Agenturschluss zieht Bilanz: Ein Jahr HartzIV

agenturschluss 03.01.2006 13:35 Themen: Soziale Kämpfe
Pressekonferenz und Buchvorstellung am 2. Januar in Berlin
Die Agenda 2010 und die verschiedenen Hartz-Gesetze stellen eine neue Dimension des sozialen Angriffs in der Bundesrepublik dar, die zukünftig zu verschärften sozialen Konfrontationen führen wird. Wir nehmen deswegen den Zeitpunkt "Ein Jahr Hartz IV" zum Anlass für eine Einordnung und Bewertung des fortschreitenden sozialpolitischen Kahlschlags.

Am 2. Januar ziehen verschiedene UnterstützerInnen der Initiative Agenturschluss in Berlin Zwischenbilanz:

Olga Schell (Berliner Bündnis "Ende der Bescheidenheit") resümierte die Idee und Aktivitäten der Initiative Agenturschluss und stellte das gestern beim Verlag Assoziation A neu erschienene "Schwarzbuch Hartz IV - Sozialer Angriff und Widerstand" (ISBN 3-935936-51-6; 188 Seiten; 11,- €) vor. Anne Alex (Runder Tisch der Erwerbslosen- und Sozialhilfeorganisationen) zog eine vernichtende Bilanz des staatlichen Verarmungs- und Verunsicherungsprogramms und präsentierte Zumutungsdetails der Hartz-Praxis. Michael Maurer (Bündnis gegen Sozialabbau Jüterbog) analysierte die Selbsorgansierungsprozesse von Arbeitslosen (unter anderem) in der umtriebigen Kleinstadt in Brandenburg und erläuterte die Notwendigkeit, Widerstandspotenzial zu bündeln. Peter Grottian (Aktionsbündnis Sozialproteste) umriss die zu erwartende Fortschreibung und Ausweitung des sozialen Kahlschlags durch die große Koalition und prognostizierte das generelle Scheitern einer disziplinierenden Arbeitsmarktpolitik, die auf das Prinzip "Arbeit durch Wachstum" setzt. Der europaweite Aktionstag am 11. Februar mit einer Demonstration in Strasbourg soll als Protestauftakt für das Frühjahr 2006 genutzt werden. Zusätzlich stellte Guido Arnold (Wuppertaler Sozialforum) Konzepte verschiedener Gruppen zur offensiven Gegenwehr insbesondere gegen die sozialschnüffelnden Prüfdienste der Arbeitsämter im Rahmen der forcierten Verfolgungsbetreuung vor. Mag Wompel vom linksgewerkschaftlichen Internetportal labournet konnte nicht anwesend sein, erläuterte jedoch in einer ergänzenden Presse-Erklärung die Wirkungsweise des sozialen Angriffs auf Erwerbslose UND Beschäftigte.


Aus der Pressemitteilung von Agenturschluss

-- Die Prüfdienste vom Arbeitsamt werden ab Januar 2006 regelmäßig von freundlichen Nachbarn mit einer Kissenschlacht empfangen. Zahnbürsten regnen auf die Sozialschnüffler herab, im Ehebett tummeln sich die Bedarfsgemeinschaften. Zwangsumzüge scheitern, weil der Möbelwagen nicht durchkommt, denn viele Freunde blockieren die Zufahrt. --

Wir wissen nicht, ob unsere Wünsche für dieses Jahr so oder anders in Erfüllung gehen. Aber wir wissen, dass der Widerstand gegen den sozialen Angriff in all seinen Formen und an allen Orten davon lebt, dass wir uns weiter einmischen, Partei ergreifen und die eigenen Interessen wirkungsvoll vertreten lernen.

Als wir am 3. Januar 2005 in vielen Städten die Arbeitsämter belagerten und zu besetzen versuchten, war es vollkommen unklar, ob sich nach den Montagsdemonstrationen und den Massendemonstrationen des Jahres 2004 auch nach der Einführung von Hartz IV ein Protestnetzwerk entwickelt, das sich gegen die Zumutungen von Hartz IV wirksam wehren kann. Agenturschluss ist auch heute noch eine Initiative von sozialpolitisch engagierten Gruppen aus mehreren Städten - im Bewusstsein, dass die Auseinandersetzungen um den sozialen Angriff erst angefangen haben und dass wir einen langen Atem brauchen.

