Das Mobilfunksyndrom und die Bürgerangst

Morbus Clone 25.11.2006 13:12 Themen: Biopolitik
Die Bamberger Ärztin Dr. Cornelia Waldmann-Selsam hat es mit ihren zahlreichen Fallbeispielsammlungen über angeblich mobilfunkgeschädigte Bürger zum Star der Mobilfunkgegner-Szene gebracht. Ihre von Fachleuten als unseriös kritisierten Fallsammlungen verbreiten Angst unter Bürgern, die in der Nähe von Mobilfunksendern wohnen. Der Beitrag kritisiert die zweifelhafte Vorgehensweise und beschreibt das Umfeld, in dem diese ihren Zuspruch erntet.
Deutschland - Dr. Cornelia Waldmann-Selsam, praktische Ärztin aus Bamberg(1) und Mitinitiatorin des sogenannten "Bamberger Appell", mit dem 130 Ärzte einen Ausbaustop der Mobilfunktechnologie gefordert haben, verfolgt in eigensinniger Arbeitsweise ihr Thema, das in einer vorgeblichen Aufklärung über die Gefahren des Mobilfunks besteht. Ihre alarmistischen Mitteilungen zum Thema finden internetweite Verbreitung. Dazu ist sie überall im Land als Teilnehmerin auf Podiumsveranstaltungen zugegen, bei denen mit ihrer Unterstützung eine Massenerkrankung durch Mobilfunk behauptet wird.

Es steht nämlich schlimm um Deutschland. Mitten unter uns leben Strahlenkranke. Nicht nur einige, wenige, nein: nahezu jeder Bürger muss sich durch Mobilfunksendetechnik bedroht fühlen. Und weil sich praktisch 100 Prozent der Deutschen im Einflussbereich der überall installierten Mobilfunk-Sendestationen bewegen, können fast alle Krankheiten, die eine/r das Jahr über erleidet, auf die Einwirkung der Mobilfunktechnik zurückgeführt werden.

So jedenfalls lässt sich die Kernbotschaft der Bamberger Ärztin Dr. Cornelia Waldmann-Selsam zusammenfassen, wie sie derzeit von ihrer Anhängerschar in den Anti-Mobilfunk-Initiativen eifrig kolportiert wird. Dr. Waldmann-Selsam, an deren persönlich guter Absicht und Motivation trotz der nun folgenden Kritik nicht gezweifelt werden soll, postuliert nicht weniger als ein durch den Mobilfunk erzeugtes allgemeines "Mikrowellensyndrom",(2) das potentiell alle Bürger befallen kann und das, folgt man Waldmann-Selsams Mitteilungen, viele Menschen bereits befallen hat.

Ängstliche Menschen und vor allem sogenannt "elektrosensibel" veranlagte Personen und Verschwörungsglauber schöpfen aus Waldmann-Selsams Thesen die Argumente für die wahnhafte Überzeugung, dass in Deutschland eine organisierte Massen-Zwangsbestrahlung inszeniert wird, durch die die Bevölkerung rücksichtslos der massenhaften Erkrankung ausgesetzt ist.(3)

+ Fragwürdige Methoden +

Waldmann-Selsams Arbeitsweise bei der Beschaffung ihrer Daten funktioniert so: Mobilfunkkritische Bürgerinitiativen, die in aller Regel aus Unmut über einen in Wohnortnähe installierten Funkmasten gegründet worden sind, rufen die inzwischen bundesweit bekannte Ärztin zu ihrer Unterstützung herbei. Wie etwa vor einiger Zeit im hessischen Städtchen Schlüchtern(4) geschehen, werden zunächst an die Bewohner in der Nähe einer Sendeanlage Fragebögen verteilt. Die Auswertung liefert neben den Befragungsdaten nach Befindlichkeit und aktuell erlittenen Krankheiten zwangsläufig auch die Adressen von Bürgern, die sich in ihrer Gesundheit beeinträchtigt fühlen.

