ESF Paris, Europa der Plätze, Sans Papiers

Günter Melle 06.12.2003 15:44 Themen: Antirassismus
Verarbeitung des ESF in Paris
///14.11.2003: La Villette, Cité des Sciences - Sans Papiers///
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Den Nachmittag verbringe ich nur kurz im Chapitaux Mumbai, will nicht den ganzen Tag in Diskussionsrunden verbringen. Da ich am Porte de la Villette den Untergrund der Metro verlassen habe, ist der Riesenkomplex der Citè des Sciences zu passieren, eine Gelegenheit um gleich für den nächsten Vormittag den Sale Condorcet zu finden, um Gewerkschaftsvertretern zu lauschen. Die gewaltige Betonglaskonstruktion zeugt von der Megalomanie und Schizophrenie unserer reichen Gesellschaften. Auf einige hundert Quadrameter präsentiert sich eine Welt, die mit den umliegenden Banlieues nichts gemein hat. Der XIX. Arrondissement zeigt, wie überall in Paris, sein Gesicht der vielen Kulturen und ein Großteil seiner Bürger, die "legalen und illegalen", sind afrikanischer, chinesischer, vietnamesischer Herkunft. Hier sind Hochburgen der Sans Papiers und der sozialen Konflikte.

Der offizielle Sprachgebrauch lautet auch illegale Einwanderer, Ausländer in ungeregelten Verhältnissen, sie nennen sich selbst Sans Papiers oder Sans Voix: Menschen aus allen Himmelsrichtungen der Erde, die meisten aus den ehemaligen Kolonialgebieten Frankreichs, die in der Metropole Paris zu überleben versuchen. Sie tun es hauptsächlich, indem sie prekäre Arbeiten annehmen - Arbeiten ohne soziale Absicherungen. Einige von ihnen kommen freiwillig hierher, die meisten, weil sie die Not drängt, weil sie ethnischer oder politischer Verfolgung ausgesetzt sind, weil sie die Folgen des politischen und sozialen Elends zu spüren bekamen, die der französische Kolonialismus nach seiner Abdankung auf dem schwarzen Kontinent hinterließ. Wie in allen europäischen Ländern haben die Staatsorgane dafür gesorgt, dass Einreise, Aufenthalt und Arbeitserlaubnis in den vergangenen Jahrzehnten stets stärkeren Reglementierungen unterzogen wurden.

Doch dies ohne großen Erfolg. Nach neuesten Erhebungen der OIM (Internationale Organisation für Migration) hat der Strom an Flüchtlingen und Emigranten nach Europa weiter zugenommen. Von 35 Menschen auf dieser Welt verlässt einer sein Land, in der Hoffnung, ein besseres Leben führen zu können. Weltweit macht das 175 Millionen Menschen, die ihren zukunftslosen Lebensbedingungen in den Herkunftsländern entflohen sind. Auch wenn Europa die Schotten dicht zu machen versucht, sind die Deiche nicht stark genug, um in den kommenden Jahren, der Welle der Immigration standzuhalten. Europa ist neben den USA der Hauptschuldige, dass der Nord-Südkonflikt sich weiter verschärft hat. Mit Hilfe der internationalen Agenturen des Neoliberalismus, Weltwährungsfond und Weltbank untergräbt es die nationalen Ökonomien der armen Länder und ruiniert die Existenz von Milliarden Menschen. Die Flucht in die reichen Länder ist oftmals der einzige Ausweg, um Elend, Hunger und Apathie zu entgehen. Bei uns, unter oftmals lebensgefährlichen Umständen angekommen, von Schlepperbanden bis auf den letzten Centime ausgeraubt, erhalten sie sofort ihre erste Lektion in Sachen Menschenrechte. Die, so wird ihnen zu verstehen gegeben, gelten nicht für sie und sie werden in Lager eingesperrt, der Freizügigkeit und ihrer Menschenwürde, oft genug des Rechts auf körperliche Unversehrtheit beraubt.

