Montagsdemos damals und heute: Systemwechsel

Weg mit Hartz IV! - Erstveröffentlichung 16.09.2004 01:56 Themen: Soziale Kämpfe
Bei der Montagsdemonstration am 13.9.04 störte die Polizei mehrmals die Abschlußkundgebung der Montagsdemonstration als der ehemalige DDR- Bürgerrechtler Bernd Gehrke versuchte eine Rede zu halten. Aufgrund von Provokationen der Polizei, die während des Redebeginns die friedliche Abschlusskundgebung durch ihr Eindringen in die Kundgebung massiv störte, wurde die Rede häufig unterbrochen. Deshalb konnte sie nicht in der Textfassung, sondern nur in improvisierter Form beendet werden.
Reden auch wir wieder über den notwendigen Systemwechsel!

Rede anlässlich des 15. Jahrestags der DDR-Demokratiebewegung 1989 auf der Berliner Montagsdemonstration am 13. September 2004


Zur Desinformations- und Verleumdungsstrategie von Regierung und Medien gegen unsere Proteste gehört nicht nur der Medienboykott gegenüber der Unterstützung der Montagsdemos durch viele ehemalige DDR-Bürgerrechtler. Eine weitere Diskreditierungstaktik besteht in der Verleumdung, die politische Unzufriedenheit in Ostdeutschland mit der heutigen Gesellschaft pauschal als antidemokratische Gesinnung auszulegen. Zweifellos sind Zuläufe für Neofaschisten sehr beunruhigend. Doch ausgeblendet wird von Politikern und Medien, dass die grosse Mehrheit der Menschen in Ostdeutschland allen Grund hat zu politischer Unzufriedenheit mit diesem Staat und diesem Gesellschaftssystem. Und dass eben dies auch der vom bundesdeutschen Establishment politisch zu verantwortende Erfahrungshintergrund der Menschen ist, an dem die antidemokratische Agitation von Faschisten anknüpfen kann.

Deshalb ist es besonders in diesem Herbst notwendig, in dem sich die demokratische Revolution in der DDR zum 15. Mal jährt, an die damaligen demokratischen und sozialen Hoffnungen sowie an die unerfüllten Ziele der 89er Bürgerbewegungen zu erinnern. Ebenso notwendig ist es aber auch, die tiefe Kluft zwischen ihnen und den Erfahrungen mit der heutigen Gesellschaft und der in ihr herrschenden Klasse zur Sprache zu bringen.

Zwischen dem Sturz der SED-Diktatur und der Machtübernahme durch das westdeutsche Establishment war die DDR "das freieste Land der Welt". Auf den Strassen und in den Betrieben hatten wir defacto demokratische Rechte erobert, die hernach wieder auf das westdeutsche Mass der Kapitalherrschaft zurückgeschraubt wurden. In etlichen Betrieben hatten demokratische Belegschaftsvertretungen im Jahre 1990 praktisch über den Eigentümerwechsel, über das Produktionsprofil der Betriebe oder das Management in einem Ausmass mitentschieden, wie es heute unverstellbar ist. Wir hatten ein Wahlgesetz ohne Fünf-Prozent-Klausel, dass die Teilnahme von Bürgerbewegungen erlaubte und rechtsradikale Parteien nicht zuliess. Und: 1990 hatten wir die freiesten Massenmedien. Heute sind sie vom Neoliberalismus fast schon wieder so gleichgeschaltet, wie zuvor von der SED. Diese kurzzeitige Freiheitserfahrung, wenn sie auch durch die damalige wirtschaftliche, soziale und ideologische Krise nur beschränkt war, als wir sowohl ohne die Macht von stalinistischer Politbürokratie als auch ohne die des Kapitals lebten, wird uns systematisch weggeredet. Denn in einer solchen Gesellschaft liegt auch der Ausweg aus heutiger Bedrängnis in eine freiheitliche und soziale Zukunft. Doch die Herrschenden des Westens wollen uns, so wie früher die Herrschenden im Osten die heutige Misere als alternativlos hinstellen. Oder sie verweisen, wie auch die Herrschenden früher, auf die Irrationalitäten und Verbrechen des jeweils anderen Systems in der damaligen Systemkonkurrenz der beiden imperialen Blöcke des kalten Krieges.

