Nahost: Menschen sterben während wir reden

Marie Badarne 06.08.2006 11:55 Themen: Weltweit
Die Autorin ist Deutsche und lebt seit drei Jahren in Israel. Der Artikel ist ein persönlicher Erfahrungsbericht aus Haifa in Zeiten der Krise und spricht sich für ein sofortiges Ende von Israels Aggression in Libanon und Gaza aus. Außerdem bietet der Bericht Hintergrundinformationen zum Nahostkonflikt und eine Alternative zur allgemeinen Medienberichterstattung.
Ob Selbstverteidigung oder Terrorismus: Hunderte von Zivilisten sterben während wir reden
Eine Ruhrgebietsbürgerin in Haifa äußert sich gegen den Krieg in Nahost

Marie Badarne (geb. Höhn) ist in Recklinghausen im Ruhrgebiet geboren und aufgewachsen und lebt seit drei Jahren in Israel. Sie arbeitet bei der arabischen Menschenrechtsorganisation Sawt el-Amel (die Stimme des Arbeiters) in Nazareth und wohnt mit ihrem Mann Muhammad in Haifa.

Haifa, 1. August, 2006: Nachdem ich mich Anfang Juli noch sorglos und entspannt der Euphorie der Fußball-Weltmeisterschaft in Deutschland hingegeben hatte, wurde ich nach meiner Rückkehr in meine Wahlheimat Haifa jäh in die rauhe Wirklichkeit des Alltags zurückgerissen und schmerzhaft daran erinnert, dass die bunte und zugleich farbenblinde Fußballfröhlichkeit leider nur eine kurze, räumlich begrenzte Momentaufnahme war. Die Tatsache, zum Beispiel, dass Tausende afrikanischer Fußballfans kein Visum bekommen hatten, aus Angst sie könnten bleiben wollen, wurde ja auch nur am Rande wahr genommen. Aber ich möchte die freigesetzten, positiven Energien auf keinen Fall schlecht machen und wende mich daher dem eigentlichen Thema dieses Artikels zu, nämlich einem Erfahrungsbericht aus Haifa in Zeiten der Krise.

Bis vor drei Wochen war Haifa eine der friedlichsten und schönsten Städte im gesamten Nahen Osten, eklektisch und sehr mediterran. Seit dem Krieg 1948, der Israel als Staat etablierte, war Haifa nie wieder ernsthaft in die Schusslinie geraten. Das hat sich vor drei Wochen geändert; die Raketenangriffe der moslemischen Widerstandsbewegung Hisbollah haben das öffentliche Leben der Stadt fast komplett lahm gelegt. Tagsüber heult zu Hochzeiten fast alle halbe Stunde der Raketenalarm; abends wird es dann allerdings ruhig. Viele Bürger haben die Stadt in Richtung Süden verlassen und bei Verwandten oder Freunden Zuflucht gefunden; andere - wie mein Mann und ich - sind nach wie vor den größten Teil der Zeit hier.

Einer der Gründe, warum wir die Angriffe auf Haifa zwar als beklemmend, nicht aber als absolut lebensbedrohlich empfinden, ist, dass wir zusätzlich zur israelischen und europäischen Berichterstattung auch regelmäßig den arabischen Nachrichtensender al-Jazeera verfolgen. Und die Bilder, die uns aus Gaza und dem Libanon erreichen, zeigen uns, dass wir noch verdammt gut dran sind. Heute ist Haifa wahrscheinlich die schönste Stadt im Nahen Osten, da es Beirut fast nicht mehr gibt.

In den folgenden Abschnitten möchte ich interessierten Mitbürgern versuchen zu erläutern, warum ich maßlos enttäuscht bin von der Meinungsmache und den diplomatischen Vorstößen meiner kulturellen Heimat Europa.

Nahost: Ein Konflikt ohne Anfang und Ende?
Die Frage nach dem eigentlichen Auslöser des Nahostkonflikts wird oft gestellt und selten beantwortet. Selbst als Geschichtsstudent (leider nur im Nebenfach) an der Bochumer Uni wurde ich meistens mit der These konfrontiert, dass der Konflikt einfach irgendwann ausbrach und dass die Lage sich mittlerweile so verselbständigt hat, dass man keine Wurzeln mehr ausmachen kann. Ich möchte mir von daher nicht anmaßen, dieses Rätsel der Weltgeschichte (wenigstens aus westlicher Sicht - die arabisch-moslemische Welt ist sich über den Auslöser durchaus einig) zu lösen, würde Sie, die Leser, aber trotzdem gern auf einige alternative Sichtweisen aufmerksam machen.

