11. Prozesstag GI: Staatsanwalt will 9 Monate

AbwehrspielerIn der Ordnung 30.04.2005 15:18 Themen: Repression
Der Tag der Plädoyers in Gießen. Zunächst die Angeklagten, B. von 9 Uhr bis 17.15 Uhr, N. von 17.30 bis 18.15 Uhr, dann eine halbe Stunde der Staatsanwalt. Die Plädoyers der Angeklagten stellten minutiös die Aussagen gegeneinander, werteten die Beweiserhebung genau aus. Der Staatsanwalt dann lieferte ein Schockergebnis: Als hätte es den Prozess gar nicht gegeben, fordert er wieder 9 Monate Haft ohne Bewährung, hält altes Urteil für eines der besten Urteil, die er je kennengelernt hat und findet weiterhin, dass Gülle glaubwürdig ist, weil sie mir eine geballert hat. Was der Staatsanwalt bot, war eine unglaubliche Unverschämtheit. Außerdem deutete er an, gegen den PDS-Stadtverordneten Janitzky ein Verfahren wegen Falschaussage zu prüfen. Dass er ausgerechnet den erwähnte, dürfte kein Zufall sein. Der hat die Obrigkeit genervt mit seinen Recherchen zur erfundenen Bombendrohung von Bürgermeister Haumann und auch jetzt bei den Lügen von Gail. Also bekommt er es jetzt ab. Gießener Verhältnisse.
Der Tag begann mit einer typischen Klamotte, wie Autorität funktioniert. Der Beginn des Prozesses verzögerte sich, weil die Hierarchien im Gerichtsgebäude nicht in der Lage waren, kommunikativ auf die Eingangssituation zu reagieren. So verkeilte sich dort alles und ging nicht weiter. Nachdem eine halbe Stunde lang auch im Regen mit Kreide vor dem Gericht und vor der laufenden Kamera eines Fernsehteams gemalt wurde, gingen ZuschauerInnen und Angeklagte zum Eingang in die typischen Vollkörperkontrollen. Eine Zuschauerin war als erstes da, dann die beiden Angeklagten. Die Wachmeister wollten zuerst einen Angeklagten kontrollieren, damit das Verfahren losgehen könne. Der aber weigerte sich, weil er nicht bevorzugt behandelt werden wollte: „Ich stehe hier als zweiter in der Schlange, da gehe ich auch als zweiter rein“. Die bekloppten Wachtmeister aber hören nicht gerne Widerspruch und gingen zu Richterin, um ihr mitzuteilen, dass der Angeklagte nicht reinkommen wolle. Chaos im Gericht, schließlich taucht eine verärgerte Richterin an der Tür auf und fordert den Angeklagten auf, hereinzukommen. Wenn er nicht binnen 10 min im Saal ist, würde ohne ihn verhandelt. Der Angeklagte erklärt die Sachlage, aber die Richterin hört gar nicht zu und geht. Alles steht still. Irgendwann kommt sie wieder und wiederholt reichlich wütend ihre Aufforderung. Der Angeklagte erklärt die Lage wieder, diesmal kommt das Gesagte an und sie fragt aufgeregt-verwundert nach: „Das soll der ganze Grund sein?“ „Ja, natürlich, das reicht hier in diesen Verhältnissen“ bekommt sie zu hören und sagte dann kurz zur ersten in der Schlange: „Dann gehen Sie jetzt rein“. Und wenn die Chefin das veranlasst, machen die Wachtmeister auch artig ihren Job jetzt doch genau so, wie sie es 20min verweigert haben. Ein lustiger Vorgang über die Logiken von Autorität und Hierarchie.


