WEITERSAGEN

Barcelonena 21.03.2004 00:57 Themen: Soziale Kämpfe
Heute vor einer Woche hat sich in Spanien etwas ereignet, von dem sicher schon alle gelesen haben: Die Bevölkerung hat den Lügen der Regierung nicht mehr glauben wollen und hat sich spontan und selbstbestimmt auf die Strasse bewegt, um gegen die Manipulation zu protestieren. Im Internet kursiert ein Bericht über die Ereignisse dieser Nacht in Madrid, über die wegen der am darauffolgenden Tag stattgefundenen Wahl eigentlich nur wenig berichtet wurde. Da der Text vielleicht auch für die Menschen in Deutschland interessant ist, habe ich ihn übersetzt.
----Original Message--------
From: Fernandez, Luis
Sent: Tuesday, March 16, 2004 5:57 PM
Subject: Lo que pasó el sábado en Madrid


WEITERSAGEN. So endete die SMS-Nachricht, die ich um ungefähr drei Uhr
nachmittags erhielt, die einen Schweigemarsch vor die Parteizentrale der
Partido Popular in der Calle Genova ankündigte. So begann etwas, das
sich im Verlauf der folgenden Stunden Minute um Minute immer weiter
ausbreiten sollte. Jede SMS, die bei jemandem ankam, wurde an zehn,
fünfzehn, zwanzig Personen weitergeschickt. Es gab Leute, die diese
Nachricht von bis zu zehn verschiedenen Leuten zugeschickt bekommen
sollten: Von der Familie, von Arbeitskollegen, von Kommilitonen,
Mitschülern oder Nachbarn, und diese Nachrichten sollten sich bis ins
Unendliche ausbreiten, wie ein Lauffeuer.
Um sechs Uhr Abends schützte ein enormes Polizeiaufgebot den Sitz der
Partei und die Beamten forderten alle ankommenden Demonstranten auf,
sich auszuweisen. Eine halbe Stunde später waren es schon zu viele für
die eingesetzte Polizei und nach einer Stunde war die Strasse ein
brodelnder Kessel voller wütender Menschen, die von der Regierung dieses
Landes die Wahrheit verlangten. Es gab Menschen, die weinten, und
andere, die vor Wut schrien: “Lügner! Mörder! Wir haben NEIN ZU
DIESEM KRIEG gesagt! Hier sind nicht alle, zweihundert fehlen! Ihr habt
Chauffeure “wir müssen in diesen Zügen fahren! Die ganze Welt
weiss die Wahrheit, nur ihr nicht! Schluss mit der Manipulation! Zeigt
UNS in eurem Fernsehen”

Die Presse befand sich hinter dem Polizeikordon, hauptsächlich
ausländische Journalisten, viele Übertragungswagen europäischer
Fernsehsender mit Satelitenschüsseln auf den Dächern. Aus den
angrenzenden Strassen und den Metrostationen kamen mehr und mehr
Menschen jeglichen Alters und Herkunft zu der Versammlung hinzu, die
kein Schweigemarsch mehr war, denn es war zu schwierig, den Mund zu
halten, und wenn doch einmal versucht wurde, eine Schweigeminute
einzuberufen, wurde sie von irgendjemandem unterbrochen, der
“Lügner! Mörder” rief. Tränen und Indignation verbreiteten
sich genauso wie Informationen: Die Leute klebten an ihren
Transistorradios und ihre Mobiltelefone klingelten ohne Unterlass, um
alle Neuigkeiten und Informationen zu erhalten, die dann wiederum von
Mund zu Mund weitergesagt werden sollten. Als der
Präsidentschaftskandidat der PP, Mariano Rajoy, in den Medien
verkündete, die Demonstration sei illegal, und darüberhinaus Kreise der
oppositionellen Sozialdemokraten, PSOE, beschuldigte, die Demonstration
organisiert zu haben, rumorte es in der Menge, und die Leute riefen:
“Die Stimme des Volkes ist nicht illegal” und
“Hergerufen haben uns die Mörder”. Wie sollten auch WIR
illegal sein, wo doch die Regierung uns immer weiter belog,
Informationen verdeckte und die elementarsten Bürgerrechte verletzte:
Das Recht auf Meinungsfreiheit und das Recht auf freie Information. Im
Staatsfernsehen TVE1 lief genau jetzt Cine de Barrio, eine Wiederholung
alter spanischer Filme.

