Crashkurs italienisches Gerichtsverfahren

IMC Italy 07.07.2004 01:56 Themen: Repression
Zusammenfassung zum Thema: Wie verläuft ein Gerichtsverfahren in Italien?
Das Gerichtsverfahren beginnt in Italien mit einer so genannten "Notizia di reato", also mit einer "Anzeige einer Straftat", welche entweder durch die "Polizia giudiziaria" (Justizpolizei) oder durch eine Klage oder Beschwerde von Privatbürgern an den Staatsanwalt getragen wird.

Von dem Augenblick an, in dem die Person, welche Gegenstand von Ermittlungen wird, in das Register der "Notizie di Reato" (Anzeigenregister) aufgenommen wird, gilt für den Staatsanwalt eine Ermittlungsfrist, die, je nach Schwere der Straftat, zwischen sechs Monaten und einem Jahr betragen kann. Diese Frist kann verlängert werden, wenn die Ermittlungen sich als besonders komplex erweisen oder wenn sie teilweise im Ausland durchgeführt werden müssen oder wenn der Staatsanwalt in die objektive Situation gerät, die Ermittlungen nicht fristgerecht abschließen zu können.

Die äußerste Frist beträgt in jedem Fall 18 Monate oder zwei Jahre wenn die Straftaten besonders schwerwiegend wird.

Die Ermittlungen können mittels allen Methoden der Beweissuche geführt werden, zum Beispiel kann die Beweissuche durch Abhörmaßnahmen, Durchsuchungen, Zeugenaussagen, Beschlagnahmen, Gutachten usw. erfolgen.

Im Laufe der Ermittlungen kann sich auch zutragen, dass ein Beweis schon vor dem Gerichtsstreit als gerichtsverfahreneigener Beweis aufgenommen wird, weil er zu einem späteren Zeitpunkt nicht mehr möglich sein könnte, etwa wenn ein Zeuge im Sterben liegt oder wenn ein Gutachten über einen verderblichen Gegenstand erstellt werden muss. In solchen Fällen können der Staatsanwalt oder die Verteidigung beantragen, dass mittels eines so genannten "Incidente probatorio" (Zwischenbeweisaufnahme) eine vorgezogene Beweisaufnahme vorgenommen wird. Es handelt sich dabei um eine regelrechte Vorwegnahme des Gerichtsstreits, weil der Beweis (der im Laufe der eigentlichen Gerichtsverhandlung nicht mehr nachträglich aufgenommen und diskutiert werden kann) unter Wahrung der Gewährleistungsvorgaben im gerichtlichen Disput vor dem eigentlichen Gerichtsstreit aufgenommen wird. Das bedeutet, dass vor Beginn des eigentlichen Gerichtsverfahrens eine regelrechte gerichtliche Verhandlung in Anwesenheit von sämtlichen Parteien stattfindet (Voruntersuchungsrichter, Staatsanwalt, Verteidigung des Beschuldigten und Vertreter der Geschädigten Parteien).

Die Audienz zur Durchführung einer Zwischenbeweisaufnahme findet vor dem Richter für die Voruntersuchungen (GIP - Giudice per le Indagini Preliminari) statt, der als Richter für die Voruntersuchungen im Ermittlungsverfahren tätig ist und sich mit sämtlichen Akten der Staatsanwaltschaft befasst, die von einem dritten Richter geprüft werden müssen (Durchsuchungen, Beschlagnahmen, Haftbestätigungen u.a.).

Wenn die Ermittlungen abgeschlossen sind, kann das Verfahren auf zwei verschiedene und entgegensetzte Weisen zu Ergebnissen kommen:

1) Der Staatsanwalt kommt zum Schluss, dass er keine ausreichenden Beweise zusammentragen konnte, um die Anklage vor Gericht zu vertreten (oder er kommt zum Schluss, dass der Beschuldigte unschuldig ist...) und beantragt die Einstellung des Verfahrens beim Untersuchungsrichter, der zustimmen oder die Staatsanwaltschaft mit neuen Ermittlungen beauftragen kann (besonders wenn die geschädigte Partei vom Recht auf Widerspruch gegen die Einstellung des Verfahrens Gebrauch macht);