Das Recht der Juden auf einen eigenen Staat, den Staat Israel, ist etwas, das in Europa auf keinen Fall angezweifelt werden darf. Schließlich wurden Menschen jüdischen Glaubens in ganz Europa, mit grausamem Höhepunkt in Deutschland, jahrhundertelang verfolgt und getötet. Europa, insbesondere Deutschland, trägt die unsagbar schwere Verantwortung für die Shoah, den Holocaust. Die arabische Welt hat diese "historische Last" nicht; Antisemitismus ist ein primär europäisch-christliches Problem. Deshalb schieben wir es heute ja auch so gern auf die Araber bzw. Moslems ab. Historisch gesehen bewegen sich Pogrome gegen Juden in der arabisch-moslemischen Welt im Rahmen der leider allzu menschlichen Angst vor dem Anderen. Deshalb fragen sich Millionen von Palästinensern schon seit mehr als einem halben Jahrhundert: Warum existiert der jüdische Staat ausgerechnet in unserem Land? Warum interessiert Europa sich nicht für den Völkermord an uns? Biblische Verheißungen des gelobten Landes für das auserwählte Volk sind für Palästinenser in Flüchtlingslagern kaum schlagende Argumente. Viele Menschen in der arabischen Welt verstehen außerdem nicht, warum Einwanderer aus Amerika, Europa und anderen Teilen der Welt mehr Rechte in Israel/Palästina haben sollten als die angestammten Ureinwohner. Und sie verstehen nicht, warum die Weltgemeinschaft sich hinter einen Staat stellt, dessen Verfassung nicht für alle Bürger spricht. Insbesondere, da der Mangel an Bürgerrechten genau der Grund ist, warum arabische Länder so sehr von der westlichen Welt kritisiert werden.

In diesem Zusammenhang möchte ich Ihnen ein Beispiel aus meiner eigenen Erfahrung geben: Laut Gesetz hat jeder Mensch jüdischen Glaubens, sein Ehepartner und seine Kinder und Kindeskinder auf der ganzen Welt Recht auf sofortige Einbürgerung in Israel. Andererseits dürfen palästinensische Bürger Israels (ungefähr 20% der Bevölkerung Israels sind Palästinenser), die einen Palästinenser aus den besetzten Gebieten (Westjordanland und Gaza) heiraten, nicht mit ihrem Ehepartner in Israel leben und müssen - falls sie sich entscheiden, mit ihrem Ehepartner zusammen in den besetzten Gebieten zu leben - ihren israelischen Pass abgeben. Während meiner Arbeit bei der Menschrechtsorganisation Sawt el-Amel (die Stimme des Arbeiters) sind mir schon viele solcher Fälle begegnet. Vor kurzem kam eine verzweifelte Frau aus Nazareth zu uns. Sie hatte einen Mann aus Dschenin (im besetzten Westjordanland, ungefähr 40km von Nazareth entfernt) geheiratet und war zu ihm gezogen. Nun ist sie geschieden und in ihre Heimatstadt Nazareth zurückgekehrt. Beim ersten Gang zum Arbeitsamt wurde ihr dann mitgeteilt, dass sie keine Ansprüche auf Sozialleistungen hat und auch keine Arbeitserlaubnis, da sie keine israelische Staatsangehörigkeit besitzt. Die arme Frau war also nicht nur ihren Mann los, sondern auch ihren Pass. Und da Palästina kein Staat ist, ist diese Frau - wie viele andere israelische Palästinenser und palästinensische Flüchtlinge in der ganzen Welt auch - nun staatenlos. Und wir konnten nichts für sie tun. Schließlich hat sie sozusagen offiziell auf ihre Staatsbürgerschaft verzichtet, und unser Arbeitsgebiet beschränkt sich auf das Recht auf würdige Arbeit und soziale Sicherheit.

Ich als Deutsche hatte da ein wenig mehr Glück, obwohl mein Mann palästinensischer Israeli ist. Ich habe seit ungefähr einem halben Jahr eine Arbeitserlaubnis und seit drei Monaten eine begrenzte Aufenthaltsgenehmigung, die ich jedes Jahr verlängern lassen muss. Es hat allerdings fast ein Jahr gedauert, bevor der Staat Israel unsere standesamtliche Heirat in Recklinghausen anerkannt hat. Standesamtliche Ehen gibt es hier nämlich nicht, da Israel ein Religionsstaat ist. Das heißt, Juden dürfen nur Juden heiraten, Christen nur Christen, und Moslems nur Moslems. Wenn man religionslos ist wie ich, darf man gar nicht heiraten.

Viele meiner Freunde und Bekannten hier - Araber, Juden und "Ausländer" - sind der Meinung, dass der Konflikt im Nahen Osten nur dadurch gelöst werden kann, dass alle Bewohner Israel/Palästinas gleichwertige Bürger einer demokratischen Gesellschaft werden (einige meinen, dafür braucht es zwei Staaten; andere meinen, es sollte nur einen Staat für alle geben). Damit sind wir allerdings eine verschwindend kleine Minderheit. Die Forderung nach Gleichheit für alle wird hier als subversiv angesehen, da sie Israels Selbstverständnis als Staat der Juden unterminiert. Parteien mit einem solchen Programm können zum Beispiel nicht zu Parlamentswahlen zugelassen werden, es sei denn, man verschreibt sich gleichzeitig ausdrücklich dem zionistischen Paradox des jüdisch-demokratischen Staates.

