Studenten fordern Präsidiumsrücktritt

Andreas Döpke/Hannes Soltau 17.01.2008 17:15 Themen: Bildung
Unhaltbare Zustände an der Uni Marburg - Studenten fordern Rücktritt des Präsidiums
Am 12. Dezember brachten die Studierenden des größten Fachbereiches FB 03 (Geisteswissenschaften und Philosophie) der Philipps-Universität Marburg ihren Ärger über die
katastrophale Personal- und Strukturpolitik in einer Rücktrittsforderung an das Uni-Präsidiums um Unipräsident Volker Nienhaus zum Ausdruck.
"Nienhaus weg ist viel zu wenig, für die Uni ohne König"
(Slogan des Protestkoordinierungstreffen Marburg)

Die Geisteswissenschaftlichen Institute der Philipps-Universität Marburg leiden seit längerem unter einer Vielzahl von Problemen.
Obwohl der Fachbereich 03 der größte an der Uni ist und somit das meiste Geld in die Kassen spült, sind alle Institute seit Jahren völlig unterfinanziert. Ein katastrophales Betreuungsverhältnis und miserable Arbeitsbedingungen für die Angestellten im Mittelbau sind nur zwei auffällige Auswirkungen eines Missstands, der auf grundsätzliche Unterfinanzierung des Bildungswesens zurückgeht. Durch eine Mittelumverteilung zu Gunsten „verwertbarerer“ wirtschaftlicher Studiengängen wird dies jedoch noch verstärkt.
Ein weiterer Aspekt der Hochschulreformen, die in Hessen vor allem durch die Novellen des Hessischen Hochschulgesetzes (HHG) vorangetrieben wurden ist der Umbau der universitären Machtverhältnisse. Den begrenzt demokratisch legitimierten Gremien mit studentischer Beteiligung wie Senat und Fachbereichsräten wurden Mitbestimmungskompetenzen systematisch entzogen. Die Leitungsebenen (Uni-Präsidien und Dekanate) können inzwischen fast alle die Hochschule betreffenden Entscheidungen alleine treffen. Was dies bedeutet zeigte sich in Marburg deutlich, als im Jahr der Studiengebühreneinführung am politikwissenschaftlichen Institut eine Professur gestrichen wurde und die Neubesetzung einer vakanten Professur vom Präsidium verhindert wurde, vermutlich auf Grund des ausdrücklich kritischen Wissenschaftsprofil des Kandidaten, auf den sich die Berufungskommission geeinigt hatte. In der Soziologie wurde einem Professor mit ähnlichem Profil die Aufschiebung seiner Emeritierung verwährt. Das „Zentrum für Nah-und Mittelost-Studien“, das der Unipräsident, selber Nahost-Experte, für Marburg durchgeboxt hat, stellt ein weiteres Beispiel in dieser Kategorie dar: Um Nienhaus’ Prestigeobjekt zu verwirklichen wurden paradoxerweise das vortrefflich aufgestellte Zentrum für Osteuropa-Studien nach Gießen verlagert und den anderen Instituten weitere Mittel entzogen.

An den beschriebenen Vorgängen am Marburger FB03, die bei weitem nicht das volle Ausmaß der hiesigen Misere darstellen, lassen sich eine Vielzahl der üblen Konsequenzen neoliberal verseuchter Bildungspolitik wiederfinden:
Kritische Wissenschaftler, deren Kritik sich vielleicht vom kapitalistischen Mainstream entfernt, werden von Hochschulen ferngehalten. Wissenschaft, die ein System in Frage stellt kann von diesem schließlich weitaus schlechter verwertet werden, als solche die sich auf brave „konstruktive“ Kritik beschränkt.
Gleiches gilt natürlich für Studierende, die deshalb durch ein monotones Lehrangebot von Anfang an auf der rechten Spur gehalten werden, um nach ihrer akademischen Ausbildung den Ansprüchen des Arbeitsmarktes auch zu entsprechen. Diesen ökonomischen Denkmustern entspricht insofern die Abspeisung Studierender in „unwirtschaftlichen“ Studiengängen mit einem Minimalangebot, für das sie möglichst auch noch Zahlen sollen. Der Staat zieht sich indessen immer weiter aus der Verantwortung zurück und wendet sich seiner Elite-Förderung zu, um der deutschen Wirtschaft wettbewerbsfähige Exzellenz-Cluster und willige angepasste Arbeitskräfte zu päppeln. In das Schema reiht sich die zunehmende Entdemokratisierung der Hochschulen ein, welche die reibungslose Übersetzung politischer Entscheidungen und ökonomischer Interessen in hochschulinterne Entscheidungen gewährleistet, gleichzeitig aber auch denjenigen, die von der Machtkonzentration profitieren, ermöglicht, nach eigenem Gusto zu schalten und walten und sogar ihre eigenen Interessen durch zu setzen. Die immer noch die Mehrheit an den Hochschulen darstellende Gruppe der Studierenden wird an der sich formierenden Dienstleistungshochschule zum Kunden degradiert und die Mittelbauangestellten werden zu waschechten prekär Beschäftigten.