Häufig hören und lesen wir sogar die Lüge, die Ossis hätten Freiheit und Demokratie durch die Vereinigung erworben. Das Gegenteil ist der Fall: Unsere Unterwerfung unter das westdeutsche Establishment wurde dazu benutzt, praktisch schon erkämpfte Freiheiten wieder abzuschaffen und demokratische wie soziale Rechte und Freiheiten für die Mehrheiten in ganz Deutschland zurück zu drehen. Diese Art und Weise der Vereinigung war eine reaktionäre Alternative zu einem gleichberechtigten demokratischen, sozialen und ökologisch-orientierten "Aufeinanderzureformieren" beider Teile Deutschlands, die mehr demokratische und soziale Rechte für die "kleinen Leute" gesichert hätte, wie sie der Runde Tisch in seiner Sozialcharta zur deutschen Einheit gefordert und in seinem Verfassungsentwurf für eine demokratische DDR niedergelegt hatte.

Seit dem Anschluss der DDR hat das Establishment auf fast allen Gebieten den reaktionären Rückwärtsgang eingeschaltet. Entgegen der Bundesverfassung steht die Bundeswehr in fernen Ländern, soziale und demokratische Rechte, wie das Demonstrationsrecht oder die Medienfreiheit werden zurückgeschraubt, während der Überwachungsstaat überall voran schreitet.

Privatisierung und Deregulierung sollten die privatwirtschaftliche Grundlage für blühende Landschaften im Osten bringen. Vom Steuerzahler bezahlte beleuchtete Wiesen haben wir bekommen. Die Mehrheit der Ostdeutschen hatte sich eine Sanierung der Industrie durch westdeutsche Investoren erhofft. Seit 1991 hat sie mit der Zerstörung der industriellen Lebensgrundlagen, mit der folgenden Massenerwerbslosigkeit und der immer weiter um sich greifenden Einschränkung sozialer Rechte die praktische Erfahrung sammeln müssen, die die meisten Menschen im Westen auf andere Weise erfahren haben, nämlich, dass entgegen der Versprechungen politischer Phrasenhelden über die Segnungen der westlichen Welt der und die Einzelne heute so wenig Einfluss auf die Grundrichtungen der gesellschaftlichen Entwicklung haben, wie unter der SED-Diktatur. Es sind gerade jene Erwartungen von 1989 an eine reale Demokratie, die mit einer Praxis von Scheindemokratie konfrontiert worden sind, in der sich die den Ostdeutschen so wichtigen und von ihnen selbst erkämpften demokratischen Rechte in Wahrheit doch nur als Fassade einer modernen Klassenherrschaft erwiesen haben, in der das grosse Kapital regiert, welche Partei auch immer in der Regierung sitzen mag. Es ist diese dem "einfachen Volk" entfremdete und der Klasse der Reichen untergeordnete, eng beschränkte Gestalt von Demokratie, in der die Weichen der Entwicklung undemokratisch gestellt werden, die zu Recht Wut und Empörung hervor ruft. Das heutige Gesellschaftssystem hat sich für die meisten Ostdeutschen als ebenso verlogen und verdorben erwiesen, wie das der SED-Diktatur, als ein System, in dem Lügner, Betrüger und Diebe herrschen.

Die Vernichtung der ostdeutschen Industrie nach 1990 ist eines der grossen Verbrechen, das erneut auf die Kappe der herrschenden Klasse Deutschlands geht, ein Verbrechen, bei dem deutsche Grossbanken und -konzerne die Gewinner sind, während die kleinen Leute in Ost wie West bluten müssen: mit Arbeitslosigkeit und dem Druck zur Abwanderung die einen, mit ihren Beiträgen für die Sozialkassen sowie mit ihren Steuern die anderen. Die damit verbundene Umverteilung von West nach Ost ist vor allem eine gigantische Maschinerie zur Umverteilung von den kleinen Leuten in West wie Ost in die Kassen der grossen Konzerne, Banken und Versicherungen. Und allen, die da glauben, das Ausländer an ihrem Unglück Schuld sind, sei in Erinnerung gerufen, dass es deutsche Wirtschaftsbosse und deutsche Politiker waren und sind, die dieses Desaster zu verantworten haben. Besonders solche haben sich dabei unrühmlich hervor getan, die das Wort "Nation" wieder einmal für Lug und Trug missbrauchten, während die asoziale Politik des sogenannten freien Marktes, der Privatisierung und der Deregulierung von ihnen nach der Liquidierung der ostdeutschen Industrie im Rahmen der Welthandelsorganisation und der EU anderen Ländern aufgezwungen wird.