Israel hat noch nie einen gerechten Frieden gewollt - nicht jetzt, nicht unter Itzhak Rabin, und wie es aussieht auch nicht in Zukunft. Es ist nicht bereit, seine Siedlungsblöcke im Westjordanland aufzugeben (im Gegenteil, sie werden kontinuierlich ausgebaut); es ist nicht bereit, Ost-Jerusalem an die Palästinenser zurückzugeben (das ungeteilte Jerusalem als Hauptstadt des jüdischen Staates ist im Grundgesetz verankert); es ist nicht bereit, die palästinensischen Flüchtlinge zurückkehren zu lassen (das wäre demographisch nicht denkbar); und es ist nicht bereit, einen unabhängigen palästinensischen Staat zuzulassen, der die Definition Staat (inkl. Infrastruktur, Wirtschaft, Außenpolitik, Verteidigungsapparat) wirklich verdient. Ich halte es für sehr wichtig, dass die internationale Gemeinschaft sich dessen bewusst wird, um die Ausgangslage für Verhandlungen richtig einzuschätzen. Es ist nicht Israel, das einen Partner zum Frieden braucht, es sind die Palästinenser. Durch diese andauernde Fehleinschätzung der internationalen Vermittler, die die "Bringschuld" immer bei den Palästinensern sahen, hat das desillusionierte palästinensische Volk nun demokratisch eine Regierung gewählt, die einem gerechten Frieden ebenso im Wege steht wie Israel.

Zum Thema Selbstverteidigung und Terrorismus
Jeder, der sich auch nur ein wenig mit internationalem Recht auskennt, weiß, dass jeder Staat grundsätzlich das Recht hat, sich selbst zu verteidigen. Natürlich ist diese Verteidigung an bestimmte Verhältnismäßigkeiten gebunden, die hauptsächlich von den Genfer Konventionen bestimmt werden. Viele Europäer finden, dass Israel im gegenwärtigen Konflikt mit Gaza und dem Libanon unverhältnismäßig reagiert; grundsätzlich ist man sich aber einig, dass das Recht auf Selbstverteidigung für Israel völkerrechtlich besteht. Das sieht die arabisch-moslemische Welt (oder wenigstens diejenigen, die nicht allzu sehr von den Vereintigten Staaten abhängig sind) natürlich anders: da Israel an sich als Staat nicht anerkannt wird, fällt natürlich auch das Recht auf Selbstverteidigung weg.

Meine persönliche Kritik am Begriff Selbstverteidigung im Zusammenhang mit Israels Kriegshandlungen in Gaza und dem Libanon ist allerdings anderer Natur: ich finde, dass Israel sich nicht selbst verteidigt, sondern sich einfach im richtigen Moment eine Reaktion seiner Nachbarvölker zu Nutze macht, um loszuschlagen. Israel ist eine Besatzungsmacht, und als solche alles andere als zimperlich. Das Auge der Weltöffentlichkeit kann sich natürlich nicht permanent auf die Lage in Nahost konzentrieren, aber trotzdem muss ich nach nunmehr drei Jahren in Israel aus eigener Erfahrung sagen, dass die Berichterstattung der westlichen Medien extrem einseitig ist.

Israel kommt sehr westlich und daher vertraut daher. Glatt rasiert, dunkelblauer Anzug, gutes English (in vielen Fällen Muttersprache), ab und zu mal eine gut aussehende Frau... Und die Palästinenser? Naja, Prophetenbart, Kalaschnikoff, Frauen mit Kopftuch, schmuddelige Kinder mit Steinschleudern, und eine fremde, bedrohlich klingende Sprache. Kurz, der Alptraum des Westens - auch in unseren eigenen Städten. Deshalb verstehen wir die Israelis ja auch so gut, auch wenn sie oft mal ein wenig überreagieren.

Ungeachtet dieser Äußerlichkeiten und der psychologischen Komponente des "Kampfes der Kulturen" möchte ich hier auf etwas Grundsätzliches aufmerksam machen: jahrzehntelange, gewaltsame Unterdrückung eines Volkes ist nicht Selbstverteidigung, und der Widerstand gegen eine solche Besatzungsmacht ist nicht Terrorismus. Wenn dem so wäre, würde unser schwererarbeitetes internationales Wertesystem - welches ich im Moment stark gefährdet sehe - völlig auf den Kopf gestellt.

Israel wählt den Begriff Selbstverteidigung punktuell. Immer dann, wenn es im Rampenlicht steht, verteidigt es sich gerade selbst. Die täglichen schweren Menschenrechtsverletzungen und die regelmässigen Verletzungen der territorialen Souveränität seiner Nachbarstaaten Libanon und Syrien - inklusive Entführungen - bleiben dabei unbeachtet. Der Begriff Terrorismus hingegen gilt immer. Alles was die Palästinenser oder die Hisbollah anpacken, ist Terror. Und obwohl die Hisbollah nach offizieller Einschätzung der Europäischen Union keine Terrororganisation ist, hat sich diese Meinung in den letzten Wochen schleichend in die Köpfe der Europäer eingebrannt. Hisbollah, die Partei Gottes - radikale Islamisten, die nur zwei Ziele haben: die Zerstörung Israels und die Errichtung einer radikal-islamischen Weltdiktatur. Wahrlich bedrohlich, nahezu faschistisch. Dabei wird völlig außer Acht gelassen, dass die schiitische Hisbollah primär eine Widerstandsorganisation ist, mit einem politischen und einem militärischen Arm, und dass sie auch unter Libanesen christlichen und sunnitisch-moslemischen Glaubens sehr viele Anhänger hat. Die Reden des Generalsekretärs Hassan Nasrallah sind keine Hetzreden gegen Juden und Kreuzritter, wie man sie von Osama Bin Laden kennt, sondern politische Ansprachen gegen die zionistischen und imperialistischen Unterdrücker im Nahen Osten. Man muss natürlich nicht mit ihm einer Meinung sein, trotzdem kann die Ausrichtung der Hisbollah bei ernsthaftem Hinhören nur schwer als antisemitisch oder "dschihadistisch" ausgelegt werden.