Die Plädoyers

Der erste Angeklagte machte ein ... na ja, doch reichlich langes Plädoyer. Genauer. Von kurz nach 9 Uhr bis 17.15 Uhr. Der zweite Angeklagte (mit weniger Anklagepunkten) fügte einen weiteren Punkt sowie einige Ergänzungen an. Bis 18.15 Uhr. In den Plädoyers reihten sie sehr genau die Aussagen, Widersprüche, Falschaussagen usw. aneinander, nahmen die politischen Interessen an den Kriminalisierungen usw. auseinander. Die Plädoyers sind alle in einer ungefähr den Ausführungen entsprechenden Form im Internet dokumentiert:
- Einleitende Ausführungen: Der Angeklagte wies auf die Rahmenbedingungen des Prozesses hin und benannte offensichtliche Benachteiligungen der Verteidigung, so den abgelehnten Beiordnungsantrag (keine VerteidigerInnen) und den abgelehnten Befangenheitsantrag (eine Schöffin ist ja in diesem Prozess SPD-Unterbezirksvorstandsmitglied Gießen,  http://www.projektwerkstatt.de/antirepression/prozesse/berufung2005_tag5antrag_befangenheit.html). Intensiv ging er auch auf die Vorphase um die Enthüllung der Gail-Lügen ( http://www.luegen-gail.de.vu) ein und erwähnte es als Glück, dass überhaupt die öffentliche Wahrnehmung dadurch verschoben werden konnte, dass angesichts der bewiesenen Lügen von Gail nicht mehr einfach so gesagt werden konnte, dass „die aus der Projektwerkstatt“ alle einfach nur durchgeknallt sind. Manuskript unter  http://www.projektwerkstatt.de/antirepression/prozesse/berufung2005_pladoyer_allgemein.html.
- Plädoyer Anklagepunkt Wahlplakateverschönerungen: Hier ging es mehr um den genauen Ablauf in der Augustnacht 2002 in Reiskirchen und um die Aussagen der Zeugen, mit denen die Täterschaft der beiden Angeklagten keineswegs bewiesen werden kann. Staatsanwalt Vaupel wurde wegen Beweismittelunterdrückung (beim ihm lagern die verschönerten Wahlplakate vom Anti-Wahl-Mobil) kritisiert. Schriftfassung unter  http://www.projektwerkstatt.de/antirepression/prozesse/berufung2005_pladoyer_plakate.html.
- Plädoyer Anklagepunkt Körperverletzung Puff: Der Angeklagte nahm die Zeugenaussage des Ex-Staatsschutzchefs Puff bis ins Detail auseinander. Selbst das Attest würde einen Schlag von Puff und nicht eine Dehnung attestieren – also die Version des Angeklagten, dass Puff geschlagen habe und nicht beim Festhalten verletzt worden sei. Minutiös belegte der Angeklagte zudem eine Reihe von Falschaussagen und falschen Verdächtigungen von Puff, der das ja auch schon öfter gemacht habe – so wie er auch schon öfter gewalttätig geworden ist ( http://www.ver-puff-dich.de.vu). Den Aussagen von Puff stellte der Angeklagte die Aussagen anderer Polizisten gegenüber und benannte viele Widersprüche. Alles unter  http://www.projektwerkstatt.de/antirepression/prozesse/berufung2005_pladoyer_puff.html.
- Plädoyer Anklagepunkt Körperverletzung/CDU-Stand: Obwohl es der am heftigsten bestrafte Anklagepunkt war, gab es hier die meisten Lacher im Publikum. Allzu deutlich wurde im Plädoyer durch die Gegenüberstellung der Aussagen verschiedener Polizisten, dass offenbar alle in einem anderen Film waren. Der Angeklagte erklärte dazu, dass offenbar alle versucht hätten, irgendwas Belastendes über ihn zu sagen, aber sich jeder was andere ausdachte. Wichtig sei zudem, dass sich der Hauptbelastungszeuge und damals vermeintlich verletzte POK Walter selbst widersprach: Seine Schilderung vor Gericht und seine Beschreibung in der Strafanzeige würden in jedem Detail genau gegenteilig sein. Zweifel wurden im Plädoyer benannt, ob die Eskalaktion am 11.1.2003 nicht sogar eingefädelt war, um endlich Haftgründe zu produzieren. Die DemonstrantInnen und insbesondere der Angeklagte hätten sich angesichts der Lage aber eher bemerkenswert besonnen gezeigt, obwohl eine durchgeknallte Polizeitruppe eine legale Demonstration auf Geheiß des Innenministers zerschlug. Das umfangreiche Plädoyer zu diesem Punkte unter  http://www.projektwerkstatt.de/antirepression/prozesse/berufung2005_pladoyer_tritt.html.