Es ist an der Zeit, dass wir in unserem Kampf für die Rücknahme von Hartz IV zugleich auch die Lüge zerreissen, dass es zur neoliberalen Gegenreformation, die darauf abzielt, mit Privatisierung, Deregulierung, Niedriglöhnen und Zwangsarbeit Errungenschaften von mehr als 100 Jahren Arbeiter- und sozialer Bewegung zurück zu drehen, keine Alternativen gibt.

Die gesellschaftspolitischen Ziele, die die Bürgerbewegungen 1989 in ihren Programmen und am Runden Tisch als Alternative zur SED-Diktatur wie zur auch damals schon zutiefst krisenhaften westlichen Gesellschaft auf die geschichtliche Tagesordnung gesetzt hatten, sind sicher in vielerlei Hinsicht kritisch zu überprüfen. Sie haben dennoch ihre Aktualität nicht verloren, nicht nur, weil darin westdeutsche Alternativdebatten eingeflossen waren, sondern vor allem, weil sie auf einen alternativen geschichtlichen Weg zu jenem reaktionären abzielten, der heute in Deutschland, in Europa und der Welt von den Herrschenden durchgesetzt wird. Es waren Ziele zur Schaffung einer radikal demokratischen und sozialen Republik, die auf basisdemokratischer Teilhabe der Einzelnen wie auf Wirtschaftsdemokratie beruhen sollte und die die Gestaltung einer freiheitlichen und solidarischen, gegen jede Art der Diskriminierung von Menschen gerichteten Gesellschaft zum Zweck hatte.

Grundrechte im Verfassungsentwurf des Runden Tisches, wie das Recht auf Arbeit oder Arbeitsförderung, Wohnraum oder die Diskriminierungsfreiheit von Frauen oder Behinderten, um nur einige zu nennen, die einklagbar festgelegt wurden, oder die vom Runden Tisch verabschiedete Sozialcharta zur deutschen Einheit bleiben ein demokratisches u n d soziales Vermächtnis dieser demokratischen Revolution. Ihrer gilt es sich heute ebenso wieder zu erinnern wie der im Herbst 1989 allenthalben eingeforderten, aber immer noch uneingelösten Basisdemokratie.

Im Interesse einer realen sozialen Demokratie, einer, die diesen Namen tatsächlich auch verdient, sollten wir selbstbewusst wieder jenen historischen Faden von vor 15 Jahren aufnehmen, mit den in Westdeutschland seit 1968 geführten Alternativ-Debatten verbinden und in die öffentliche Diskussion über gesellschaftliche Alternativen zum heutigen Sozial- und Demokratieabbau einbringen. Das ist eine notwendige und Ost wie West mit einander verbindende Aufgabe, die unserem Kampf gegen die unsoziale Politik des Establishments eine langfristige und dauerhafte Perspektive zu geben vermag. Und sie ist um so notwendiger, als es sich heute nicht nur darum handelt, eine solche Demokratie in Deutschland zu verwirklichen, sondern in ganz Europa, da man den Völkern im Rahmen der EU jene sozialen und demokratischen Rechte raubt, die sie sich in den einzelnen Ländern mühsam erkämpft hatten.

In diesem Sinne: Reden wir also wieder über einen anderen Systemwechsel, als über die heute von herrschender Politik und Medien sooft beschworenen Privatisierungsorgien, reden wir wieder über einen Systemwechsel im Interesse der Mehrheiten, reden wir wieder über "Mehr Demokratie wagen!", über eine Basisdemokratie und vor allem, über eine demokratische Kontrolle der Wirtschaft durch die Mehrheiten unserer Gesellschaft.
Mögen die Herrschaften im Arbeitgeberverband hinter uns das ruhig als Drohung begreifen.

Wo Recht zu Unrecht wird, wird Widerstand zur Pflicht!
Weg mit Hartz IV!
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Ergänzungen

Bilder von der Demo und Kundgebung

finden sich 16.09.2004 - 03:03
hier:  http://www.de.indymedia.org/2004/09/93787.shtml
Dort auch mehr zu den Polizeiübergriffen.

interessante rede

teilnehmer 16.09.2004 - 04:59
Ich fand die Rede sehr gut und auch richtig durchdacht - besonders schön, dass der Redner die DDR in der Zeit ZWISCHEN SED-Herrschaft und BRD-Kolonisation, also für einen Zeitraum von etwa einem Jahr, als das "vermutlich freieste Land der Welt" bezeichnet hat. Das trifft die Einschätzung vieler ehem. DDR-Bürger auf den Punkt.

