Lippstadt: Gedenken zum 9. November

Junge Linke Lippstadt 10.11.2008 07:38 Themen: Antifa
An diesem Sonntag jährte sich die Pogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 zum 70. Mal. So fanden - wie in diversen anderen Städten - auch im westfälischen Lippstadt wieder Gedenkveranstaltungen statt.

Anders als in den Vorjahren gab es neben der Gedenkkundgebung der Jungen Linken Lippstadt eine Reihe weiterer Aktivitäten zu diesem Anlass. Neben Gottesdiensten und einer weiteren Veranstaltung in der Marienkirche, gab es ein größeres Gedenkprogramm im Rathaus. Mit einer Kundgebung unter dem Motto "Antisemitismus bekämpfen!" versuchte die Junge Linke Lippstadt wieder eigene Akzente zu setzen.
Die Kundgebung begann am Jüdischen Erinnerungszeichen am Marktplatz, wo die VeranstalterInnen einen ausführlichen Redebeitrag zur Geschichte und Gegenwart des Antisemitismus lieferten. Wie auch auf einem mitgeführten Transparent verdeutlicht wurde, stellt sich der gegenwärtige Kampf gegen den Antisemitismus primär als einer gegen den Neonazismus, den Islamismus und den Antizionismus dar.

Die RednerInnen machten klar, dass der Antisemitismus in Deutschland nach der Shoa weitgehend subtil auftritt, da offene Judenfeindschaft in der postnazistischen Gesellschaft diskreditiert ist. Zwar dürfen Neonazis und ihr Bedrohungspotenzial nicht unterschätzt werden, nicht zuletzt da sie in mehreren Landtagen sitzen. Dass ändert aber nichts daran, dass sie gesamtgesellschaftlich geächtet werden und somit nur schwerlich gesellschaftliche Relevanz entfalten können. Antisemitische Denkstrukturen haben seit der Nachkriegszeit einige Modernisierungen durchlaufen. So wird nicht mehr wie noch unter Konrad Adenauer offen die "große Macht der Juden" beklagt, sondern vielmehr wird dem Staat der Shoa-Überlebenden vorgeworfen durch seine Politik den Antisemitismus zu befördern.
Während Entschädigungsforderungen von ehemaligen ZwangsarbeiterInnen und verfolgten Juden als übertrieben und unverschämt wahrgenommen werden, werden die Antisemiten islamistischer Provenienz durchweg verharmlost. In diesem Zusammenhang wurde auch eine scharfe Kritik an der Bundesregierung geäußert. Zwar werden islamistische Terrorgruppen wir Hisbollah, Hamas und Co. sowie deren Finanzier im Iran von Seiten der Bundesregierung kritisiert. Und noch während der Gedenkveranstaltung in der Berliner Synagoge betonte Kanzlerin Merkel eine immer währende Verantwortung Deutschlands gegenüber Israel, welche Teil der Staatsräson sei. Diese Solidarität bedeute laut Merkel auch, dass Deutschland den iranischen Vernichtungsplänen offensiv entgegenwirken müsse. Dass diesem Lippenbekenntnis in der Praxis keinerlei Taten folgen, sondern deutsche Unternehmen mit Unterstützung der Bundesregierung intensive wirtschaftliche Beziehungen mit dem Iran in Milliardenhöhe hegen, war Gegenstand der Kritik. Ebenso dass Deutschland und die EU sämtliche geplanten Sanktionsmaßnahmen gegen den Iran torpediert haben.

Nach dem Beitrag am Jüdischen Erinnerungszeichen ging es dann zum Platz der alten Synagoge, dem Ort, an dem vor 70 Jahren der antisemitische Mob seinen Hass zelebrierte, das jüdische Gotteshaus in Brand setzte und die Mitglieder der jüdischen Gemeinde öffentlich demütigte und ihre Lebensgrundlage zerstörte.

Ein Mitglied der Jungen Linken Lippstadt las Textpassagen aus Primo Levis autobiographischen Werk "Ist das ein Mensch?", welches seine Deportation nach Auschwitz und die Zeit im Vernichtungslager schildert.

Im Anschluss an die sehr bewegenden Ausführungen nahmen viele der Anwesenden an der im Rathaussaal stattfindenden Gedenkveranstaltung teil. Mit etwa 150 BesucherInnen war diese Veranstaltung sehr gut besucht. Thematische Beiträge gab es u.a. von einer Mitarbeiterin des Stadtarchivs, welche die Geschehnisse des 9. November 1938 im gesamten damaligen Reichsgebiet wie auch in Lippstadt veranschaulichte. Auch die Literaturkurse zweier Lippstädter Gymnasien lieferten Beiträge, darunter eine szenische Inszenierung zu Paul Celans Todesfuge.