- Plädoyer Anklagepunkt Hausfriedensbruch/Gail: Der öffentlich am meisten beachtete Anklagepunkt ist derjenige, wo die Angeklagten am wenigstens getan haben. Sie haben nur rumgesessen, wo sie es auch durften. Weil aber der Hausherr sie da nicht haben wollte (ohne dafür rechtmäßige Gründe zu haben), hätten sie gehen müssen – so jedenfalls die Anklage. Die Angeklagten (hier waren ja beide angeklagt) kritisierten eine solche extreme Hausrechtsauslegung und wiesen darauf hin, dass mensch weniger nicht mehr tun könne als Nichtstun auf einem Stuhl, zudem sei für Stadtverordnetenversammlungen die Öffentlichkeit garantiert und eben nicht eine Sache der Gnade des Stadtverordnetenvorstehers Gail (eben des „berühmten“ Lügen-Gail). Außerdem sei die Strafanzeige sehr seltsam entstanden, die Angeklagten bezeichneten die Nicht-Information der Stadtverordneten von dieser Anzeige als Rechtsfehler, der eine Verurteilung unmöglich mache. Der ganze Text unter  http://www.projektwerkstatt.de/antirepression/prozesse/berufung2005_pladoyer_gail.html.
- Plädoyer Anklagepunkt Beleidigung/Gülle: Als schwächsten Punkt der Anklage bezeichnete der Angeklagte den Vorwurf der Beleidigung. Nach das Herausnahme des Staatsschützers Schmidt aus dem Prozess, weil der Staatsanwalt ihn vor weiteren Falschaussagen oder einem erneuten Meineid schützen wollte, blieb nur noch die Beleidigte selbst als Zeugin, also die Grüne Oberbürgermeisterkandidatin Gülle. Hasserfüllt hatte die vor Gericht ausgesagt und auch schon vor dem Ereignis im August 2003 in der Projektwerkstatt angerufen, weil sie verzweifelt war über die Wahlplakateverschönerungen in Gießen. Deshalb hatte sie auch genug Wut, um den Angeklagten zu schlagen, führte dieser aus. Die Beleidigung hätte sie sich schlicht ausgedacht, um für ihren Schlag eine Begründung zu erfinden. Außerdem hätte sie in dem Moment gar nicht in der Nähe gestanden und konnte so nicht hören, was gesagt wurde. Das bestätigte sogar ein Polizeizeuge, Gülle stand also ganz allein mit ihrer Version. Siehe  http://www.projektwerkstatt.de/antirepression/prozesse/berufung2005_pladoyer_guelle.html.
- Plädoyer Anklagepunkt Graffities/Gallushalle: Der in diesem Punkt Angeklagte listete in seinem Plädoyer die Gründe auf, die gegen ihn sprechen sollen und bewertete sie. Im Mittelpunkt standen die Schuhe, der er angehabt haben soll, deren Identität mit den Spuren aber ebenso wenig sicher bewiesen werden konnte wie überhaupt, dass es seine Schuhe waren bzw. er sie regelmäßig tragen würde und andere nicht. In der Projektwerkstatt ist Eigentum nämlich nicht angesagt. Zudem griff der Angeklagte auch hier Ex-Staatsschutzchef Puff an, dass dieser nicht ermittele, sondern seine Verfolgungsinteressen immer schon vorher klar hätte. Und die würden regelmäßig die Namen der beiden Angeklagten tragen, bevor überhaupt eine Ermittlung begonnen hätte. Meist unterbliebe die ja auch bei diesem Staatsschutz. Textfassung unter  http://www.projektwerkstatt.de/antirepression/prozesse/berufung2005_pladoyer_graffiti.html.
- Ausführungen zum Abschluss: Zusammenfassend benannte ein Angeklagter noch mal die Symbolik des 11.4.2005, als er vor dem Gerichtstermin von Polizisten verprügelt und in Handschellen gelegt wurde. Die Polizei hätte dann ihn bezichtigt, sie getreten zu haben. Das im Prozess dann betrachtete Video belegte die Lügen und die Gewalt der Polizei. „Das ist eine Symbolik für alles, was hier verhandelt wird – Gewalt der Polizei und systematische Erfindungen“. In einer Polemik empfahl der Angeklagte dem Staatsanwalt angesichts der Masse an Straftaten wie Falschaussagen, Meineide und falsche Verdächtigungen gegen die Polizei Mittelhessen nach § 129 des Strafgesetzbuches (kriminelle Vereinigung) zu ermitteln. Ganz zum Schluss wies ein Angeklagter auch noch auf die praktische Wirkung einer Verurteilung hin und verglich diesen Prozess mit der am 2.3.2003 stattgefundenen Verurteilung einer Aktivistin wegen einer Kreidemalerei „Fuck the police“. Folge dieses Urteils sei eine Verfolgungs- und Kriminalisierungswelle der Polizei gewesen, die jetzt hinter allem Möglichen eine Beleidigung witterte und damit Möglichkeiten, Platzverweise zu erteilen, Personalien zu kontrollieren, immer und überall zu filmen, Leute festzunehmen oder (wie am 11.4.2005) auch mal zu verprügeln. Wie grauselig dürfte es in Gießen erst werden, wenn ein Urteil der Polizei einen Blankoscheck gibt, ständig zu prügeln und dann immer aufzuschreiben: Der hat Widerstand geleistet ... Zum Plädoyer-Abschluss auf  http://www.projektwerkstatt.de/antirepression/prozesse/berufung2005_pladoyer_allgemein.html.


