden, wie der innerstädtische Erinnerungsdiskurs und die Unterbringung von Asylsuchenden in Mecklenburg-Vorpommern verdeutlichen.

Grenzenlose Solidarität! 20 Jahre nach dem Pogrom

Am heutigen Vormittag solidarisierten sich auf der Kundgebung am Neuen Markt mehr als 2000 Menschen mit allen Betroffenen rechter und neonazistischer Gewalt, konzentrierten sich aber vor allem auf den institutionellen Rassismus. So nahmen damals staatliche Behörden das rassistische Pogrom zum willkommenen Anlass für die de facto Abschaffung des Asylrechts, durch den sogenannten Asylkompromiss. Die mit ihm eingeführte Drittstaatenreglung führte dazu, dass die Anzahl der Asylbewerber_innen massiv zurückging. Doch da das Elend in der Welt nicht verschwunden war, wurde das „Problem“, also die Menschen, nur aus den Augen und dem Sinn geschoben. Dieser Kurs hat sich inzwischen sogar noch verschärft. Durch die restriktive Sicherung europäischer Außengrenzen und der Dublin II Verordnung wurden in Absprache mit Drittstaaten vor den Grenzen der Europäischen Union so genannte Auffanglager errichtet, die eine weitere Einreise vermeintlich „Fremder“ nahezu unmöglich machen, wie ein Beitrag der „Stop it!“-Kampagne unterstrich. Aber auch lokale Beispiele zeigen immer wieder, wie wenig sich die Haltung gegenüber Asylsuchenden auch von großen Teilen der Bevölkerung verändert hat. Gerade im Kontext der Planung neuer Unterkünfte fühlt man sich, wie das Beispiel Wolgast zeigte, oft an die Pogromstimmung der Nachwendezeit erinnert. Dort wurde zwar die Einrichtung einer neuen Flüchtlingsunterkunft von oben durchgesetzt, jedoch zeigten sich auch dort Bürgerinitiativen über dieses Vorhaben empört. Ein Wolgaster entlud vor laufender Kamera seine Wut: „Die soll'n dahin gehen wo 'se herkommen.“ In Rostock hatte sich dieser alltägliche Rassismus im August 1992 vier Tage lang Bahn gebrochen und sich an den dort lebenden vietnamesischen Vertragsarbeiter_innen und zum Teil zum Kampieren gezwungenen Asylsuchenden kanalisierte. Eine am Rathaus während der Kundgebung angebrachte Gedenktafel soll nun an die praktischen Konsequenzen rassistischer Ideologie erinnern und mahnen. Bereits 1992 wurde diese von Mitgliedern der Organisation Töchter und Söhne der aus Frankreich deportierten Juden (FFDJR) dort angebracht, jedoch bald durch die Stadt ersatzlos entfernt.



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Ergänzungen

Bilder von der gestrigen Großdemo

mali85 26.08.2012 - 00:28

[gi] nicht nur mv

rassismuskritik* in gi 26.08.2012 - 03:05
"Kontinuität hat weiterhin die rassistische Ausgrenzungspolitik staatlicher Behörden, wie der innerstädtische Erinnerungsdiskurs und die Unterbringung von Asylsuchenden in Mecklenburg-Vorpommern verdeutlichen."

rassistische politik ist als teil deutscher "leitkultur" überall zu finden. es gilt den rassismus auch abseits der pogrome aufzuzeigen:  http://rassismustoetet.blogsport.de/.

Berlin Gesundbrunnen

fredi 26.08.2012 - 10:01
Etwa 70 - 80 Demonstranten wurden am Bahnhof Gesundbrunnen von Cops der Bundes- und
Bereitschaftspolizei in Empfang genommen und 1 1/2 - 2 h festgehalten. Nachdem lange Zeit
nicht klar war wer (Cops) nun für den weiteren verlauf zuständig war wurden alle betroffenen erkennungsdienstlich behandelt. Grund soll hier für, so laut Polizei, gewesen sein dasz sich ein Abteil während der fahrt HRO-BLN in seine einzelteile auf gelöst hat. Bereits in
Neustrelitz versuchten 8 Cops die vom Schaffner beschuldigten aus dem Zug zu holen, nachdem jedoch der Großteil der Fahrgäste des Zuges sich mit den betroffenen solidarisierte ließen dieCops von ihrem versuch ab und informierten dann offensichtlich ihre Kollegen in Berlin.

denkt daran was Anna & Athur machen würden.