Ich bin gegen die Nutzung des Begriffs Terrorismus im Zusammenhang mit dem Nahostkonflikt, da der Begriff willkürlich benutzt und zu Propagandazwecken missbraucht wird. Der Kampf gegen den Terror rechtfertigt heutzutage fast alles, selbst in Europa. Damit sage ich nicht, dass ich Attacken auf Zivilisten nicht für Terror halte. Ich spreche mich lediglich dagegen aus, den Tod von Zivilisten bestimmter - bringen wir’s auf den Punkt: westlicher - Nationalitäten als Terror zu bezeichnen, während Tausende toter Palästinenser, Libanesen, Iraker und Afghanen Kollateralschäden bzw. Opfer von Selbstverteidigung und Demokratisierung sind. Ach ja, nur wenn sie sich gegenseitig umbringen, wie im Moment im Irak, dann kann man auch schon mal von Terror sprechen. Das rechtfertigt schließlich das anhaltend harte Durchgreifen der Achse des Guten in der Region.

Dieser Krieg der Worte trägt maßgeblich zu den Tragödien im Nahen und Mittleren Osten und zur zunehmenden Entfremdung der westlichen und arabisch-moslemischen Kulturen bei - auch innerhalb Europas.

Israel, Gaza, Libanon: ein Stellvertreterkrieg?
Ich möchte mich in dieser mittlerweile recht lang geratenen Abhandlung noch zu einem letzten Thema äußern - dem Phänomen Stellvertreterkrieg. Man ist sich ja schon irgendwie einig: eigentlich ist der Iran schuld. Das passt ja auch wunderbar in die momentane politische Lage: den frechen Mullahs das Mundwerk verbieten, das ist es ja, was wir letztendlich wollen.

Als ich mir letzte Woche über Satellit Sabine Christiansen zum Thema "Wie weit darf Israel gehen?" anschaute, war ich kurz davor, mir eine Katjuscha-Rakete direkt auf den Fernseher zu wünschen. Tommy Lapid, ehemaliger israelischer Justizminister und jetzt Direktor der Holocaust-Gedenkstätte Jad Washem, fragte dauernd, "was wollen die nur von uns?" während ich mich fragte, "was wollt ihr von denen?" Und eine junge Dame, die in Haifa lebt und arbeitet, berichtete von Tagen und schlaflosen Nächten der blanken Angst und von Raketenalarm, der alle Viertelstunde heult. Angst ist natürlich relativ, aber eins kann ich sagen: nach Sonnenuntergang ist in Haifa meines Wissens nach noch nie eine Rakete eingeschlagen. Aber kommen wir zurück zum Thema, dem Iran. Ich war sehr erschrocken, wie ungeniert der Nahostexperte Kienzle von der iranischen Regierung als den "frechen Mullahs" sprach. In ihrer Unverblümtheit gab mir diese Bemerkung aber sehr viel Aufschluss über unsere westliche Arroganz und Selbstgerechtigkeit. Wie ein aufmüpfiges Kind, das sich gegen seine autoritären Eltern wehrt, werden die Mullahs "frech". Auf einmal wollen die ihr eigenes Atomprogramm! Ich persönlich bin gegen jegliche Nutzung atomarer Energie, aber das tut hier nicht sonderlich viel zur Sache (außerdem oute mich damit als naiver Weltverbesserer). Jedes Land mit ein bisschen Einfluss hat ein Atomprogramm; Irans regionale Nachbarn Pakistan und Indien haben sogar schon einmal Atombombentests durchgeführt. Und es ist ein offenes Geheimnis, dass Israel, Irans Erzfeind in der Region, Nuklearwaffen besitzt. Stellen Sie sich vor, dass zu Zeiten des Kalten Krieges nur die Sowietunion Atomwaffen haben durfte, und die Westmächte nicht. Darüber hinaus ist es nur eine Vermutung, dass der Iran Atomwaffen bauen will; die Regierung selbst deklariert ihr Programm als zivil. Meiner Meinung nach riecht der Atomkonflikt mit dem Iran gefährlich nach der Massenvernichtungswaffen-Kampagne gegen den Irak.

In dieser allgemeinen Stimmung kommt der Krieg im Libanon und in Gaza natürlich wie gerufen. Der Iran versorgt über Syrien die Hisbollah und die Hamas mit Waffen, um die Milizen an seiner Statt den heiligen Krieg gegen Israel führen zu lassen. Das mit den Waffenlieferungen stimmt höchstwahrscheinlich. Aber warum ist dann nur der Iran schuld? Die Vereinigten Staaten und Europa beliefern doch gleichzeitig Israel. Und Israels Waffen bringen um einiges mehr an Tod und Zerstörung als die Katjuschas der Hisbollah und die handverlesenen Kassam-Raketen der Palästinenser, die dann und wann, meistens ohne größeren Schaden anzurichten, in der Negev-Wüste verpuffen. Der nächste Schachzug wird wahrscheinlich die Heraufbeschwörung einer atomaren Apokalypse, verursacht durch die Hisbollah-Miliz, der das schier unbegrenzte Atomarsenal des Iran zur Verfügung steht - oder vielleicht die Massenvernichtungswaffen aus Saddam Husseins Waffenkammer, die ja nie gefunden wurden. Warum also sollte der Iran nicht dieselben Ängste haben? In diesem Fall wäre es sogar noch wahrscheinlicher. Erstens hat Israel Atomwaffen, und zweitens sind die Israelis für ihre nervösen Abzugsfinger berühmt. Sie finden das abwegig? Die arabisch-moslemische Welt kann die westliche Paranoia wahrscheinlich ebenso wenig nachvollziehen. Und dabei war der Iran seit dem Ersten Golfkrieg gegen Saddam Husseins Irak in den 80er Jahren - damals waren Saddam und die Vereinigten Staaten noch Freunde -in keine Kriegshandlung mehr verwickelt, obwohl die gesamte Region vom Hindukusch bis zum Mittelmeer unter aktiver Beteiligung der westlichen Mächte schon seit Jahren in Flammen steht.