Unglaubliches Plädoyer von Staatsanwalt Vaupel

Jovial, als ginge es um eine kleine Meinungsverschiedenheit und nicht um eine mögliche Freiheitsentziehung von 9 Monaten, setzte Vaupel den ZuhörerInnen seine Ansichten auseinander. Er hätte „selten ein so gut formuliertes Urteil gelesen“ wie das von „Vorderrichter“ Wendel und hält es für „in vollem Umfang“ richtig. Die „Verschwörungstheorie“ gegen die Angeklagten lehnte er ab. Es sei „vollkommen abwegig", dass sich sämtliche Polizeibeamte verschiedenster Dienststellen in ihren Aussagen abgesprochen hätten, nur um „Herrn Bergstedt ins Gefängnis zu bringen." (Gießener Anzeiger, s.u.) Außerdem stellte er fest, dass für ein Urteil eben nicht „zweifelsfrei“ die Schuld bewiesen werden, sondern sich das Gericht eine Überzeugung bilden müsse.
Im Hinblick auf die einzelnen Punkte hielt sich Vaupel im Unterschied zu den Angeklagten an die Aufzählung der Anklagepunkte aus der Anklageschrift, wie er sich auch in der Bewertung hauptsächlich an die Ergebnisse aus der ersten Instanz hielt, wenn sie nicht gerade für seine Theorien sprachen.
Im Falle der verschönerten Wahlplakate hält Vaupel den Angeklagten zugute, dass sie an jenem Tag das Wahlmobil gestaltet, aber „zweifellos auch die Plakate beklebt“ hätten. Wie er zu dieser Einsicht kommt, hat er aber nicht begründet. Die Aussage eines Polizeibeamten, der ein Glas mit Flüssigkeit und eine feuchte Stelle in einem nahen Container gefunden haben will, benutzte er als Indiz, während er die gegenteilige Aussage des Kollegen gar nicht erwähnte. Die Wahlmobilgeschichte hält er für eine „Schutzbehauptung“, weil die Angeklagten sie in der ersten Instanz nicht vorgebracht hätten. Den Tatbestand der „gemeinschaftlichen Tat“ bezieht er dieses Mal jedoch nicht mehr auf mögliche andere Täter, die „sich am Saasener Küchentisch“ verabredet haben könnten (siehe erstes Urteil:  http://www.projektwerkstatt.de/antirepression/prozesse/urteil1.html), sondern nur auf die beiden Angeklagten. Damit zieht er eine Begründung aus dem ersten Urteil zurück.
Die Graffitisprüche an der Grünberger Gallushalle rechnet Vaupel auch eindeutig einem der Angeklagten zu, weil er das Gutachten für ausreichend hält, um den Schuh des Angeklagten mit dem Abdruck auf dem Dach zu identifizieren. Gutachter würden sich immer eine Hintertür offen halten, um sich nicht vollständig festzulegen, aber in seinen Augen seien die Übereinstimmungen hinreichend. Die Aussage des Angeklagten, dass im Umfeld der Projektwerkstatt und des Umsonstladens die Dinge nicht einem Besitzer zuzuordnen wären, nimmt er zwar als wahr an, hält es aber für unwahrscheinlich, dass der Täter dem Angeklagten direkt am nächsten Tag die Schuhe „überlässt“. Zusätzlich würde ja auch die „Diktion“ der Sprüche auf den Angeklagten verweisen.