In der Calle Genova verstrichen die Stunden und die Stimmung wurde immer
aufgewühlter. Immer mehr Menschen kamen hinzu, und niemand trug
Abzeichen von Parteien oder Gewerkschaften. Nur selbstgebastelte
Schilder aus Karton, mit Filzstift beschrieben. Auch sang niemand
irgendwelche Lieder, es gab nur Rufe des Schmerzes und der Indignation.
Der Einsatzleiter der Polizei gestand unterdessen einem Radioreporter
der SER, dass sie die Versammlung nicht mehr auflösen könnten, weil
mittlerweile mehr als fünftausend Menschen vor Ort seien, und es einfach
nicht möglich sei, eine so grosse Versammlung, in der sich auch viel
alte Menschen und Kinder befanden, gewaltsam aufzulösen. Jedes Mal, wenn
im Parteisitz jemand am Fenster erschien, schrie die Menge auf und
verlangte nach der Wahrheit. Und gleichzeitig kamen Nachrichten von
ähnlichen spontanen Demonstrationen aus ganz Spanien. Mittlerweile war
es neun Uhr abends, und niemand verliess den Ort, trotz der Kälte. Uns
erreichte eine Nachricht, die von allen weitergesagt wurde: Um zwölf auf
die Plaza del Sol.
Auf einmal gab es eine neue Nachricht: Zwei Inder und drei Marokkaner
sollten im Zusammenhang mit den Attentaten verhaftet worden sein. Die
Geheimdienste behaupteten das eine, die Regierung das andere. Spanier im
Ausland, Freunde aus aller Welt fuhren fort, uns mit den Nachrichten der
grössten Sender der Welt via SMS zu versorgen: Bush hätte sein Bedauern
über die Konsequenzen des Irakkriegs für Spanien ausgedrückt.
Währenddessen bedauerte unsere eigene Regierung nichts, sondern
verschwieg uns diese Informationen und rief zur Ruhe, und insistierte
darauf, dass das Volk am Abend vor den Wahlen nicht auf die Strasse
ziehen dürfe, um sich auszudrücken. Wir riefen weiter: “Wir
weichen nicht! Zeigt euch, raus auf den Balkon! Die PP ist
verantwortlich, die PP hat die schuld! Das ist EUER Krieg, aber es sind
UNSERE Toten!”.

Um zehn Uhr begannen die Leute, in Richtung Plaza del Sol loszuziehen,
ohne Anmeldung oder Erlaubnis, auf den Strassen.