Ein ausgezeichneter Gedanke besonders vor dem Hintergrund dass auch von Wissenschaftlern, die z.B. an der FU Berlin tätig sind, davon ausgegangen wird dass die Revolution `89 ein großer Schritt zu wirklichem Kommunismus gewesen wäre - wenn sie nicht vom kapitalistischen Westen "aufgefangen" worden wäre und in kapitalistische Bahnen gelenkt worden wäre.
Denn: keiner der DDR-Montagsdemonstrierer hatte das Ziel die Betriebe der DDR zu privatisieren, im Gegenteil: man wollte sie demokratisieren und so den Arbeitern direkte Kontrolle über den Produktionsprozess ermöglichen.

Was mich allerdings sehr gestört hat, war dass zum Schluss der Kundgebung von einer teilnehmenden Organisation verdammt unfair gegen eine/mehrere andere gehetzt wurde.
So was sollte nicht mehr vorkommen. Wenn ihr unterschiedliche Ansichten habt - tragt die untereinander aus aber verschont uns damit!

Gut, dass diese Rede hier eingestellt wurde

Edith Bartelmus-Scholich 16.09.2004 - 13:48
Ich finde, dass diese Rede, die Anliegen der Bürgerrechtsbewegung der DDR hervorragend zusammenfasst und auch die Rückschritte die mit dem Beitritt zur Bundesrepublik in Kauf genommen wurden, bilanziert.

Damals habe ich sehr bedauert, dass die Bevölkerung der DDR nicht den Entschluss einen eigenen Weg zu gehen gefasst hat. Es hätte m.E. ein Staat geschaffen werden können, der wie noch nie vorher ein Staat die Bedürfnisse und Erwartungen der Menschen hätte erfüllen können.

Damals hat die Massenbewegung einen Weg eingeschlagen, den Demonstranten jetzt ernüchtert als Sackgasse erkennen. Ich habe aber auch den Eindruck dass zwischenzeitlich eine nachhaltige Bewußtseinsentwicklung bei vielen Menschen stattgefunden hat. Damit besteht die Möglickkeit umzukehren und aus einer Sackgasse einen Umweg auf dem Weg zum Ziel einer selbstbestimmten und solidarischen Gesellschaft zu machen.

Vor einer solchen Entwicklung haben die Herrschenden in der Bundesrepublik mit Recht Angst. Über diese Angst und die Hoffnung, die sie für die Bewegung der Montagsdemos bedeutet, habe ich am 11.8.04 unter  http://www.debatte.info/index.php?id=174 einen Beitrag eingestellt.

In der augenblicklichen Lage kommt es darauf an, mehr Druck zu entwickeln. Dies ist nicht einfach, weil der Widerstand erheblich ist. Die Bevölkerung in den neuen Ländern, erfährt jetzt das, was die Bevölkerung in den alten Ländern schon verinnerlicht hat. Die Regierung ist zwar alarmiert, bewegt sich aber nur sehr wenig und sucht statt dessen ihr Heil in Desinformationspolitik und Verhetzung der Bewegung über teilweise geschickt agierende Massenmedien. Das Ergebnis ist eine gewisse Ratlosigkeit bei vielen Demonstranten. Die Regierung sieht in den zurückgehenden Zahlen der Montagsdemonstrationen schon ein Abebben der Bewegung.

Nach meiner Einschätzung ist diese Bewegung aber keinesfalls am Ende. Sie geht durch ein Tal, weil die bisherige Qualität an Grenzen gestoßen ist. Sie ist gefordert aus sich selbst heraus zielgerichter zu mobilisieren und organiserter zu arbeiten. Dabei kommt es darauf an zusätzlich aus dem Kreativpotential der ganzen Bewegung zu schöpfen, um neue Widerstandsformen zu entwickeln. Wenn das gelingt, wird diese Bewegung ein ernstzunehmender gesellschaftlicher Akteur.