Schließlich möchte ich noch anfügen, dass der Begriff "Stellvertreterkrieg" bestimmt mehrheitlich von Politikern, Militärs, und Menschen, die noch nie in einem Kriegsgebiet waren, verwendet wird. Es bedeutet ja, dass ich mein Leben für etwas lasse, was mich selbst überhaupt nichts angeht. Hassan Nasrallah, der Generalsekretär der Hisbollah, sagte letzte Woche in einem Interview mit al-Jazeera, dass die Hisbollah selbstverständlich Kontakte nach Syrien und in den Iran hätte. Aber er sagte gleichzeitig, dass "wir Libanesen das Leben lieben," und dass diese Liebe zum Leben der Grund zum Widerstand gegen Israel sei. Abschließend meinte er, dass die Libanesen nicht leichtfertig ihr Leben für die Interessen Anderer opfern würden. Soviel zum Thema Stellvertreterkrieg, Märtyrertod und 100 Jungfrauen im Paradies. Auch viele Moslems hätten gern das Paradies auf Erden. Nur sieht die Realität leider verdammt nicht danach aus...


Während ich diesen Artikel schreibe, sitze ich bei mir zu Hause in Haifa und frage mich, wie die internationale Gemeinschaft auf die Idee kommt, es sei für einen Waffenstillstand noch zu früh. Wie kann es für einen Waffenstillstand jemals zu früh sein? Verzeihen Sie diesen verklärten, unrealistischen Einwand, aber ich sitze hier in der Schusslinie. Morgen früh, wenn die 48-stündige Unterbechung der Luftangriffe zu Ende ist (von der Hisbollah übrigens eingehalten; von israelischer Seite weniger - von unserem Balkon in Haifa konnten wir den ganzen Tag die Bombardements im Südlibanon hören), wird die Hisbollah sich für das Massaker in Kana rächen wollen, dem Sonntag nacht ungefähr 60 Zivilisten, darunter fast 40 Kinder, zum Opfer fielen. Und dann wird Israel wieder fragen: "Was wollen die nur von uns?"

Wie wär's mit ein wenig Respekt für die Würde des Anderen? Etwas, das man von uns Europäern auch durchaus verlangen könnte.
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Ergänzungen

Backgroundinformationen

Tellerrrand 06.08.2006 - 15:37
Meist wird hierzulande nur der unmittelbare Konflikt beleuchtet und Hintergründe ausgeklammert. Dort wo sie doch Beachtung finden, sind sie einseitig und verzerrt wiedergegeben - passend zur jeweiligen Ideologie. Dabei gibt es eigentlich mehr als nur 2 Seiten und fast jede der beteiligten Parteien hat eigentlich Interesse am Krieg. Und so wie es den USA nicht um den Schutz Israels, sondern um eigene Interessen geht, geht es vielen arabischen Regimes nicht um das Wohl der Palästinenser, sondern um den Dschihad gegen den ungläubigen Westen...




Beispiel USA - Neocons:
Für die Neocons ist der Konflikt ein "Proxykrieg", der den Krieg gegen Syrien und Iran einleiten soll. Israel dient hierbei nur als Werkzeug.
"By secretly providing NSA intelligence to Israel and undermining the hapless Condi Rice, hardliners in the Bush administration are trying to widen the Middle East conflict to Iran and Syria, not stop it."
 http://www.salon.com/opinion/blumenthal/2006/08/03/mideast/index_np.html



Beispiel USA - religiöse Rechte um Bush:
"Bomben auf Beirut, Katjuschas auf Haifa: Die evangelikalen Christen in den USA sehen im aktuellen Nahost-Konflikt den Anfang vom Ende, soll doch in Israel der Showdown zwischen Gut und Böse stattfinden. Deshalb unterstützen sie Israel - damit die Welt wie vorgesehen untergehen kann."
 http://tagesschau.de/aktuell/meldungen/0,1185,OID5782498_TYP6_THE_NAV_REF1_BAB,00.html

USA: Einfluss der religiösen Rechten steigt (05.11.04)
 http://tagesschau.de/aktuell/meldungen/0,1185,OID3766832_REF1_NAV_BAB,00.html



Beispiel Israel:
Es geht sicherlich um die Bedrohung durch die Hamas, aber auch darum:
"Officially, Israel's ground invasion of Lebanon is an act of self-defense against Hezbollah's threat, aimed at creating a security buffer zone until the arrival of a "multinational force with an enforcement capability". But increasingly, as the initial goal of a narrow strip of only a few kilometers has now been extended up to the Litani River deep in Lebanon, the real motives behind Israel's invasion are becoming crystal-clear."
 http://www.atimes.com/atimes/Middle_East/HH05Ak01.html