Auf unserer Agenda nach dem 3. Januar 2005 stand daher der Beginn einer umfassenden Untersuchungsarbeit. Für unsere weiteren politischen Interventionen in den Ämtern, auf den Straßen, an den Ein-Euro-Einsatzstellen und vor den Privathäusern von unverschämten Amtsleitern benötigen wir Informationen. Zusammen mit Labournet, der BAG- SHI und Tacheles e.V entwickelten wir eine Umfrage zu den Auswirkungen von Hartz IV und zu den Ein-Euro-Jobs, die seit März 2005 im Internet online war, die aber auch in gedruckter Form überall von Erwerbslosengruppen und MontagsdemonstrantInnen eingesetzt wurde. Wir woll(t)en alles wissen: wer schikaniert die Erwerbslosen, wie werden Zwangsumzüge durchgesetzt, welche Einrichtungen holen sich die billigen Ein-Euro-JobberInnen, in welcher Stadt arbeiten schon die Prüfdienste. Die Umfrage hatte verschiedene Funktionen. Neben dem Informationsgewinn für die Erwerbslosengruppen konnten sich die Betroffenen anonym zu Wort melden. Und die Beschäftigten der Arbeitsämter und die Verantwortlichen für die Hartz IV-Umsetzung durften sich kontrolliert fühlen, was auf deutschen Amtsstuben nicht selbstverständlich ist.


Buchveröffentlichung

Schwarzbuch Hartz IV
Sozialer Angriff und Widerstand – Eine Zwischenbilanz

HerausgeberInnen: Agenturschluss
Erscheint am 2. Januar 2006 (ISBN 3-935936-51-6; 188 Seiten; 11,- €) Verlag: Assoziation A



Presseresonanz:
anwesend: reuters, dpa, afp, dpp, NTV, Sat1, RTL,N24, Pro7, ARTE, RBB, taz, Morgenpost, Neues Deutschland, junge welt, Bild

erste Fernsehberichte: bei den 16.00 und 17.00 Uhr-Nachrichten bei ARTE, RBB und ntv

PrintPresse (unvollständig)
 http://www.jungewelt.de/2006/01-03/013.php
 http://www.nd-online.de/artikel.asp?AID=83503&IDC=2
 http://www.ftd.de/pw/de/36994.html [financial times]
 http://www.taz.de/pt/2006/01/03/a0226.nf/text.ges,1
 http://archiv.tagesspiegel.de/archiv/03.01.2006/2269878.asp
 http://www.fuldainfo.de/page/include.php?path=content/articles.php&contentid=4322&PHPKITSID=708ef77b3c13ce3f8bc8655b6d8abf8a
 http://www.berlinonline.de/berliner-zeitung/politik/514298.html
 http://www.berlinonline.de/berliner-kurier/berlin/106137.html
 http://www.rbb-online.de/_/nachrichten/politik/beitrag_jsp/key=news3575246.html
 http://www.maerkischeallgemeine.de/cms/beitrag/10622292/485072/
 http://www.baden-online.de/artikel.phtml?akt_men=1?&artikel=107913553&red=1&ausgabe=33181&rubrik=ticker
 http://www.op-online.de/index_15_323032353539.htm
 http://www.newsclick.de/index.jsp/menuid/6043/artid/4902063/disableLeft/compact/title/Ticker
 http://www.hz-online.de/index.php?mode=full&cat=16&open=&open_u=&&minDate=&begin=0&id=161013
 http://www.bkz-online.de/modules/news/article.php?storyid=198237
 http://www.gea.de/detail/527788
 http://www.merkur-online.de/dpa/infoline/schlaglichter/art440,467780.html?fCMS=9018f03a2f9e2f5d215bb48a8b923543
 http://www.mz-web.de/servlet/ContentServer?pagename=ksta/page&atype=ksArtikel&aid=1135666230146&openMenu=987490165154&calledPageId=987490165154&listid=994342720546
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Ergänzungen