Zur angeblichen Körperverletzung des Staatsschützers Puff hält er dessen Aussage für zentral und glaubwürdig: Er habe „keinen Anlass, daran zu zweifeln“, wenn Puff sagte, es hätte schon eine versuchte Festnahme in Saasen gegeben. Und Puff habe, wie er aussagte, in Grünberg die Festnahme erklärt, auch wenn er sie nicht begründet habe, und da Gründe für die Festnahme vorlagen, wäre sie auch rechtmäßig gewesen. Damit habe sich der Angeklagte des „Widerstandes gegen Vollstreckungsbeamte“ und „vorsätzlicher schwerer Körperverletzung“ schuldig gemacht, weil er „billigend in Kauf genommen“ habe, dass sich Puff bei den Abwehrhandlungen verletzte.
Auch bei der vorgeworfenen Körperverletzung am CDU-Wahlstand sieht der Staatsverteidiger die Widerstandshandlung gegen die Festnahme für überführt an. Die Auflösung der Versammlung sei rechtmäßig gewesen, weil sie die „angemeldete“ Veranstaltung der CDU „gestört“ hätte (Vaupel sollte sich noch einmal mit dem Versammlungsrecht beschäftigen, dass hier über dem „angemeldeten“ Recht des Wahlstands steht); der Widerstand dagegen also strafbar und der Tritt gegen die Stirn „bewusst“ erfolgt. In diesem Fall würdigte er vor allem die aktuellen Aussagen der Beamten, und ging gar nicht auf die Widersprüche zu Vermerken oder früheren Aussagen ein. Die Aussagen der beteiligten Polizisten bestätigten alle „im Kern“ die Aussagen des betroffenen Walter und nur das zähle hier. Auch seien einige Entlastungszeugen auf Nachfrage in der Bestimmtheit ihrer Aussage „zurückgerudert“, und eine gegenteilige Detailaussage eines Parlamentariers, der den Polizisten vorwarf, „auf einer anderen Veranstaltung“ gewesen zu sein, wenn sie anderes behaupteten, bezeichnete Vaupel jetzt als „sehr weit aus dem Fenster gelehnt“ und deutete rechtliche Konsequenzen wegen des Verdachts der Falschaussage vor Gericht an.
Zum Hausfriedensbruch in der Stadtverordnetenversammlung sah der Stadtverteidiger es als unerheblich an, ob es Störungen oder nur ein Transparent gegeben habe. Der Vorsitzende Gail habe rechtmäßig sein Hausrecht durch Aufforderung ausgeübt, nach einer glaubwürdigen Zeugenaussage sogar mehrere Male. Weil die Angeklagten dem nicht folgten, seien sie schuldig zu sprechen. Auch der Strafantrag durch Herrn Gail sei rechtmäßig gewesen, daran gäbe es nichts zu rütteln.
Die ehemalige OberbürgermeisterInkandidatin Gülle hielt er aus immer noch dem selben Grund für glaubwürdig, wie in der ersten Verhandlung. Eine dermaßen in der Öffentlichkeit stehende Person könne es sich nicht erlauben, einfach auf offener Straße zuzuschlagen, deshalb müsse vorher eine Beleidigung durch den Angeklagten erfolgt sein. Außerdem stütze auch ein Foto die Version der Schlägerin: sie und der Angeklagte stünden dort noch friedlich nebeneinander und in der nächsten Situation müsse die Beleidigung gefallen sein...
Zur Bemessung des Strafmaßes zog Vaupel wie schon in der ersten Instanz den Sozialhilfesatz herbei. Bemerkenswert, wie die aktuellen Ereignisse an ihm vorbeigehen: keiner der beiden Angeklagten würde nach den derzeitigen Verhältnissen Sozialhilfe bekommen, da sie beide sicherlich als „erwerbsfähig“ eingestuft würden, also höchstens als ALG-II-Empfänger in Betracht kämen. Aber solche Feinheiten zählen für die Gesellschaftseliten ja nicht...