In Marburg regte sich schon 2007 gegen diese Probleme Widerstand. So entstand zum Beispiel eine „Initiative zur Rettung Kritischer Wissenschaft“, es gab einen hoffnungsvollen Versuch, die Studiengebühren zu boykottieren, zuletzt wurde die Eröffnung des „Zentrums für Nah und Mitteloststudien“ am 11. Dezember von lautstarken, wütenden Protesten begleitet. Auf der Vollversammlung des Fachbereichs 03 musste aber schließlich die nüchterne Bilanz gezogen werden, dass die „Abwehrkämpfe“ des letzten Jahres (fast?) durchweg erfolglos gelaufen sind. Gleich darauf wurde aber mit der Resolution und der Gründung von Aktionskreisen zu den Themen „Entdemokratisierung und Präsidium“, „Studienbedingungen“, „Kritische Wissenschaft“ und „Perspektiven Linker Hochschulpolitik“ eine neue Runde der Offensive eingeläutet.
Diese offensive Haltung soll in den Aktionskreisen ausgebaut werden. Ein großer Schwerpunkt soll auf der Information der Öffentlichkeit über die erschreckenden Vorgänge gelegt werden. Interne Gegenwehr über, in die Entscheidungsstruktur zumindest formell eingebundene, Gremien ist vermehrt an ihre Grenzen gestoßen. Da diese Grenzen nicht überwunden werden können, müssen neue Wege gefunden werden. Ohne öffentlichen Druck und ein weiter verbreitetes Bewusstsein über die problematischen Strukturen, die sich an der Marburger, wie an vielen anderen Unis etabliert haben, werden sich die aktuellen Entwicklung nicht aufhalten, geschweige denn umkehren lassen.

In seiner bisherigen, mehrjährigen Amtszeit hat der Marburger Unipräsident Volker Nienhaus eine Reihe schwerwiegender Entscheidungen oft gegen den Willen der Studierenden, Angestellten und Professoren durchgesetzt und allgemein ein herrschaftliches, eigensinniges Verhalten an den Tag gelegt. Deswegen war es nicht verwunderlich, dass bei der Vollversammlung des Fachbereichs 03 eine deutliche Mehrheit der ca. 250 anwesenden Studieren für die Resolution stimmte.
Auf einem spontanen Spaziergang durch die Marburger Innenstadt, zu dem sich danach ca. 80 gut gelaunte Menschen entschlossen, präsentierten diese ihre Forderung lautstark der Marburger Öffentlichkeit. Ein Transparent der Protestierenden trug die Aufschrift „Unser Weihnachtswunsch: Herr Nienhaus, treten Sie zurück!“.
Im neuen Jahr wird, trotz der zahlreichen Rückschläge in 2007, mit den Marburger Studenten wieder zu rechnen sein müssen, jeder der sie auf diesem Weg unterstützen möchte ist herzlich dazu eingeladen.

Initiativen wie (GEW) oder (BREMEN) weisen daraufhin, dass sich die miteinander verknäulten Antreiber neoliberaler Umstrukturierungen des Bildungssektors in Zukunft miteinander ebenso vernetzten Gegenspielern gegenüber sehen werden.
Die Marburger Studenten haben diesen Dezember angekündigt, sich allen Hässlichkeiten des Bildungsraubs entgegenzustellen. Um solcher Kühnheit adäquate Taten folgen zu lassen wird es breiter Unterstützung und ebenso breiter Kooperation bedürfen:
Helft mit, steigt in die AKs ein, bringt eure Ideen und Erfahrung mit, kommt zu den Koordinierungstreffen oder verpasst zumindest nicht die ersten Aktionen und Veranstaltungen!

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Ergänzungen