Entsetzlicher Kommentar in der FAZ

Olaf 26.08.2012 - 10:17
"Erst „Lichtenhagen“ brachte manche dieser Sozialalchimisten zur Besinnung. "

Der Kommentar von Jasper von Altenbockum, der gestern in der Frankfurter Allgemeinen erschienen ist, beweist, dass überhaupt nicht dazugelernt wurde. Sehr schwer zu lesen:
 http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/terror-gegen-asylanten-lichtenhagen-11866872.html

@fredi:

nein 26.08.2012 - 10:47
nicht erkennungsdienstlich behandelt. es wurden fotos gemacht. das ist ein unterschied.

keine Ergänzung

Name 26.08.2012 - 11:14
@Olaf 26.08.2012 - 10:17
hast recht zum "Kommentar" in der faz, da kann man nur sagen--hallo Mittelalter--winke winke.

Hier noch ein paar Bilder

Mein Name 26.08.2012 - 13:13

zweierlei Gedenken in Rostock

leser 26.08.2012 - 22:59
Eine deutsche Eiche vor dem Rostocker Sonnenblumenhaus
Am Wochenende gab es zweierlei Gedenken in Rostock

weiterlesen:



 http://www.heise.de/tp/blogs/8/152667

mehr Bilder

. 27.08.2012 - 10:17

Fotos: Gedenken an die Pogrome in Rostock

Umbruch Bildarchiv 30.08.2012 - 11:37

Radio- und Audiobeiträge vom Tag

Radio Aktiv 04.09.2012 - 13:09
"Radio Aktiv" - eine Radiogruppe des Berliner Free Mumia Bündnisses - besuchte am 25. August 2012 die Demonstration "Rassismus tötet!" in Rostock und dokumentierte die Proteste anlässlich des 20 jährigen Jubiläums des Pogroms von 1992.

In einer Radiosendung (in Berlin am 4. September im Community Radio auf der 88,4 ausgestrahlt) wird von der Kundgebung vor dem Rostocker Rathaus, der Demonstration im Stadtteil Lichtenhagen und dem Konzert am Abend berichtet - ein Podcast steht hier bereit:
 http://cba.fro.at/62921

Eine Sammlung von weiteren aufgezeichneten Beiträgen und ungekürzten O-Tönen findet sich in dieser Serie unter  http://www.freie-radios.net/serie/20jahrenachdempogrominrostocklichtenhagen

Zusätzlich sind viele weitere Beiträge einzeln hier dokumentiert:

Über Flüchtlingslager in Mecklenburg-Vorpommern
 http://www.freie-radios.net/50569

Über die Image Kampagne der Stadt Rostock
 http://www.freie-radios.net/50570

Redebeitrag des Bündnisses "Rassismus tötet!"
 http://www.freie-radios.net/50572

Redebeitrag eines Flüchtlings über den alltäglichen Rassismus (frz/dt)
 http://www.freie-radios.net/50573

Redebeitrag der Kampagne "Stop It" für die Abschaffung aller Lager
 http://www.freie-radios.net/50574

Redebeitrag der Antifa Rostock
 http://www.freie-radios.net/50576

Redebeitrag von Lobby e.V. - einer Beratungsstelle für Betroffene rechter Gewalt in Mecklenburg-Vorpommern
 http://www.freie-radios.net/50577

Redebeitrag dänischer Antifas
 http://www.freie-radios.net/50578

Redebeitrag von Korientation
 http://www.freie-radios.net/50579

Redebeitrag der Initiative in Gedenken an Oury Jalloh
 http://www.freie-radios.net/50580

Redebeitrag über das Leben und den Widerstand in Lagern (frz/dt)
 http://www.freie-radios.net/50581

Beitrag über die Notwendigkeit antifaschistischer Arbeit in Mecklenburg-Vorpommern
 http://www.freie-radios.net/50582

Redebeitrag - Analyse des Pogroms von 1992
 http://www.freie-radios.net/50583

Eröffnungsredebeitrag der Vereinigung der Verfolgten des Nazisregimes/Bund der Antifaschist_innen (VVN/BdA) vor dem Rostocker Rathaus
 http://www.freie-radios.net/50584

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