Wir wollten erst einmal kurz nach Hause, um was zu essen, und etwas
warmes zum Anzuziehen zu holen, ich konnte meine Händer vor lauter Kälte
kaum noch spüren. Die Strassen in Lavapies waren leer, und als wir in
Calle Cabeza ankamen, trafen wir auf ein junges Mädchen, die vor der Tür
ihres Hauses stand und mit einem Löffel auf einen Kochtopf schlug.
Zögerlich kamen Nachbarn an die Fenster und auf die Balkone, um dasselbe
zu tun. Zunächste nur ein leises Klackern, doch plötzlich öffnen sich
die Türen und Fenster in allen Strassen und es beginnt ein
ohrenbetäubender Lärm, der sich über das ganze Viertel erstreckt. Wir
gehen auf die Plaza, die sich mit Menschen füllt, die alle auf ihre
Kochtöpfe, Pfannen, und Trommeln schlagen. Ein deutsches Fernsehteam
erscheint, während immer Menschen hinzukommen, die ohne Worte, ohne zu
rufen protestieren, und für einen wunderbaren Moment erscheint es als
schlagen wir alle denselben Rythmus. Ein düsterer, schlüssiger Rythmus,
trocken, hart, voller Wut und Verzweiflung. Und alle gehen los Richtung
Plaza del Sol, auf dem wir dann nicht einmal annähernd ankommen können,
weil ganz Madrid auf der Strasse ist. Weiterhin verbreiten sich
Nachrichten wie Lauffeuer, es kommen solidarische Nachrichten aus
anderen Städten, die von ähnlichen Demonstrationen berichten, es heisst,
in Zaragoza und in Barcelona habe es Polizeieinsätze gegen
Demonstrationen gegeben. Es heisst, die Wahlkommision würde prüfen, ob
die Wahlen abgesagt werden sollen, es heisst, die PP solle ein Videoband
erhalten haben, auf dem Al Quaeda-Sprecher sich zu den Anschlägen
bekennt. Im Fernsehen kommt nichts über uns, und im Radio, heisst es
plötzlich, sie würden die Berichterstattung über die Demonstrationen nun
beenden, um die Ruhe zu bewahren und die Situation nicht weiter
aufzustacheln. Die Zensur im 21. Jahrhundert. Die Kameras, die
Scheinwerfer und die Mikrophone der spanischen Medien werden abgebaut,
nur das kleine deutsche Fernsehteam bleibt, und wir, rufend, klatschend,
trommelnd, alle Strassen um die Plaza del Sol überfüllend. Es gibt keine
Fahnen, keine Parteien, keine Megaphone, keine Ordner, keine
Organisatoren. Die Menge beginnt sich spontan in Richtung Bahnhof Atocha
zu bewegen, die Polizei zieht sich diskret zurück. Die Strasse gehört
uns, wir gehen lang, wo wir wollen. Niemand wirft Scheiben ein, niemand
zündet Abfallcontainer an, Madrid bewegt sich auf zivilisierte Weise und
der Polizeichef befiehlt seinen Leuten, sich unsichtbar zu machen. Die
Polizei stellt die Sirenen ab, und jemand ruft zu den Polizisten, die
sich nicht trauen, uns in die Augen zu schauen: “Kommt mit
uns”. Die Parolen sind voller Wut, die Leute verlangen von der
Regierung, sie solle endlich die Wahrheit sagen, aufhören ein ganzes
Land anzulügen, das über Internet und Telefon längst mit der ganzen Welt
verbunden ist. Die spanischen Medien berichten weiterhin nicht über die
Demonstrationen und zeigen damit, auf wessen Seite sie stehen. Die
Leute halten ihre Mobilelefone in die Luft, damit die Menschen am
anderen Ende hören, was in Madrid los ist. Mehr als eine Millionen
Menschen sind auf dem Weg zum Bahnhof Atocha. Und eine weitere Nachricht
macht die Runde: Um Punkt zwölf Uhr fünf Minuten Stille. WEITERSAGEN.