Illustration zum Thema

frosch 03.01.2006 - 15:35
Mit dem neuen Zauberwort:

Kombilohn  http://de.indymedia.org/2006/01/136013.shtml

zum Schwarzbuch Hartz IV

klappentext 03.01.2006 - 16:10

Europäischer Aktionstag 11.2 Straßburg

aktionsbündnis 03.01.2006 - 17:26
Auf zum europäischen Widerstand gegen den EU-Sozialkahlschlag!
Aufruf zur Europäischen Demonstration am Samstag, 11.2.2006 in Strasbourg!

Gemeinsamer europäischer Widerstand hat am 19. März der EU-Dienstleistungsrichtlinie eine europaweite Absage erteilt. Diese scharfe Absage wurde durch die Ablehnung der EU-Verfassung durch Frankreich und Holland erneut bestätigt und bekräftigt.

Aber die EU-Kommission hält nichts von Demokratie und der Ablehnung durch die Betroffenen. Jetzt soll doch noch die Bolkesteinrichtlinie zum Beschluss erhoben werden.

Die Ablehnungsgründe haben sich im Kern so wenig verändert wie die Richtlinie selbst. Für 50% des EU-Bruttoinlandsproduktes und 60% der EU-Beschäftigten soll der Wettlauf um die Absenkung sozialer, kultureller, Arbeitssicherheits- und Umweltstandards auf das niedrigste europäische Niveau freigegeben werden.

Im Gegenzug für grenzenlose Freiheit für Dienstleistungsunternehmen sollen Erwerbslose und Beschäftigte durch weitere scharfe Einschnitte existentiell bluten, die Armutsspirale soll sich noch schneller in den Abgrund drehen.

Soziale Bewegung und Gewerkschaften wollen diese EU-Dienstleistungsrichtlinie stoppen. Mit einer gemeinsamen europaweiten Großaktion am Samstag, 11. Februar 2006, in Strasbourg - als Protestauftakt für das Frühjahr 2006.

Schon am Tag der ersten Lesung, am Dienstag, 14. Februar 2006, sind weitere Aktionen geplant.

http://www.heise.de/tp/r4/artikel/21/21718/1.

pressebeobachter 06.01.2006 - 00:33
Leben unter Hartz IV
Peter Nowak 06.01.2006

Ein Jahr nach Beginn der Arbeitsreformen scheint der Protest gegen diese eingeschlafen zu sein
Hartz IV – monatelang hatte dieser Begriff die Gemüter in der Republik erhitzt. Im Sommer und Herbst 2004 entzündete sich an der Reform des Arbeitslosengeldes eine kurze Protestbewegung. Als die Reform am ersten regulären Arbeitstag des Jahres 2005 in Kraft trat, waren zahlreiche in Arbeitsagenturen umbenannte Arbeitsämter in Polizeifestungen verwandelt worden. Denn die Aktivisten hatten an diesem Tag zur Aktion Agenturschluss aufgerufen. Doch es war eher ein Abschluss der Kampagne und nicht, wie von vielen Aktivisten erhofft, ein neuer Aufschwung der Proteste. Ein Jahr später gab es keine größeren Proteste mehr vor den Ämtern. Doch die Bewegung ist nicht verschwunden. Das zeigte sie auf einer gut besuchten Pressekonferenz, auf der man Bilanz zog und neue Proteste ankündigte.


Anne Allex vom Runden Tisch der Erwerbslosen- und Sozialhilfeorganisationen hatte nach einen Jahr Hartz IV nichts zurück zu nehmen von den Kritiken der Protestbewegung. Die Reform habe zu einer Verarmung großer Teile der Bevölkerung geführt. Diese hätten nun teils mit Hunger, Krankheit und Frieren in der eigenen Wohnung zu kämpfen. Eine Einschätzung, die sich auch immer wieder einmal in Pressemeldungen niederschlägt. So frieren Erwerbslose in ihren Wohnungen, weil sie die Heizungen herunterdrehen, um hohe Rechnungen zu vermeiden. Diese oft verstreut erscheinenden Berichte sind jetzt auch in einem pünktlich zum Hartz IV-Jubiläum erschienenen Buch Schwarzbuch Hartz IV gesammelt zu lesen. Dort kommen Erwerbslose und Klienten von Jobmaßnahmen zu Wort.