Einen sehr guten Beitrag lieferte ein Lippstädter Lokalhistoriker, der sich seit einigen Jahrzehnten mit der Geschichte der Judentums in Lippstadt sowie der antisemitischen Verfolgung auseinandersetzt. Anhand des Beispiels der Familie Levi verdeutliche er in sehr beeindruckender Weise, wie die einst in Lippstadt voll integrierte jüdische Gemeinde immer weiter ausgegrenzt, drangsaliert und schließlich verfolgt wurde, bis sie nach den Geschehnissen der Novemberpogrome schließlich in der Falle saßen. Von der Familie überlebten nur zwei Kinder das KZ Bergen-Belsen. Vor einigen Jahren kam Ursula Levi aus den USA zu einem Besuch zurück in ihre Geburtsstadt Lippstadt, um auf dem jüdischen Friedhof für ihren Vater einen Grabstein aufstellen zu lassen. Dieser wurde unmittelbar nach der Reichspogromnacht in das KZ Sachsenhausen deportiert und derart misshandelt, dass er kurz nach seiner Entlassung verstarb.

Im Anschluss an die Gedenkveranstaltung gingen noch zahlreiche Teilnehmer zum jüdischen Erinnerungszeichen, um für die Opfer des NS-Terrors im Gedenken eine Kerzen anzuzünden.

An diese insgesamt sehr würdevoll abgelaufene Gedenkveranstaltung gilt es im nächsten Jahr anzuknüpfen.
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Ergänzungen

Den Neonazis ihre Relevanz

.... 10.11.2008 - 16:15
Gemeint sein dürfte, dass es keine neonazistische Massenbewegung gibt, die gezielt langfristige Interessen umsetzen kann - ohne dass sich das staatliche Gewaltmonopol hintergangen fühlt und deshalb einschreitet. Das heißt nicht, dass es keine neonazistische Bedrohung gebe. Nur: Was derzeit seitens der Nazis kommt, sind grausame Übergriffe und Gewalttaten, aber keine koordinierten Taten, die direkt den Weg in ein "viertes Reich" ebnen würden. Dies liegt zum einen an der fehlenden Massenbasis, zum anderen auch am eigenen Unvermögen. Kurz gesagt: Es gibt also keine funktionierende neonazistisch kontrollierte Parallelgesellschaft.

Israel, Antizionismus, Antisemitismus

@ balla balla bolle 11.11.2008 - 19:39
Anstelle unqualifizierter Kommentare täte dir evt. mal ein wenig Lesen nicht schlecht. Daher hier ein paar relevante Texte zum angesprochenen Themenkomplex:


ISRAELS SONDERROLLE
von der gruppe ikis (sauerland):
 http://gruppeikis.blogsport.de/texte/israels-sonderrolle/

KONJUNKTUREN ANTISEMITISCHEN WAHNS
von junge linke lippstadt:
 http://home.pages.at/jllp/txt/lippstadt-09-11-05-rede.html

ZUR LOGIK DES BUNDESDEUTSCHEN ANTIZIONISMUS
von thomas haury:
 http://www.copyriot.com/sinistra/reading/haury.html

"PROJEKTION" - "ÜBERIDENTIFIKATION" - "PHILOZIONISMUS"
von stephan grigat:
 http://cafecritique.priv.at/Philozionismus.html

Beiträge die keine inhaltliche Ergänzung darstellen

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Frage zum Transparent

Mensch 10.11.2008 - 15:25
ist die Gruppe Junge Linke Lippstadt ( also Di*k K*ch? ) eine sich selbst bezeichnende Antifa Gruppierung, die sich gegen das freie Recht des Menschen ausspricht, sich der Religion anzuschließen, die er/sie für gut heißt?

Vor 70 Jahren führte GENAU DIESES DENKEN zur Reichspogromnacht !!!

think about...

@mensch

_-_-_-_-_- 10.11.2008 - 15:45
Wie durch den Begriff Islamismus bereits beschrieben richtet sich das Transpi nicht gegen die freie Religionsausübung sondern gegen den Politischen Islam, der für einen Gottesstaat kämpft.

Ritterschlag vom "Edelherrn":

Junge Linke Lippstadt 10.11.2008 - 16:01
"Graf Bernhard ...