Beispiel Hisbollah:
Denen ist es scheissegal, was mit libanesischen Bürgern passiert:

Der Israel-Konflikt aus Sicht eines Schiiten im Libanon (ein Leserbrief zum Tagesspiegel):
Ich wohnte bis 2002 in einem kleinen Dorf im Süden nahe Mardschajun, das mehrheitlich von Schiiten wie mir bewohnt ist. Nach Israels Verlassen des Libanon dauerte es nicht lange, bis die Hisbollah bei uns und in allen anderen Ortschaften das Sagen hatte. Als erfolgreiche Widerstandskämpfer begrüßt, erschienen sie waffenstarrend und legten auch bei uns Raketenlager in Bunkern an. Die Sozialarbeit der Partei Gottes bestand darin, auf diesen Bunkern eine Schule und ein Wohnhaus zu bauen! Ein lokaler Scheich erklärte mir lachend, dass die Juden in jedem Fall verlieren, entweder weil die Raketen auf sie geschossen werden oder weil sie, wenn sie die Lager angriffen, von der Weltöffentlichkeit verurteilt werden ob der dann zivilen Toten. Die libanesische Bevölkerung interessiert diese Leute überhaupt nicht, sie benutzen sie als Schilder und wenn tot als Propaganda. Solange sie dort existieren, wird es keine Ruhe und Frieden geben.
Dr. Mounir Herzallah, Berlin-Wedding

Friends True and False

gegen alle faschismus , imperialismus ,... 07.08.2006 - 00:24
While the false friends, the organised US Jews, marched in support of the Lebanese adventure, the true friends, Israelis, marched the streets of Tel Aviv denouncing their leaders’ war crimes.
The missiles of Hezbollah may yet sober up the Israeli minds and break their addiction to military might. Likewise, a good German would have prayed for his compatriots’ defeat in Holland in 1940 for such a rout would have saved them from the tragedy of 1945.
The Germans were too strong for their own good. This excessive might led them to disaster. Now the same fate is prepared for Israel. Excessive might is no better than lack of it: might intoxicates and destroys. “The strong are never absolutely strong, nor are the weak absolutely weak. Those who have Might on loan from fate count on it too much and are destroyed. Might is as pitiless to the man who possesses it (or thinks he does) as it is to its victims. The second it crushes, the first it intoxicates”, wrote Simone Weil, the French philosopher, referring to the Trojan War.
Let us hope that this experience will destroy the Jewish superiority complex, so that the people of Israel will come out of it – more modest, more willing to compromise, more considerate to their neighbours.

 http://www.israelshamir.net/English/Friends.htm

Israel set war plan more than a year ago
Strategy was put in motion as Hezbollah began gaining military strength in Lebanon

 http://www.sfgate.com/cgi-bin/article.cgi?f=/c/a/2006/07/21/MNG2QK396D1.DTL&hw=kalman&sn=001&sc=1000

Samidoun ist einer Libanenscher grupp die heben Lesben und gay grupp ,palästinenschen und libanenschen kulturalen zentrun , Menschen rechte gruppen , komunisten ,anarkisten und antikrieg bewegug auf .Sie mit Indymedia Beirut zasammen arbeiten .

 http://www.samidoun.org

The plight of Marjayoun

Kh. 07.08.2006 - 01:43
Nachdem dieser mysteriöse „Dr. Mounir Herzallah“, der in keinem Telefonbuch oder Einwohnermeldeverzeichnis zu finden ist, dafür aber auf zahllosen Crosspostings überall im Internet herumgeistert und bereits ins Englische und Französische übersetzt wurde, nun schon mindestens 3 oder 4mal auf Indymedia zu Wort kam, sollte hier auch einmal ein(e) Einwohner(in) aus Marjayoun, dem angeblichen Herkunftsort des Leserbriefschreibers, Gehör finden:

Saturday, July 22, 2006
The plight of Marjayoun
To the inhabitants of villages south of the Litani Rivier. Because of Hezbollah terrorist operations against the State of Israel are launched from inside your villages and homes, Israel will defend itself forcefully against theses operations and will enter your villages. For your safety we ask you to leave your villages as quickly as possible and go north of the Litani River. Signed, the State of Israel.

But Israel bombed the bridges over the Litani on Day One. This is forcing refugees east and through the hills towards the town of Marjayoun, which is flooded with villagers from the south. Its ramparts are being pounded by Israeli artillery as flows of refugees wending their way toward Marjiyoun are being targeted as they attempt to flee. - posted by Nur-al-Cubicle | 11:06 AM

 http://nuralcubicle.blogspot.com/2006/07/plight-of-marjayoun.html

Medien sind Kriegsschauplatz

Hein Blöd 07.08.2006 - 09:53
Zur hier verbreiteten Propagandalüge dass es "Beirut fast nicht mehr gibt" hier ein Artikel in der Jerusalem Post:  http://www.jpost.com/servlet/Satellite?cid=1154525816599&pagename=JPost%2FJPArticle%2FShowFull

Kurzfassung: Hisbollah-freundliche Fotografen schneiden mittels Photoshop extra Rauch in ihre Bilder, um ihre Mär vom Israelischen Terrorkrieg zu unterfüttern.