Teuer und wirkungslos

Schon vor dem Jubiläum erhielten die Hartz-Gegner Bestätigung von unerwarteter Seite. In einer dem Handelsblatt zugespielten Studie waren zuvor mehrere Wirtschaftsforschungsinstitute zu dem Schluss gekommen, dass sich die Reformpakete Hartz I bis III als weitgehend wirkungslos erwiesen. Die noch von der alten Bundesregierung in Auftrag gegebene Studie war eigentlich nicht für die Öffentlichkeit bestimmt. Das Fazit ist für die Regierenden desaströs. Hartz IV kostet zwar viel, bleibt aber auf den beschäftigungspolitischen Sektor weitgehend wirkungslos. So heißt es über die Personal-Service-Agenturen, einem Kernstück der Hartzreformen: "Der Einsatz in einer PSA verlängert im Vergleich zur Kontrollgruppe die durchschnittliche Arbeitslosigkeit um fast einen Monat, gleichzeitig liegen die monatlichen Kosten weit über den ansonsten entstandenen Transferleistungen."

Doch obwohl die Studie die Proteste bestätigen, könnte sie eher zu noch schärferen Einschnitten bei den Betroffenen führen. So fühlte sich gerade der FDP-Generalsekretär Dirk Niebel durch die Studie in seiner Kritikb estätigt. Die FDP hatte an von ihr mitgetragenen Hartz-Reformen noch zu viele sozialstaatliche Elemente ausgemacht.

Das Ergebnis der Studie war den verantwortlichen Politikern schon bekannt, als der damalige Bundeswirtschaftsministers Clement den berüchtigten Missbrauchsreport veröffentlichte ("Beihilfe zum Missbrauch sozialer Leistungen"?). Die Betroffenen wurden zu Schuldigen erklärt. Während zuvor noch Journalisten einen Monat mit dem Budget eines Hartz-Empfängers zu leben versuchten, begleiteten sie jetzt Kontrolleure auf ihrer Jagd nach angeblichen Hartz IV-Mißbrauchern.

Gegen diese Maßnahmen gab es zwar viel Kritik von den Betroffenen. Aber ein Jahr Leben unter Hartz IV hat auch zur Abstumpfung geführt. Wer jeden Tag die günstigsten Angebote prüfen muss, um nicht hungern zu müssen, wer früher ins Bett geht, um Heizkosten und Strom zu sparen, und dann noch mit Kontrolleuren und behördlichen Telefonabfragen rechnen muss, weil ihm indirekt immer unterstellt wird, er sei ein Betrüger, hat oft gar keine Zeit für Proteste.

Hoffnung auf Protestmix

Selbst Menschen, die tagtäglich mit Problemen der Betroffenen konfrontiert sind, kommen gelegentlich ins Grübeln, warum die "neue Wut" so schnell verraucht zu sein scheint. "Ich kann mir auch nicht so recht erklären, warum sich nicht mehr Widerstand entfaltet. Es ist dringend an der Zeit, dass auch die letzten Arbeitslosen die Realität begreifen und auf die Straße gehen", meinte Harald Thomé, Gründungsmitglied der Wuppertaler Sozialberatung Tacheles. Doch die Aktivisten hoffen trotzdem auf neuen Widerstand. So zogen sie auf der Berliner Pressekonferenz nicht nur ein Resümee, sondern blickten auch in die Zukunft.

Der geplante Protestmix soll in der nächsten Zeit konkretisiert werden. Während Großdemonstration für Frühjahr geplant sind, wird auch an Widerstand gegen drohende Zwangsumzüge und die in einer rechtlichen Grauzone agierenden Kontrolleure von der Arbeitsagentur geplant.