Art. 20 GG ist Demokratie pur

Hannes Kern 16.09.2004 - 21:39
Gehrke, der grundsätzliche Fehler Deines Sogs nach Demokratie ist, dass am Ende der Schiedsrichter ausfällt. In der Runden-Tisch-Verfassung fehlt die Forderung nach Wahl der Richter durch das Volk.

Wie wir wissen, ist dies entgegen unserem Grundgesetz, " Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird ausgeübt vom Volke durch Wahlen und Abstimmungen und ..." kein Wirklichkeit. Das herrschende reale politische System in Deutschland ist illegal. Kapiert das mal endlich.

Art. 20 GG sagt weiter, wer es unternimmt, obigen Grundsatz zu unterminieren, gegen den hat jeder das Recht auf Widerstand.

Der Widerstand gegen H IV ist also purer demokratischer Widerstand im Sinne von Art. 20 Grundgesetz.

Liebe Edith,

hans 16.09.2004 - 22:57
da steht Systemwechsel, nicht Übernahme durch ein anderes Land mit anderem System. Von daher war auch '89 nicht die Rede von der Anahme oder Übernahme von hier und jetzt. Das müsste eingentlich ziemlich einfach zu verstehen sein. Nur leider waren die Leute '89 noch zerstrittener als heute und deswegen kam es nicht rechtzeitg zu einer Absage an Lothar de Maizière oder früher noch an Hans Modrow, sondern zum Zusammengehen diverser Bündnisse mit Parteien CDU und SPD/DDR. Shit happens.