In den Häusern der so Ermittelten nimmt Waldmann-Selsam Strahlungsmessungen vor und listet die aus den Haushalten berichteten Krankheiten auf. Weiterhin wird die Nähe zum nächsten Mobilfunksender festgestellt. Auch andere Funkquellen, wie z.B. ein Schnurlostelefon in der Wohnung, werden registriert. Auf diese Weise entstehen Waldmann-Selsams Fallbeispielsammlungen,(5) welche die Vermutung nahelegen sollen, dass es rund um die Mobilantennen zu Häufungen von Krankheiten kommt.

Waldmann-Selsam hat geäußert, bereits in rund 200 Fällen auf diese oder ähnliche Weise zu Hilfe gerufen worden zu sein. Ihre an sich zusammenhanglosen Fallsammlungen, in denen Krankheiten völlig unterschiedlicher Art und Genese summiert werden, stellt sie durch ihre Behauptung vom angeblich grassierenden "Mikrowellensyndrom" in einen willkürlich generierten Kontext.(3),(5)

Das Vorgehen ist hanebüchen und löst bei Fachleuten, die von Berufs wegen mit dem Design wissenschaftlicher Studien befasst sind, nur fassungsloses Kopfschütteln aus. Waldmann-Selsams Vorgehensweise kann man als absichtsvolle, gezielte Datenselektion zur Bestätigung ihrer Hypothese von einer allgemeinen Mikrowellenerkrankungsgefahr der Bevölkerung ansehen. Klassische Methoden und Tools, wie sie für derartige Erhebungen und deren Interpretation unverzichtbar sind, werden nicht angewendet. Dazu würden etwa eine Vorklärung der persönlichen Disposition der Probanden mit Fragebögen wie dem NEO-FFI oder EPQ(6) oder eine Validierung der Gedächtnisfähigkeit oder gar nachvollziehbare medizinische und neurologische Tests gehören.

Die Befragten antworten unter dem Eindruck der zuvor aufgestellten Behauptung einer unmittelbaren gesundheitlichen Bedrohung. Sie werden auf diese Weise auf den Mobilfunk als angebliche Ursache ihrer empfundenen Beschwerden sensibilisiert. Sie bringen demnach ihre Antworten unter dem Einfluss einer subtil erfolgten Manipulation zu Papier.

Alltagserkrankungen, die in jeder Familie vorkommen, stehen dann neben schweren Gemüts- oder auch Krebserkrankungen. Probleme mit der pubertären Tochter werden zum Symptom des "Mikrowellensyndroms". Menschliche Todesfälle werden wahllos neben Berichte vom sonderbaren Verhalten eines Haustiers gestellt. Hinzu kommen Hinweise auf abgestorbene Pflanzen im Garten oder auch schon mal irgendwelches Halbwissen über die Zustände beim Nachbarn(5).

Die Präsentation der Waldmann-Selsam'schen Studienergebnisse und der zusammenhanglosen Krankheitslisten befördert denn auch irrationale Ängste. Leserbriefe, Online-Beiträge und die Berichte von Lokalreportern, denen verständlicherweise die fachliche Qualifikation zur Beurteilung der Qualität unseriöser Studien fehlen muss, tragen zur Verbreitung von Angst und irrationaler Besorgnis in der Bevölkerung bei. Schließlich spricht hier eine Ärztin, und der Vertrauensvorschuss des verängstigten Bürgers in diese seine Lieblingszunft ist in Deutschland bekanntlich immens.

Man kann jedoch von einem verantwortungslosen Vorgehen der Ärztin und der beteiligten BI-Verantwortlichen sprechen, das der Erzeugung von Angst und Unsicherheit dient. Bedenkt man dazu, dass mitunter die Angst selbst es ist, die den Auslöser psychischer und physischer Krankheiten bilden kann, dann könnte man im vorliegenden Fall sogar von einer grotesken Missinterpretation des Eides des Hippokrates sprechen. Denn nicht die Krankheit sollte der Mediziner ins Haus bringen, sondern Heilung.