Die Agentur Reuters, von der das fraglich Foto in alle Welt verbreitet wurde, hat den Fotografen mittlerweile entlassen.

Im übrigen: während wir reden sterben Menschen. In der Tat. Jeder weiss das. Warum überschreibt man damit einen Artikel, der im folgenden recht einseitig Partei ergreift? Um sich auf einer vermeintlichen höheren moralischen Warte zu plazieren, und jede inhaltliche Kritik von vornherein mundtot zu machen.

Die Identität des bärtigen Freaks, der offensichtlich im Libanon herumreist, um mit toten Kindern im Arm vor den Kameras der internationalen Presse zu posieren, ist weiterhin ungeklärt:
 http://eureferendum.blogspot.com/

Machen wir uns nichts vor. Seit Jahren sind die Medien selbst zum Kriegsschauplatz geworden. Ein Bild ist eine Gewehrkugel, und für manche Leute ist auch Indymedia nicht mehr als ein Maschinengewehr.

Eine Ergänzung zum Crossposting von

Maria aus Nazareth 07.08.2006 - 15:05
INTERVIEW MIT ZERUYA SHALEV

"Ein riesiges moralisches Dilemma"

Sie wurde selbst vor Jahren bei einem Attentat in Jerusalem schwer verletzt. Im Interview mit SPIEGEL ONLINE spricht die israelische Schriftstellerin Zeruya Shalev über das moralische Dilemma des Krieges in Nahost, die Tragödie von Kana und die Schuld der Hisbollah.

SPIEGEL ONLINE: Frau Shalev, gestern starben bei einem israelischen Luftangriff in Kana mehr als 50 Menschen - die meisten von ihnen Frauen und Kinder. Wie lange kann Israel diesen Krieg noch führen?

DPA
Autorin Shalev (bei einer Lesung in Köln): Unglaublich traurig und schockiert
Shalev: Die Hisbollah schießt Raketen auf Zivilisten in Israel aus der Mitte der libanesischen Bevölkerung. Sie nutzt die Zivilisten als Basis für ihre militärischen Aktionen und es ist schwierig sich dagegen zu wehren, ohne dass Zivilisten getötet werden. Ich wünschte, das wäre möglich. Israel warnt die Menschen und fordert sie auf in Bunker zu gehen, aber ich habe gehört, dass die Hisbollah den Menschen nicht erlaubt, aus den Dörfern zu fliehen. Die Hisbollah benutzt die Zivilbevölkerung.

Was gestern in Kana passiert ist, ist eine große Tragödie und ich bin unglaublich traurig und schockiert - aber wiederum ist es passiert, weil die Hisbollah von Kana aus Hunderte Raketen auf Israel abgefeuert hat. Die israelische Armee wusste nicht, dass sich in dem Gebäude in Kana auch Zivilisten verstecken. Sie dachten, dass in dem Gebäude nur Hisbollah-Kämpfer sind. Es ist schrecklich, ein schrecklicher Fehler. Definitiv sind die Zivilisten im Libanon Opfer der Hisbollah, die sich dem libanesischen Volk gegenüber sehr unverantwortlich verhält.

Tatsache ist: Es gibt keine klaren Antworten. Ich denke die ganze Zeit darüber nach und stelle mir selbst Fragen. Ich bete dafür, dass der Krieg schon heute zu Ende ist und dass die libanesische Regierung genug Macht hat, um die Hisbollah aus dem Libanon zu vertreiben. Ich bete dafür, dass Frieden in das Land kommt.

SPIEGEL ONLINE: Reagiert die israelische Regierung richtig?

Shalev: Die Antwort darauf ist sehr komplex und ein riesiges moralisches Dilemma für uns alle. Ich befürworte nicht jeden einzelnen Schritt der israelischen Regierung, aber ich befürworte es prinzipiell, dass sie ihr Volk schützt. Es ist schwierig, Pazifist zu sein, wenn dein Leben in Gefahr ist und jemand dich töten will. Es gibt nur eine Wahl zwischen zwei schlechten Optionen und Krieg ist immer eine furchtbare Option. Wir alle sind geschockt über die toten Libanesen.

Aber als Israel sich vor sechs Jahren aus dem Libanon zurückgezogen hat, dachte jeder, wir machen einen Schritt in Richtung Frieden. In all diesen Jahren seitdem waren wir uns nicht im Klaren darüber, welche Bedrohung die Hisbollah darstellt. Sie hat die sechs Jahre genutzt, um Raketen zu bekommen und sich auf den Krieg vorzubereiten. Unser Schritt in Richtung Frieden wurde von ihnen als Schwäche interpretiert. Der Nahe Osten ist ein grausamer Ort mit grausamen Regeln und es bricht mir das Herz, wenn ich höre, dass unschuldige Menschen im Libanon sterben - für mich gibt es keinen Unterschied zwischen israelischen und libanesischen Zivilisten.

SPIEGEL ONLINE: Sie haben Freunde bei sich in Jerusalem aufgenommen, die vor den Raketen der Hisbollah aus Nord-Israel geflohen sind. Was haben diese Menschen erzählt?