2) Der Staatsanwalt ist im Gegenteil zu (1) der Meinung, dass er über ausreichende Elemente verfügt, um die Anklage vor Gericht zu vertreten und beantragt beim Richter für die Voruntersuchungen die Zulassung des Gerichtsverfahrens. Wenn das Verfahren aufgrund von minder schweren Straftaten erfolgt und einem einzelnen Richter obliegt, erlässt der Richter einen Beschluss, der das Gerichtsverfahren anordnet, wodurch es zum Prozessbeginn kommt. Wenn hingegen wegen schwerwiegenderen Straftaten vorgegangen wird, die dem Kollegialrichter obliegen (Ein Richter, der Teil eines Richterkollegiums ist), legt der Richter für die Voruntersuchungen (GIP) die Vorverhandlung fest, die vor dem gleichnamigen Richter für die Vorverhandlungen (GUP - Richter für die Vorverhandlung) stattfindet und ein anderer als der Erste ist, weil er nicht im Voraus die Verfahrensakten kennen darf. Im Laufe der Vorverhandlungen präsentiert der Staatsanwalt die ermittelten Beweise, die er für tauglich und ausreichend hält, um die Anklage vor Gericht zu vertreten, die Verteidigung kann widersprechen. Der Richter für die Vorverhandlungen (GUP) entscheidet NICHT über die Schuld oder die Unschuld des Angeklagten, sondern LEDIGLICH über die Tauglichkeit der Beweise, die von der Anklage zusammengetragen wurden, um den Prozess so zu führen, dass eine realistischen Wahrscheinlichkeit vorliegt, dass es zu einer Verurteilung kommen kann. Wenn der Richter für die Vorverhandlungen (GUP) nicht zur Ansicht gelangt, dass die vom Staatsanwalt angeführten Elemente ausreichend sind, verkündet er in einem Urteil, dass die Grundlagen für die Durchführung eines Gerichtsverfahrens nicht gegeben sind. Wenn der Richter für die Vorverhandlungen aber entscheidet - wie es fast immer der Fall ist - dass der Staatsanwalt ausreichende Elemente besitzt, um die Anklage im Gerichtsverfahren zu vertreten, legt er die Eröffnungsverhandlung des Gerichtsverfahrens vor dem zuständigen Kollegium fest.

3) Während der Vorverhandlung kann der Angeklagte alternative Verfahrensformen wie etwa die gütliche Einigung oder das beschleunigte Verfahren beantragen

Erst jetzt beginnt das eigentliche Gerichtsverfahren.

Die beiden Parteien (Anklage und Verteidigung) müssen mindestens 7 Tage vor Prozessbeginn die Zeugenlisten vorlegen. Die Nichteinhaltung dieser Frist führt zum Verfall der Zulässigkeit der in zu spät hinterlegten Listen angeführten Zeugen. Weitere Zeugen können im Laufe des Verfahrens geladen werden, allerdings nur zum Beweis des Gegenteils in einer konkreten Angelegenheit, in Zusammenhang mit der es zur Anhörung von Zeugen der gegnerischen Seite kommen muss oder wenn der Richter die Anhörung derselben am Schluss des Verfahrens zum Zweck seiner Urteilsbildung für unerlässlich hält.

Die Verhandlung wird mit der Prüfung der Regelmäßigkeit der Parteienbildung im Gerichtsverfahren (Staatsanwaltschaft, Verteidigung, Geschädigte) und von weiteren Voraussetzungen (Kompetenz der Richter usw.) eröffnet.

Daraufhin beginnt mit der Zusammenstellung der Verfahrensakte der Gerichtsstreit. Das richterliche Kollegium muss nämlich per Gesetz "jungfräulich" sein, d.h., es darf keinerlei vorherige Kenntnis der Ermittlungsakten zum Verfahren besitzen. Zu den Gerichtsakten werden folglich und per Gesetz nur die nicht wiederholbaren Akten genommen werden (Durchsuchungen, Beschlagnahmen und Verhandlungen im Rahmen einer Zwischenbeweisaufnahme) und jene, die von den Parteien eingereicht werden, sofern die Zustimmung der gegnerischen Partei vorliegt. Daraufhin beginnt die Anhörung der Zeugen der Anklage, dann die Anhörung der Zeugen der Verteidigung und dann, so diese es wünschen, die Anhörung der Angeklagten.

Die Anhörung der Zeugen findet wie folgt statt: die Fragen werden zuerst von der Partei gestellt, welche den Zeugen geladen hat und dann von der gegnerischen Partei oder von weiteren Parteien im Gerichtsverfahren (Nebenkläger).

Weitere Beweismittel, die Eingang im Verfahren finden und von den beiden Parteien stammen, können Dokumente verschiedener Art sein (schriftliche Dokumente, Videos und Fotografien) oder Gutachten und die Anhörung von Sachverständigen der Parteien sein.

Am Ende des Gerichtsstreits verkündet der Richter (der ein Einzelrichter oder ein Kollegialrichter sein kann) ein Urteil, das entweder einen Frei- oder einen Schuldspruch für den Angeklagten beinhaltet.

Gegen das Urteil ersten Grades kann Widerspruch beim Appellgerichtshof erhoben werden und gegen das Urteil des Appellhofs kann beim Kassationshof Widerspruch erhoben werden.


Originalartikel:  http://italy.indymedia.org/news/2004/06/574634.php
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