Es scheint auch nicht zu stören, dass sich das Postulat von den allgemein epidemisch um sich greifenden Erkrankungen weder in steigendem Medikamentenabsatz rund um die Sendeanlagen, noch in irgendwelchen, etwa an die Gesundheitsämter berichteten epidemischen Auffälligkeiten niederschlagen. Die Süddeutsche Zeitung hat zu einer von Waldmann-Selsam vorgenommenen Erhebung im bayerischen Ort Icking den dort zuständigen Leiter des Gesundheitsamtes befragt. Der wusste allerdings, mit Waldmann-Selsams Studienergebnissen konfrontiert, rein gar nichts über irgendwelche Zunahmen von Krankheiten zu berichten ("Ich kann diese Häufung nicht bestätigen"), obwohl Mobilfunkgegner, bewaffnet mit Waldmann-Selsams Fallsammlungen, bereits unter den Bürgern Alarm geschlagen hatten.(7)

+ Angst in der Wettbewerbsgesellschaft +

Die Waldmann-Selsam'sche Mission fällt fatalerweise gerade dort auf fruchtbaren Boden, wo ohnehin Unsicherheit herrscht.

Waldmann-Selsams krude Thesen werden in ansonsten den sozialen Protestinitiativen eher abgeneigten Bürgersiedlungen und eben in der Provinz allzu bereitwillig aufgenommen. Sie sind hingegen keine Angelegenheit der Städte. Warum ist das so?

Mobilfunkmasten und Handys stehen wohl einigen verängstigten Bürgern als Symbole für eine schneller gewordene Welt, die nach Wettbewerbsregeln funktioniert und zu deren prinzipiellem Wesen es folglich gehört, dass jedermann ein potentieller Verlierer sein kann. In der Gestalt des Mobilfunkmasten auf dem Scheunendach erhält die gefühlte Bedrohung der Bürgeridentität ihre reale Gestalt. Der Funkturm wird zum angsteinflössenden Symbol des drohenden Identitäts- und Werteverlustes.

Anstatt nun die Augen zu öffnen und sich den realen gesellschaftlichen und sozialen Problemen zuzuwenden, mag sich dann mancher Bürger mit dem Starren auf den Mobilfunk als Verursacher all seiner Ängste begnügen, oder sagen wir, "trösten". Der ungetrübte Blick in die Welt und das Nachdenken würden die Angst um Bürgeridentität und -status heraufbeschwören. Letztlich dürften also unterschwellige Besorgnisse und irrationale Ängste über schleichenden wirtschaftlichen Niedergang und über das Fortschreiten des globalen Wandels ihre Rolle spielen.

Auf der psychologischen Ebene stillt die Fokussierung auf den Mobilfunk die ewig virulente Bürgersehnsucht nach der einen (Er-)Lösung, der einen Ursache, dem einen Schuldigen für die persönliche Misere, und mündeten die Ahnungen darüber letztlich auch nur in den ebenso vertrauten wie gänzlich unoriginellen dumpfen Unmut über die Politiker und natürlich die dahinterstehende, alles steuernde "Lobby".

Die populäre Vermutung vieler Mobilfunkgegner, unsichtbare Mächte seien damit befasst, die Massen krank zu machen und noch dazu an deren Leid zu verdienen, ist gleichwohl nicht neu. Irrationaler Verfolgungswahn ist immer, durch die Jahrhunderte hindurch, die Essenz aller Verschwörungstheorien gewesen.

+ Die Ärztin als Idealbesetzung +

In Gestalt seiner Ärztin Dr. Cornelia Waldmann-Selsam tritt also dem um seinen Status, seinen Besitz, seine Heimatlichkeit besorgten und verängstigten Bürger seine Heilige Johanna der Mobilfunkkritik in Erscheinung.

Dem Bürger, der sie als Halbgöttin in Weiss wahrnimmt, ist sie ersehnte Wahrheitsbringerin, kollektive Seelsorgerin und verfolgte Unschuld zugleich. Die prinzipiell kritikfreie Begegnung des Bürgers mit seiner Heiligen ist zugleich Programm, Sinn und Zweck der absurden Veranstaltung um das neu erfundene "Mikrowellensyndrom". Das Verhältnis zwischen der "Aufklärerin" und den "Opfern" folgt somit in letzter Konsequenz dem Muster totalitärer Denkweise(8).