Zeruya Shalev: Der Krieg hat ihr Leben gelähmt. Sie kommen aus Haifa und sind nicht an Krieg gewöhnt. Plötzlich konnten sie sich nicht mehr frei bewegen, die Kinder haben geweint und hatten Angst. Wenn Alarm ertönte, mussten sie immer wieder in den Bunker, sich dort vor den Raketen verstecken. Einige Menschen aus ihrer Nachbarschaft wurden verletzt. Für diese Menschen ist dieser Krieg ein Trauma - wie für die mehr als eine Million Menschen im Norden Israels. Sie können sich in ihren eigenen Häusern nicht mehr sicher fühlen. In diesem Sinne ist der Krieg noch härter als die Intifada - vor Selbstmordattentaten kann man sich zu Hause sicher fühlen.

SPIEGEL ONLINE: Der Hisbollah-Chef Nasrallah hat damit gedroht, auch israelische Städte südlich von Haifa anzugreifen. Ist dieser Krieg ein Krieg um die Existenz Israels?

Shalev: In gewisser Weise, ja. Denn wir alle wissen, dass es nicht nur um die Hisbollah geht, sondern dass die Hisbollah von Syrien und Iran gestützt wird. Und die sagen sehr offen, dass sie Israel zerstören wollen. Wir in Israel haben das Gefühl, dass dieser Krieg in vielerlei Hinsicht eine kritische Stufe im Prozess der Bedrohung von Israels Existenz ist. Wenn die Hisbollah gewinnt, werden Iran und andere islamistisch-fundamentalisch-terroristische Gruppen in Jordanien und Ägypten ermutigt und Israel wird nicht mehr normal leben können. Auf lange Sicht stellt dieser Krieg also eine riesige Gefahr für Israel dar, aber auch für den gesamten Nahen Osten und die westliche Welt. Wenn Israel gegen die Hisbollah gewinnt, so hofft man hier, werden die Extremisten geschwächt und es wird leichter zu einem Friedensabkommen kommen.

SPIEGEL ONLINE: Ist die Angst auch in Jerusalem, wo Sie leben, zu spüren?

Shalev: Nein. Und das ist auch das Merkwürdige an diesem Krieg. In den letzten Jahren war es während der Intifada in Jerusalem immer sehr gefährlich. Die Menschen hatten Angst nach Jerusalem zu kommen. Plötzlich ist es hier jetzt sehr dynamisch und Menschen aus dem Norden kommen, um sich vor den Raketen zu schützen. Im Moment haben wir einen großen Vorteil, weil wir hier leben. Trotzdem fühlen wir natürlich alle mit und sind Teil dieses Krieges. Wir wissen, dass die Hisbollah auch Waffen bekommen könnte, mit mit denen sie Jerusalem erreichen. Das ist nur eine Frage der Zeit - und auch in diesen Tagen gibt es die Gefahr durch Selbstmordattentäter.

SPIEGEL ONLINE: Es wurden große Hoffnungen in die Demokratisierung des Libanon gesetzt. Sind diese Hoffnungen nun alle zunichte gemacht worden?

Shalev: Ich glaube, dass es noch ein bisschen Hoffnung gibt - wenn die libanesische Regierung es schafft die Hisbollah zu entwaffnen und sie loswird. Israel hat keinen Konflikt mit der libanesischen Regierung.

SPIEGEL ONLINE: Sie haben auch viele palästinensische Freunde. Was sagen die zu diesem Krieg?

Shalev: Ich habe das Gefühl, dass das Dilemma für sie noch viel größer ist. Wenn sie Kritik an der Hisbollah üben stehen sie in der arabischen Welt als Verräter da - selbst wenn die pragmatischen Kräfte längst realisiert haben, dass dieser Krieg eine Gefahr für die ganze Region ist. Es ist Teil der Tragödie, dass die pragmatischen Kräfte in der arabischen Welt die fundamentalistischen Extremisten nicht kontrollieren können.

SPIEGEL ONLINE: Können Sie Ihren Kindern noch die Hoffnung auf Frieden in Israel vermitteln?

Shalev: Ich sage meinen Kindern, dass wir die Hoffnung nicht verlieren dürfen und es wieder und wieder versuchen müssen zu einem Friedensabkommen mit den Palästinensern zu kommen. Ich sage ihnen, dass nicht alle Palästinenser unsere Feinde sind, nur die Terroristen und dass es möglich ist, irgendwann ein Abkommen mit den pragmatischen Kräften auszuhandeln. Und auch wenn die Stimmen der Extremisten im Moment immer lauter werden, fordere ich sie auf, auch auf die Stimmen der moderaten Palästinenser zu hören.

Im Moment sieht es nicht so aus, als ob ein Friedensabkommen in Reichweite ist, aber die Mehrheit der Israelis will den Frieden und ist zu Kompromissen bereit. Was im Moment passiert, zeigt aber auf sehr klare und tragische Art und Weise, wie die Anstrengung der Israelis zum Frieden - der Abzug aus dem Libanon und dem Gaza-Streifen - als Schwäche interpretiert wird und Krieg und immer mehr Terror bringt. Das ist das traurige Paradoxon des Nahen Ostens.

Das Interview führte Anna Reimann

spiegelwiedergabe?

ernstlorenz 07.08.2006 - 22:44
Warum werden hier spiegel-online-beiträge wiederholt!?? Die kann man doch besser woanders lesen...

Beiträge die keine inhaltliche Ergänzung darstellen

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Lob an die Autorin — banana

ja — ja

Days of darkness — gegen alle faschismus , inperialismus ,..