... muss an dieser Stelle einer Gruppe echten Bürgersinn attestieren, die sich selbst wohl nie als bürgerlich bezeichnen würde: Die Junge Linke, eine kleine Gemeinschaft parteilich ungebundener politischer Lippstädter, pflegt nun schon seit dem Jahr 2003 am 9. November das Gedenken an die Opfer der Reichspogromnacht. Mehrfach haben die jungen Leute bereits einen Beitrag der Stadt eingefordert, die ihrer Meinung nach wie andere Städte auch in einer offiziellen Veranstaltung der Ereignisse erinnern sollte. Zum runden Jahrestag hat nun das Netzwerk für Frieden und Solidarität im Rathaussaal eine Veranstaltung organisiert. Vielleicht kann gerade deren halboffizieller Charakter, der Schüler genauso wie Politiker und Jung wie Alt zusammenführte, Vorbild für künftige Gedenkstunden sein, meint der Edelherr." (Kommentar aus: Der Patriot - Lippstädter Zeitung , 10.11.2008)

Eigentlich stehen wir ja jeder Obrigkeit skeptisch gegenüber. Aber nach so einem Lob durch unseren Stadtgründer verschieben wir den Sturm auf die Bastillie am Lippeufer bis auf Weiteres...

Religon sucks

Simon Lodenkemper 10.11.2008 - 16:24
@Mensch:
Als aufgeklärter Mensch sollte man erst einmal jeder Religion skeptisch gegenüber stehen, da diese auf Irrationalität beruht und dem gesellschaftlichen Fortschritt entgegen steht. Dies trifft auch auf das Christentum in Europa zu, welches sich im Vergleich zum Mittelalter zwar positiv gemausert hat, aber dennoch zahlreiche reaktionäre Elemente beeinhaltet und über "Glauben", der wissenschaftlich nie greifbar sein wird, nicht hinauskommen kann.
Zu der Anspielung auf den politischen Islam: der ist in der Tat absolut bekämpfenswert und muss gleichermaßen überwunden werden, wie die Kirche zu Zeiten der Hexenverfolgung. Nur dass der islamische Fundamentalismus in technologischer und militärischer Hinsicht doch etwas gefährlich ist, als das rostige Schwert des Klerus vor einigen Jahrhunderten.

Zu Klaus Petri ist allen LeserInnen, die nicht aus Lippstadt kommen, zu sagen, dass dieser der wohl bekannteste Anwalt der Stadt und Vorsitzender des größten Sportvereins ist. In dieser Funktion überreichte ihm der Bürgermeister Lippstadts eine Auszeichnung zum Jubiläum des Sportclubs. Da Petri bekennender Rechtsextremist ist und für die NPD zur Bundestagswahl 2005 kandidierte, sorgte das in Lippstadt für einen mittelschweren Eklat. Mehr dazu unter:
 http://www.aktion-gegen-rechts.de/index.php?name=News&file=article&sid=22
Petri ist ein Beispiel, wie man als Nazi auch im Westen voll ins städtische Leben integriert sein kann. Insofern ist die Frage hier berechtigt.

Bolle Bolle

Peter G. 11.11.2008 - 15:21
Also ich bin FÜR ANTIZIONSIMUS und gleichzeitig GEGEN ANTISEMITISMUS. Das issn Ding, oder? Begreift Ihr nicht, oder? Und ich halte Euch sogar für Leute, die dem Antisemitismus gutes tun. Dolle, wa?

ja denn

dubidub 11.11.2008 - 17:05
@ der olle Bolle
Zum Glück ist es so ziemlich total egal, was du meinst. Argumente haste keine, womit du dich deutlich unter Indy-Niveau bewegst. Und das ist nicht ganz einfach...

@simon lodenkemper

hochimin 11.11.2008 - 20:01
"Zu der Anspielung auf den politischen Islam: der ist in der Tat absolut bekämpfenswert und muss gleichermaßen überwunden werden, wie die Kirche zu Zeiten der Hexenverfolgung. Nur dass der islamische Fundamentalismus in technologischer und militärischer Hinsicht doch etwas gefährlich ist, als das rostige Schwert des Klerus vor einigen Jahrhunderten"

Grundsätzlich halte ich deinen Text für vernünftig, aber zum Vergleich der militärischen Gefährlichkeit, musst du sehen, das zu Zeiten der Hexenverfolgung sowohl das Christentum, als auch der Rest der Welt über nicht mehr verfügten, als ein rostiges Schwert. So ist der Islamismus, wenn man die Welt von damals mit der Welt von heute vergleicht keine größere militärische Bedrohung der Welt, als es Hexenverfolgung und die Kreuzzüge wo mit rostigem Schwert alle Juden und Moslems derer man habhaft werden konnte ermordet wurden.