Für gesellschaftspolitisch interessierte Menschen ist der hier einzusehende Prozess spannend zu beobachten, in dessen Fortschreiten sich ein weltanschauliches "Wir-sind-alle-bedroht"- Soziotop um seine ersehnte Lichtgestalt formiert.

Die engagierte Grüne Dr. Cornelia Waldmann-Selsam hat nicht viel dafür tun müssen. Sie wird wohl selbst erstaunt sein über den ihr zuteil gewordenen Zuspruch. Sie musste einfach nur ihre neue "Definition" einer angeblichen Mobilfunk-Massenkrankheit namens "Mikrowellensyndrom" postulieren. Der anhaltende Dank ist ihr gewiss. Die Glaubensgemeinde saugt den Unsinn von der kollektiven Strahlenerkrankung willig auf. Weitere Krankheiten und Kranke, und damit eben immer neue "Argumente", finden sich wie von selbst ein. Am Ende sind nur noch stereotype Aufzählungen notwendig, um die Selbstvergewisserung einer weltanschaulichen Gemeinde kontinuierlich weiterzupflegen. Das ist die Mission, in der Frau Dr. Waldmann-Selsam von ihrer Mobilfunkgegner-Gemeinde auf den Weg geschickt worden ist. Der weitere Erkenntniswert jedoch, der sich mit jedem neuen Update ihrer ärztlichen Mitteilungen einstellt, liegt nahe Null.

Es ist bei aller Popularität fraglich, ob sich Waldmann-Selsams Status in der Szene auf dem derzeit hohen Akzeptanzniveau wird halten können. Schliesslich ist auch der mobilfunkkritische Bürger ein Kind seiner schnellebigen Zeit. Und wenn das Programm langweilig wird, dann wird es wohl auch ihn bald wieder an den Umschaltknopf drängen, auf der Suche nach neuen Sensationen und Lichtgestalten.


----------------------------------------------------------


Fussnoten und Anmerkungen:

(1) Dr. Cornelia Waldmann-Selsam ist viele Jahre für die GAL Bamberg aktiv gewesen, hat sich in letzter Zeit zunehmend auf das Thema "Elektrosmog" konzentriert. Sie hat lt. Pressemitteilung der GAL Bamberg vom 25.4.2006 inzwischen den Dienst in ihrer Stadtratsfraktion quittiert, weil "ihr Engagement als Ärztin im Bereich Mobilfunk in der letzten Zeit so zugenommen hat, dass sie ihr Amt nicht mehr in ausreichender Weise wahrnehmen" kann, wie es heisst. Waldmann-Selsam sei "mittlerweile auch bundesweit aktiv, um über die Gesundheitsgefahren von elektromagnetischer Strahlung aufzuklären."

(2) Siehe "Ein neues Krankheitsbild: Das Mikrowellensyndrom", zu lesen unter:  http://www.buergerwelle.de/pdf/waldmann_selsamZusf.1.Okt.2.pdf

(3) Krankheiten, die Waldmann-Selsam zufolge in einen Kontext mit Mobilfunk als Ursache stellt, sind zum Beispiel Schlafstörungen, chronische Müdigkeit, Kopfschmerzen, depressive Stimmung, Unruhe, Benommenheit, Reizbarkeit, Konzentrationsstörungen, Vergesslichkeit und Wortfindungsstörungen, Schwindel, Nasenbluten, Sehstörungen, gehäufte Infekte, Nebenhöhlenentzündungen, Gelenkschmerzen, Gliederschmerzen, Nervenschmerzen, Weichteilschmerzen, Taubheitsgefühl, Hautbrennen, Herzrhythmusstörungen, Blutdruckerhöhung, Hormonstörungen, Gewichtszunahme, Haarausfall, nächtliches Schwitzen, Übelkeit, Ohrgeräusche, Hörverlust, Hörsturz (lt. Dr. Waldmann-Selsam im Interview, Evangelisches Sonntagsblatt Bayern, 27.7.05).