Vaupel im Verfolgungswahn

Als würde das, was Staatsanwalt Vaupel in diesem Prozess (und ja auch an anderer Stelle) abzieht, nicht schon reichen ... und als würde er befürchten, dass es nicht gereicht haben könne, ihn als willigen Vollstrecker von Herrschaftsinteressen und harter Verfolger aller Regierungskritiker wahrzunehmen, deutete er im Prozess an, wer der nächste sein wird. Offenbar haben ihn die Aktivitäten des PDS-Stadtverordneten Janitzki in den letzten Wochen zu sehr genervt. Darum baute er einen Nebensatz in sein Plädoyer ein, dass er die Zeugenaussage von dem mal überprüfen will, ob da nicht ein Falschaussageprozess möglich sei.
Rückblick: Janitzki war es, der vor zwei Jahren recht beharrlich die am 12.12.2002 von Bürgermeister Haumann verbreitete Nachricht einer eingegangenen Bombendrohung untersuchte ( http://www.bomben-haumann.de.vu). Nach ca. 2 Monaten fortgesetzten Lügens oder Schweigens von Haumann räumte der schließlich ein, sich die ausgedacht zu haben. Nun setzte natürlich keine allgemeine Empörung ein und Haumann musste seinen Sessel räumen. Nein, er wurde kurz drauf Oberbürgermeister und Staatsanwalt Vaupel lehnte die Aufnahme eines Ermittlungsverfahrens wegen Erfindung von Straftaten ab.
Am 27.3.2003 wurde in der Stadtverordnetenversammlung über die Erfindung von Haumann diskutiert. Die Mehrheit lehnte eine Missbilligung des Bürgermeisters ab (wo kämen wir denn da auch hin, wenn ein Parlament gegen die Regierung wäre – es nerven ja schon die paar Menschen, die heute noch Opposition auf der Straße sind, genug, deshalb sollen die ja auch hinter Gitter ...). Während dieser Sitzung kam es zu den Vorfällen, die nun im laufenden Prozess verhandelt werden ( http://www.projektwerkstatt.de/27_3_03). Unter anderem machte Stadtverordnetenvorsteher Gail eine neue Lüge, als er behauptete, von der anwesenden Zivilpolizei nichts gewusst zu haben. Das dauerte fast zwei Jahre, bis diese Lüge widerlegt werden konnte ( http://www.luegen-gail.de.vu). Als das aber klar war, hat wiederum der Stadtverordnete Janitzki das Thema ins Parlament eingebracht. Inzwischen waren die Verhältnisse so, dass auch SPD und Grüne fest zu dem sie belügenden CDU-Mann Gail standen, schließlich haben die Herrschenden gemeinsame Interessen, ihre Herrschaftsposition zu behalten. Gail und auch der FWG-Vorsitzende Zippel beschimpften Janitzki öffentlich, als dieser die Lügen von Gail hinterfragte. Zippel wollte auch gleich, dass der Staatsanwalt tätig würde. Sein damaliger Grund war dafür nicht zu gebrauchen, aber offenbar hat sich Vaupel nun Gedanken gemacht, wie er der Obrigkeit dienlich sein könne.
Es bleibt also klar: Zumindest dieser Teil der Justiz ist verlängerter Arm der Herrschenden. Die Gewaltenteilung ist angesichts gleicher Dienstherren und überall Parteisoldaten auf den Richter/SchöffInnen-Posten ohnehin nur Propaganda. Aber wie offensichtlich Vaupel hier alles angreift, was den Herrren Bouffier, Haumann & Co. nicht in den Kram passt, ist schlicht widerlich.


Aktionen drumherum

Diesmal hat die ganze Zeit (natürlich nur vorher, nachher und in den Pausen) ein Filmteam gedreht. Wie mitzubekommen war, haben Staatsanwalt und Polizei aber immer nur die Flucht ergriffen, wenn es in der Nähe war.
Angesichts der in den Plädoyers enthaltenen Zitate usw. mussten immer wieder einige ZuschauerInnen lachen, was von der Richterin immer wieder mit Ordnungsrufen quittiert wurde – ohne dass sich die Richterin allerdings selbst immer beherrschen konnte ... einige Aussagen vor allem der Belastungszeugen waren einfach zu absurd. Mittags und danach gabs Musik.

Angst machte ein nicht vollständig mitbekommenes Telefonat, wo gerätselt wird, was es bedeutete. Angestellte des Gerichts, die folglich auf Anweisung der Richterin gehandelt haben dürften, telefonierten vom Gerichtssaal aus und forderten für die zu dem Zeitpunkt noch am gleichen Tag vorgesehene Urteilsverkündung eine weitere Verstärkung mit Bereitschaftspolizei an. Zudem fiel in dem Telefonat der Begriff „Haftbefehl“ – allerdings war kein Zusammenhang erkennbar. Beides zusammen ergab nicht gerade eine positive Interpretationsmöglichkeit. Es ist aber Spekulation – auch bleibt die Hoffnung, die Plädoyers der Angeklagten und auch das unverschämte, arrogante Plädoyer des Staatsanwaltes könnten noch einmal Wirkung hinterlassen haben.