das Böse kommt immer aus dem Westen

Matthias K. 17.09.2004 - 06:25
Lieber Bernd Gehrke,
ich war zwar kein Bürgerrechtler, sondern strammer Kommunist, was ich bis heute geblieben bin, aber es gab trotzdem eine Zeit, in der wir uns begegnet sind, damals in der VL. Gerade deshalb möchte ich Dir hier auch öffentlich sagen, immer noch nach 15 Jahren verwechselst Du unsere intellektuellen Spinnereien mit der damaligen ostdeutschen Realität. Das wäre nicht so schlimm, wären da nicht die Parallelen, zwischen den heutigen und damaligen Montagsdemonstrationen, einschließlich ihrere linken Geschichtsfälscher. Warum gehen die Menschen heute auf die Straße, auf Grund demokratischer Defizite oder gar fehlender Selbstbestimmung, lächerlich, ihre Motivation besteht ausschließlich darin, ihren vermeintlichen Anspruch zur Teilhabe an Privilegiertheit des Metropolenproletariats durchzusetzen. Sie wollen schlicht und einfach mehr Kohle, das wäre auch legitim, aber wie dieser Anspruch umgesetzt wird, das ist ihnen egal. Und hier ist eben Schluss mit Lustig,
„Zweifellos sind Zuläufe für Neofaschisten sehr beunruhigend. Doch ausgeblendet wird von Politikern und Medien, dass die grosse Mehrheit der Menschen in Ostdeutschland allen Grund hat zu politischer Unzufriedenheit mit diesem Staat und diesem Gesellschaftssystem. Und dass eben dies auch der vom bundesdeutschen Establishment politisch zu verantwortende Erfahrungshintergrund der Menschen ist, an dem die antidemokratische Agitation von Faschisten anknüpfen kann.“
Von diesen Sätzen ist mir keiner erklärlich, wieso hat das bundesdeutsche Establishment die armen Ostdeutschen an irgendwas gehindert, sich zum Beispiel gewerkschaftlich zu organisieren, entweder in den offiziellen oder wem die zu reformistisch waren und sind, dann eben in alternative Gewerkschaften, und sich die Rechte zu erkämpfen, sich vielleicht politisch zu engagieren oder eben sonst irgend was zu machen, um Widerstand zu leisten. Das was die Sätze erklärlich macht, ist die alte Entschuldigungslitanei, die letztendlich zu den rassistischen Pogromen in Rostock Lichtenhagen, Hoyerswerda und Quedlinburg geführt haben.
Erinnern wir uns an die Montagsdemonstrationen vor 15 Jahren. Begonnen wurden sie von BürgerrechtlerInnen, von linken Spinnern und Spinnerinnen und Menschen, die einfach keinen Bock mehr hatten auf die Agonie, in die die damalige sozialistische Gesellschaft verfallen war. Einig waren wir uns darin, das wir auf keinen Fall eine kapitalistische, sondern eine erneuerte sozialistische Gesellschaft wollten. Aber spätestens nach dem die Würfel im Politbüro gefallen waren, kamen all jene, die zu solchen Zeitpunkten immer kommen. Deren Motivation eben nicht mehr darin bestand, Privilegien in Frage zu stellen, sondern sich selbst in deren Besitz zu bringen. Denken wir doch nur an die vergoldeten Armaturen. Die, die sich 40 Jahre lang damit abfinden mussten Metropolenbürger zweiter Klasse zu sein, wollten nun endlich Metropolenbürger 1. Klasse werden. Und bis heute hört kein Mensch ein Wort darüber, auch nicht von den sogenannten Bürgerrechtlern, wer denn die eigentlichen VerliererInnen der sogenannten Wende waren, die ausländischen VertragsarbeiterInnen und die sogenannten Entwicklungsländern mit sozialistischer Orientierung.
Lieber Bernd, damals sprachen wir nicht von ostdeutsch und westdeutsch, auch wenn du etwas verschämt den Begriff bundesdeutsch verwendest, sondern von Sozialismus und Kapitalismus. Und auch von einem aufeinander zu reformieren war damals nicht die Rede. Hierin bestand ja unserer Unterschied zu den meisten damaligen politischen Bewegungen, das wir nicht nationalistisch sondern sozial-gesellschaftlich analysierten. Weil wir wussten, das eine auf Gebrauchswert orientierte Wirtschaft natürlich nur krachen gehen kann, wenn sie in eine auf den Wert funktionierende Gesellschaft transformiert werden soll, waren wir auch strikt gegen eine Widervereinigung. Deine konvergenztheoretischen Ansätze waren uns damals zumindest fremd.
Das hätten auch alle anderen „Deutschland einig Vaterland“Schreier und SchreierInnen wissen können. Konkurrenz, knallharte Rentabilität und Profit um jeden Preis sind nun einmal die Grundprinzipien des Kapitalismus. Die Mehrheit der ehemaligen Bürger der DDR dachte aber stramm national, das ihnen als Deutsche, da schon irgend etwas, außerhalb des Funktionierens des Kapitalismus, zu kommen würde.
Und heute, wieso hat das böse bundesdeutschen Establishment die Montagsdemonstrierer daran gehindert, sich von Anfang an gegen den jetzt endgültig durchsetzenden Sozialabbau einzusetzen. Der Einstieg zum Ausstieg fand ungefähr vor zehn Jahren statt, als die Politik neben der de facto Abschaffung des Rechts auf Asyl, die Flüchtlinge komplett aus dem Sozialsystem rausnahm und sie, statt der schon sehr geringen Sozi nur noch das sogenannte Taschengeld bekamen oder ganz und gar nur Sachleistungen.
Die Phänome die Du beschreibst, hat es alle gegeben, aber eben als Papiere an irgendwelchen runden Tischen und sicherlich gab es auch Ansätze der ArbeiterInnenselbstverwaltung, aber das stand in keiner Relation zu der nationalistischen Massenbewegung der Montagsdemonstriererei.
Worüber beklagen sich eigentlich die MontagsdemonstratiererInnen, doch nur darüber, das sie die Rechte, die sie sich nicht erkämpft haben, nicht besitzen. Und begleitet werden Sie von der Schar der Metropolenlinken, die da wild herumkreischen, ach Kapitalismus, was bist du nur so kapitalistisch. Der Wert der Ware Arbeitskraft wird bestimmt durch den Wert der Lebensmittel, die notwendig sind zu deren Reproduktion, sowie ein gewisses kultur historisches Moment, und die Waren tauschen sich zu ihren Wert, das sind die Dinge über die Du reden solltest, statt der ostnationalistischen Mär vom guten Ossi und dem bösen westdeutschen Establishment und nebenbei es ist schon ein gewaltiger Unterschied, ob ich von den bösen Reichen und den guten Armen oder eben von dem Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit spreche.
Das ein Rassist, wie der Herr Lafontaine, unter dem donnernden Beifall der Linken in Leipzig sprechen durfte und nebenbei bei ,Eurer Liste auch ein Herr Templin unterschreiben konnte, lässt nur erahnen, wo es diesmal wieder hin gehen soll.
Matthias K. du weißt schon, der aus Leipzig


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