(4) Der in der Lokalzeitung nachzulesende Bericht stützt sich, was die fachliche Beurteilung betrifft, alleine auf die ärztlichen Stellungnahmen Waldmann-Selsams. Er ist typisch für eine Berichterstattung vor Ort, die notgedrungen dem Wortschwall und Alarmismus der Mobilfunkkritiker erliegen muss.  http://www.fuldaerzeitung.de/sixcms/detail.php?id=160846

(5) Typische Beispiele für Fallberichte, wie sie von Frau Dr. Waldmann-Selsam veröffentlicht worden sind, vermitteln "Erkenntnisse" wie diese, den Beschreibungen zweier "Fälle" aus dem Örtchen Haibach entnommen:

In einem Fallbeispiel wird mitgeteilt, dass die 17-jährige Tochter einer Familie sich vor 7 Jahren innerhalb kurzer Zeit in ihrem Wesen völlig verändert haben soll. Das vorher ausgeglichene, freundliche Mädchen sei unruhig geworden und habe sich nur noch schlecht konzentrieren können. Damit sei massiver schulischer Leistungsabfall verbunden gewesen. In der Folge habe das Familienleben extrem gelitten, da sie "immer aggressiver" geworden sei, "herumschrie" und für Gespräche völlig unzugänglich geworden sei. Nachts sei sie oft wach geworden und "geisterte durchs Haus". Sie habe häufig unter Kopfschmerzen gelitten und sei ständig erkrankt, darunter auch an Lungenentzündung. Wenn sie allerdings bei der Oma übernachtet habe, habe sie gut schlafen können. "Etwa ab dem 14. Lebensjahr nutzte sie intensiv ein Handy und wurde im sozialen Verhalten noch schwieriger", wie es im Originalbericht heisst. Mit 15 Jahren sei ein Suizidversuch mit Tabletten erfolgt, der angeblich wegen "einer vorübergehenden Wegnahme des Handys in der Nacht" zustande gekommen sei. Bei den anschließenden Beratungsgesprächen hätten "die Therapeuten" angeblich keine Ursache in der Familie gefunden. Die Diagnose habe dann "Handysucht und Telefonsucht" gelautet, folglich wurde geraten, diese Geräte aus dem Blickfeld zu entfernen ("Telefon wurde abgemeldet"). Die 17-jährige Tochter mache jetzt eine Friseurlehre, aber "es sei jedoch immer noch sehr schwer mit ihr".

Die persönliche Befindlichkeit einer immerhin 17-jährigen jungen Frau wird in der Version ihrer Eltern zur Schau gestellt. Auf die Idee, dass hier ein Erleben geschildert wird, dem sich so und ähnlich nicht wenige Eltern mit ihren pubertierenden Kindern zu stellen haben, scheint Dr. Cornelia Waldmann-Selsam nicht gekommen zu sein. Stattdessen wird die Ursache "Handy" und "Mobilfunksender" angeboten.

Einem anderen veröffentlichten Bericht der Ärztin lässt sich folgendes Familienszenario entnehmen: Die in der Wohnung lebende 44-jährige Frau leide unter Schlafstörungen, häufigem nächtlichen Wasserlassen, Migräne, Depressionen, Benommenheit, Konzentrationsstörungen und vorzeitiger Menopause, wie auch unter Hitzewallungen und Osteoporose. Die drei Kinder des Hauses leiden alle unter Kopfschmerzen, die 16-jährige Tochter dazu unter Migräne und Sehstörungen. Für die 14-jährige "behinderte" Tochter stehe die Einweisung in eine psychiatrische Klinik an, weil sie in ihrem sozialen Verhalten "aggressiv, unberechenbar" geworden sei. Die Großmutter leide dazu unter der "Unberechenbarkeit der behinderten Enkelin" und unter Depressionen. Ihr Mann sei im Jahr 2000 an einem Tumorleiden verstorben. Das ist aber nicht alles in Dr. Waldmann-Selsams alarmierendem Bericht: Auf dem Nachbargrundstück (dies im Originaltext mit Adressenangabe, was leicht zur Identifizierung der beschriebenen Personen führen kann) sei im letzten Jahr eine innerhalb kurzer Zeit abgestorbene Fichte gefällt worden. Zwei weitere tote Fichten seien noch zu sehen. Der etwa 70-jährige Herr R. (im Originaltext wird der volle Nachname genannt) sei in 2005 wegen rasch fortschreitendem Alzheimer in ein Heim gekommen. Frau R. sei ca. 2000 gestorben, und ihre Tochter lebe "sehr zurückgezogen", wie die Nachbarn zu berichten wissen. Sie sei darüber hinaus "mager und blass". Man habe sie während der letzten Monate "fast nicht mehr gesehen" (was bei solch neugierigen Nachbarn möglicherweise auch gar kein Wunder ist). Der Mann der oben erwähnten 44-jährigen Frau wurde übrigens "nicht befragt". Vermutlich wird er es nicht bereut haben.