Gießener Anzeiger vom 30.4.2005

"Ich will eine klare Korrektur des Urteils"
Angeklagter Bergstedt hielt über mehrere Stunden Plädoyer
GIESSEN (cam). Der ganze lange Verhandlungstag war ein einziges Plädoyer. Beinahe im wahrsten Sinn des Wortes. Denn es war der Angeklagte Jörg Bergstedt, der sich gestern von 9 bis 17 Uhr verteidigte, die neun Prozesstage vor der Berufungskammer des Landgerichts resümierte und aus seiner Sicht die Argumente, die für ihn und jene, die gegen ihn sprachen, vorbrachte. Nach seiner Auffassung gab es allerdings keine Punkte, die beweisen, dass er Anfang 2003 in Reiskirchen Sachbeschädigung, in Grünberg und Gießen Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte sowie Körperverletzung beziehungsweise gefährliche Körperverletzung, Hausfriedensbruch sowie Beleidigung begangen hatte. Für diese Taten war er in erster Instanz zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von neun Monaten verurteilt worden. Um so mehr fand der 40-Jährige Argumente, die gegen die Glaubwürdigkeit der Aussagen von ihn belastenden Zeugen sprachen: Es sei doch interessant, dass es bei jenen eine "hohe Zahl von deutlich erkennbaren Falschaussagen, Erinnerungslücken und Widersprüchen" gegeben habe.
Und das gerade in den Aussagen der Polizisten, die im Fall des mutmaßlichen Fußtrittes - der Hauptanklagepunkt - ausgesagt hätten.
Im Januar 2003 war Bergstedt wegen seiner Protestaktion gegen eine CDU-Wahlkampfaktion auf dem Seltersweg festgenommen worden. Dabei soll er einen der Polizeibeamten gegen die Stirn getreten haben.
Minuziös und detailliert rekonstruierte Bergstedt in seinem Plädoyer die Vorgänge auf dem Seltersweg, wie sie seiner Auffassung nach die Beweisaufnahme ergeben hätte. So stellte er fest, dass diese "zweifelsfrei" seine Unschuld ergeben hätte. Wichtigster Grund dafür: Der ihn hauptsächlich belastende Polizist hätte in seiner Aussage vor Gericht "exakt Gegenteiliges" zu seinem Aktenvermerk ausgesagt, den er offenbar direkt nach dem mutmaßlichen Vorfall angefertigt hatte.
Auch bei den anderen Anklagepunkten sah der 40-Jährige seine Unschuld und die "Falschaussagen" der Belastungszeugen für erwiesen. Dabei meinte er insbesondere Stadtverordnetenvorsteher Dieter Gail, der, so Bergstedt, im Zusammenhang mit der Anklage wegen Hausfriedensbruch falsche Angaben gemacht haben soll.
Und zwar aus politischen Gründen, wie der "Berufsrevolutionär" meinte. Gail hatte ihn laut Anklage im März 2003 in der Sitzung der Stadtverordnetenversammlung zur Abstimmung über die so genannte Gefahrenabwehrverordnung des Saales verwiesen. Der 40-Jährige blieb, wurde von der Polizei hinausgetragen und wegen Hausfriedensbruch angeklagt.
Das alles hielt Bergstedt für nicht rechtens, gab allerdings in seinem Plädoyer zu verstehen, dass er diesbezüglich nicht "zweifelsfrei" seine Unschuld beweisen könne. Gleichwohl plädierte er, wie auch bei den anderen Anklagepunkten, auf Freispruch: "Ich will eine klare Korrektur des Urteils in erster Instanz".
Auch sein 23-jähriger Mitangeklagter beantragte Freispruch. Der war vom Amtsgericht ebenfalls wegen der Vorfälle bei der Versammlung wegen Hausfriedensbruch verurteilt worden, außerdem noch wegen Sachbeschädigung. Er hatte deswegen eine Geldstrafe von 100 Tagessätzen zu zehn Euro bekommen.
Schließlich, es wurde bereits Abend, hatte Staatsanwalt Martin Vaupel das Wort. Er machte es kurz: Sämtliche Indizien überführten die beiden Angeklagten als Täter, und das erstinstanzliche Urteil hielt er "im vollen Umfang" für zutreffend. Es sei "vollkommen abwegig", dass sich sämtliche Polizeibeamte verschiedenster Dienststellen in ihren Aussagen abgesprochen hätten, nur um "Herrn Bergstedt ins Gefängnis zu bringen."
Während er an dem Strafmaß für Bergstedt nichts auszusetzen hatten, beantragte er für den 23-Jährigen eine geringere Strafe, da der Schaden für die Sachbeschädigung - angebliche Schmierereien an der Gallushalle in Grünberg - nicht 15000 Euro, sondern nur einige hundert Euro betragen habe: Eine Geldstrafe von insgesamt 800 Euro (80 Tagessätze zu zehn Euro). Das Urteil wird am Dienstag gesprochen.
Quelle:  http://www.giessener-anzeiger.de/sixcms/detail.php?id=1709356&template_id=2634&_adtag=localnews&_zeitungstitel=1133842&_dpa=


Wie weiter?