Alle setzen sich hin. Stille wie auf dem Friedhof. Und keine Kameras
sind da. Tausende Kerzen sind entzündet, und plötzlich wird die Stille
von einem Ruf unterbrochen: “VIVA MADRID! Es lebe Madrid”
und alle beginnen zu rufen “VIVA MADRID! Aznar, hör zu, das Volk
ist auf der Strasse”, und die Menschenmasse bewegt sich Richtung
Kongress. Im Radio läuft nur Musik und die Fussballergebnisse. Die
Stimmen sind schon heiser geworden im Verlauf der Stunden, und die Füsse
werden lahm, aber es gibt keine Angst, keine Polizei, nur das Knattern
eines Hubschraubers über uns, und ein euphorisches Gefühl stellt sich
ein, dass wir so viele sind, dass man es nicht mehr zählen kann. Auf
einigen Pappschildern, die die Leute mit sich herumtragen, steht:
“Wir waren auch auf der Demonstration von gestern” (Die
Demonstration, zu der die Regierung aufgerufen hatte, und die sich noch
gegen die ETA richtete). Vor dem Kongress stehen Einsatzwagen, um diesen
heiligen Ort zu schützen, an dem einige wenige Entscheidungen fällen,
ohne uns zu fragen. Die Leute beginnen wieder zu rufen: “Das ist
EUER Krieg, aber es sind UNSERE Toten! Kein Blut für Öl! Sagt die
Wahrheit!”. wir gehen am Kongress vorbei, gelangen auf die Gran
Via, Richtung Hortaleza. Menschen kommen aus den Bars und Diskotheken,
stossen zu uns hinzu, fragen was hier denn bitte los sei, unter dem
ständigen Blick des Heikopters, der über uns kreist. Die Türsteher der
Discos schauen uns ungläubig an, versuchen die heiligen Orte des
Alkohols und der Unterhaltung zu schützen. Erneut gelangen wir in die
Calle Genova, vor den Sitz der PP, und die Leute, obwohl langsam müde,
rufen “Heute demonstrieren wir, morgen sägen wir euch ab! Am Tag
der Wahl wird sich´s zeigen! Mörder! Lügner”

Erschöpft komme ich nach Hause. Auf der Plaza del Sol stehen hunderte
brennende Kerzen, dutzende Blumensträusse, Plakate, Transparente,
Stimmen aus Papier, mit denen die Leute ihre Solidarität und
Menschlichkeit zeigen. Menschen knien sich hin, entzünden weitere
Kerzen. Die Stadtreinigung zeigt Respekt vor dem Schmerz einer ganzen
Stadt über ihre Toten und lässt alles stehen. Überall Transparente, auch
auf Arabisch, “No al Terrorismo! PP antworte”, Nachrichten
und Briefe von Hinterbliebenen der Toten, “Schluss mit dem Horror!
Wir wollen die Wahrheit”, vier Bettler, lehnen an einer Wand,
umgeben von Kerzen, schweigen. Auf den Schildern: “Das Volk weint,
die Regierung lügt! Papa ich liebe Dich! Lucia wir werden dich nie
vergessen! Das ist nicht unser Krieg”

Ich bin müde aber kann mich nicht von diesem Ort wegbewegen. Wenn in der
Calle Genova die Leute ihrer Wut zum Ausdruck verhalfen, dann
konzentriert sich hier ihre Trauer. Stille, entzündete Kerzen, und
Blumen, eingefroren von der Kälte der Nacht.

Das ist was in der Nacht vor den Wahlen in Madrid passierte. Und wenn in
den Medien darüber nicht berichtet wurde, so verbreite sich über das
Internet, was verschwiegen und verdunkelt werden soll. Denn etwas hat
sich in dieser Nacht geändert: Wir haben keine Angst mehr. Nicht in
Madrid, nicht in den anderen Städten, nicht in den Dörfern. Und wir
brauchen keine politischen Parteien, die zu Demonstrationen aufrufen,
denn wir haben das Internet und die Mobiltelefone, über die wir uns
erzählen, was in den offiziellen Medien verschwiegen wird. Fundamentale
Rechte, die uns die Verfassung garantiert, sind uns verweigert worden,
das Volk musste teuer bezahlen für den Kurs seiner Regierung, die in
einen Krieg für Öl gezogen ist. Ein Volk, das kein Problem mit der
arabischen Welt hatte, ein Volk, das mit Lügen und Verleumdungen vom
Kandidaten der Regierungspartei beleidigt wurde. Madrid hat gezeigt,
dass es voller Menschen aller Nationalitäten, jeden Alters und jeder
sozialen Herkunft ist, die verstehen, was passiert. Es wahr die Nacht
der wahrhaftigen Demokratie, der Souveränität des Volkes, in der die
Menschen sich auf freie Weise Gehör verschafften.

WEITERSAGEN. Es ist wichtig, WEITERSAGEN





(Originaltext findet sich auch hier:  http://acp.sindominio.net/article.pl?sid=04/03/17/1216257&mode=thread&threshold=0 )
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