Man beachte die undifferenzierte Vermengung von Informationen über persönliche Verhältnisse, über Krankheiten, von unbestätigten Gerüchte über die Nachbarn. Man kann feststellen, dass die in einer solchen Darstellung vorkommenden "untersuchten" Personen allesamt zu dem Zweck dienlich zu sein haben, die These von der allgemein grassierenden Strahlenerkrankungs-Epidemie ("Mikrowellensyndrom") zu untermauern. Die unverfrorene und in der Sache undifferenzierte zur-Schau-Stellung einzelner Personen ist in einer Gesellschaft, die aus dem Boulevard-Journalismus ja durchaus auch Schlimmeres gewohnt ist, offensichtlich kein Beinbruch mehr, der irgend jemanden aufregt.

Allerdings wurde Dr. Waldmann-Selsams Veröffentlichungspraxis wenigstens gerügt. Die lokale Presse (Isar-Loisachbote vom 05.05.2006) berichtete über empörte Bürger und Ärzte, und das Gesundheitsamt zeigte sich verwundert. Waldmann-Selsam bezeichnete das Veröffentlichen einiger Namen als Irrtum. Jedoch ist festzuhalten, dass Waldmann-Selsams Berichtspraxis durch die Angabe von Straßen und die genau gegebenen Entfernungen zu Sendemasten dem lokal Kundigen ohnehin genug Information bietet, die entsprechenden Familien zu identifizieren.

Originalberichte unter:  http://www.buergerwelle.de/pdf/haibach_anonym_020706.doc

(6) EPQ steht für "Eysenck Personality Questionnaire" und NEO-FFI steht für "NEO-Fünf-Faktoren-Inventar". Beide Methoden gehören zum Rüstzeug der Persönlichkeitsforschung und arbeiten mit systematisch angelegten Persönlichkeitsfragebögen. Deren Einsatz sollte solchen Querschnittsstudien vorgeschaltet werden, die auf Befragungen von Probanden angewiesen sind. Dies aus der Erkenntnis heraus, dass die persönliche Disposition befragter Personen (beispielsweise ein sozial rigides, introvertiertes, rechtsradikales, oder etwa ein für neue Erfahrungen offenes persönliches Einstellungsmuster des Probanden) Einfluss auf die Befragungsergebnisse hat.

(7) Süddeutsche Zeitung Wolfratshausen vom 05. Mai 2006

(8) Zur Kritik der mobilfunkkritischen Szene und zu deren Abgrenzung gegenüber fortschrittlichen sozial-ökologischen Initiativen, siehe auch den Beitrag: "Das Erzeugen von Angst als Methode":  http://de.indymedia.org/2006/09/156648.shtml

(Alle Link-Angaben Stand Download 18.11.2006)
Creative Commons-Lizenzvertrag Dieser Inhalt ist unter einer
Creative Commons-Lizenz lizenziert.
Indymedia ist eine Veröffentlichungsplattform, auf der jede und jeder selbstverfasste Berichte publizieren kann. Eine Überprüfung der Inhalte und eine redaktionelle Bearbeitung der Beiträge finden nicht statt. Bei Anregungen und Fragen zu diesem Artikel wenden sie sich bitte direkt an die Verfasserin oder den Verfasser.
(Moderationskriterien von Indymedia Deutschland)

Ergänzungen

Beiträge die keine inhaltliche Ergänzung darstellen

Zeige die folgenden 5 Kommentare an

WTF? — Mobilfunk & DECT Gegner