Urteilsverkündung (und eventuell Aktion danach in der Innenstadt u.ä.) am Dienstag, 3.5.2005, 10 Uhr im bekannten Gerichtssaal E 15 im Landgericht Gießen.
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Ergänzungen

Danke an Euch beide!

küsschen 01.05.2005 - 01:36
Ihr habt hervorragende Arbeit geleistet. Vor allem die Transparenz und die zeitnahe Berichterstattung samt umfassender, minutiöser Doku, die Ihr geleistet habt, ist großartig.
Es war ungeheuer interessant, das alles zu verfolgen. Wenn Du, J, in den Knast gesteckt wirst, ist das ein Beweis für die Korruption der Justiz, der mit Sicherheit in die Geschichte eingehen wird. Ich hoffe, Du hast in jedem Fall Zeit, die ganze Sauerei in Buchform zu packen - das wird spannend und liefert eine Vorlage für weitere Veröffentlichungen.
Der Stoff hat mindestens das Zeug für ein Drehbuch und eine Dissertation.
Trotzdem wünsche ich mir, dass sich der Aufwand gelohnt hat und Ihr freigesprochen werdet.
Falls nicht wünsche ich viel Energie und Mitstreiter(Innen?) für Direkte Aktionen im Knast (schluchz)!

veil glück/erfolg!

sofa-leser 01.05.2005 - 17:19
ich wünsche euch viel glück und efolg für einen freispruch! Und vielen dank für die ausgiebige doku, die hoffentlich beim einen oder anderen ausdauernden (!) leser einige zweifel an der dt. justiz geweckt hat...

@ich: natürlich ist der artikel einseitig, allerdings kommt er 1. von den angeklagten, dass kannst du hoffentlich berücksichtigen, die um ihre freiheit bangen und 2. verweisen sie regelmässig auf die berichte der bürgerlicdhen presse... und erlauben dir also auch problemlos den einblick in andere scihtweisen...
ich fands gut!

Zum Urteil (Dienstag, 3.5.)

will dahin ... 02.05.2005 - 18:00
Hallo Leute,

am Dienstag, dem 3.5.2005, um 10 Uhr geht der Prozess gegen Jörg und
Espi in seine allerallerletzte Runde. Nachdem letzten Freitag eigentlich
schon das Urteil erwartet wurde, alleine die Plädoyers aber schon den
ganzen Tag dauerten, kommt das Verfahren am Dienstag zu einem
endgültigen Ende (es sei denn, dass Urteil fällt so unerträglich aus,
dass es noch eine Revision gibt, das würde dann aber noch dauern ;-).

Für alle, die sich die Details bisher nicht geben wollten, gibt es dann
von der Richterin persönlich quasi eine zusammenfassende Würdigung
inklusive gesammtgesellschaftlicher Bewertung ("Im Namen des Volkes").

Für die Zeit davor (wir haben uns jetzt so ans frühe Aufstehen gewöhnt
;-) haben wir einen Workshop geplant, der den aktuellen Gerichtsprozess
und die Logik von Gerichtsverfahren allgemein in die Kritik nehmen soll:
ab ca. 9.15 Uhr am Landgericht. Wir freuen uns über alle
TeilnehmerInnen, auch aus den Reihen der Polizei und des Gerichts...

urteil 03.05.2005, zweite instanz

das c 04.05.2005 - 02:04
natuerlich war ich sehr gespannt auf den ausgang der inszenierung. fuer die verurteilten geht der vorrat an humor hoffentlich auch jetzt noch nicht so bald zuende. das urteil: ich musste es aus der zeitung erfahren:

 http://www.fr-aktuell.de/ressorts/frankfurt_und_hessen/frankfurt_und_hessen/?cnt=672546

>

trotzdem nicht viel anderes in einem solchen schauprozess zu erwarten war, bin ich schockiert und ratlos. zumal ich mir an zwei fingern abzaehlen kann, dass bei den "betroffenen" in einer solchen situation schon mal unangenehme gefuehle aufsteigen koennten. mehr als "die erde ist eine scheibe" und "des kaisers neue kleider" faellt mir in der ersten schrecksekunde auch nicht ein.

wuensche ausdauer und mut, das c

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