Kader El Kadir, Maghrebiner und Mitglied der Organisation zur Verteidigung der Migranten, erklärte in einem Interview gegenüber der Tageszeitung Liberation in den Tagen des ESF: "Die öffentliche Meinung hat nur lückenhafte Kenntnisse zur Situation der Sans Papiers. Die Sans Papiers sind keine Gefahr, sie sind in Gefahr. Wir werden als illegaler Migrantenfluss definiert: Wir sind aber Millionen Frauen und Männer, die die Freuden, Schmerzen und Hoffnungen der Einwohner dieses Landes teilen. Unsere Kinder besuchen dieselben Schule wie ihre Kinder. Unsere Fabrikherren sind die gleichen wie die der Franzosen. Aber wir sind ohne reguläre Dokumente. Das bedeutet, dass unsere Löhne niedriger sind, dass wir keinerlei Rechte genießen, dass unsere Arbeitgeber uns nicht anmelden, dass sie weder Arbeitslosen-, Kranken- und Rentenversicherung bezahlen. Die Fabrikherren werden nie bestraft. Es sind wir, welche die Arreste, die Einschüchterung, willkürlichen Festnahmen und Abschiebungen zu erleiden haben... Das Europäische Sozial Forum hat deshalb für uns eine sehr wichtige Funktion. Die Problematik der Sans Papiers vollzieht sich in europäischem Rahmen: die französische Einwanderungspolitik steht sicherlich nicht isoliert da. Das Forum erlaubt uns also, aus der Anonymität hervorzutreten und uns mit anderen Realitäten der Unterdrückung und Ungerechtigkeit auseinanderzusetzen, damit wir Pläne für den gemeinsamen Kampf entwickeln können. Mittels des Forums wollen wir für uns die Möglichkeit der Meinungsäußerung wiederherstellen, denn sie wird uns in dem Land verwehrt, in dem wir leben..."

///Etwas zur Geschichte der Immigranten und Banlieues///

:::Die erste Generation der Immigranten:::

Die Bewegung der Sans Papiers geht weit zurück in die sechziger Jahre als der Algerienkrieg seinem Höhepunkt entgegenging und viele Algerier in Frankreich die Forderungen der FLN (Algerische Befreiungsfront) nach Unabhängigkeit und Selbstbestimmung vom kolonialen Stammland unterstützten. In Erinnerung daran schrieb 2001 der Mouvement de l'immigration et des banlieues: "Französisches Volk! Du hast alles gesehen, ja, du hast es mit deinen eigenen Augen gesehen. Du hast unser Blut fließen sehen. Du hast gesehen, wie die Polizei uns Demonstranten halb tot schlägt und in die Seine wirft. Die vom Blut gerötete Seine hat auch den darauf folgenden Tag nicht aufgehört, den Menschen der Comune diese gemarterten Leiber auszuspucken. Sie erinnerten die Pariser an ihre eigene Revolution, an ihren eigenen Widerstand. Französisches Volk, du hast alles gesehen, ja du hast es mit deinen eigenen Augen gesehen. Und wirst du jetzt zu sprechen beginnen oder wirst du jetzt schweigen?

::: Im September 1961 wurden 120 Algerier "in ihr Herkunftsland zurückgeschickt" :::

::: Am 6. und 7. September wurden 643 Algerier nach Vincennes gebracht, am 8. September nochmals 630. Nach offiziellen Angaben wurden im August und September 1961 insgesamt 31 000 Menschen überprüft, 19 375 nach Vincennes gebracht, 500 ausgewiesen. Diese Maßnahmen wurden zumeist mit Gewaltanwendung durchgeführt. Im Monat September wurden immer wieder zahlreiche Körper aus der Seine gefischt. :::

Das Massaker von 1961 in Paris, die rassistischen Verbrechen, die in den siebziger Jahren vorkamen, führte zur Organisierung der Immigranten (v.a. der Maghrebiner) in autonomen Bewegungen. Sie hatten zum Ziel, sich in den Vororten und den Transitstädten der Immigration, sowie am Arbeitsplatz zur Wehr zu setzen. Diese politisch-soziale Bewegung begann 1973 mit einem Generalstreik gegen die rassistischen Verbrechen, organisierte 1976 einen Mieterstreik, der Dutzende Zentren von Sonacotra, Ile de France, einbeziehen konnte. Diese Kämpfe um Recht und Würde wurden von der Staatsgewalt hart unterdrückt. Sie reagierte mit Inhaftierungen und Abschiebungen.

In den achtziger Jahren dann tritt die zweite Generation der Immigranten auf die Bühne der politischen und sozialen Bewegungen
Am 10. Mai 1981 wird Francois Mitterand neuer Staatspräsident Frankreichs. In der Anfangsperiode seiner Präsidentschaft entwickelt sich eine Bewegung von Jugendlichen, die in der sozial hoffnungslosen Situation der Immigration gefangen sind und weiterhin die gleichen Diskriminierungen wie ihre Eltern zu erdulden haben. Im Gegensatz zur Situation ihrer Eltern zeigt diese Bewegung mehr Ausdauer und Kontinuität, ist besser organisiert. Ihr Schauplätze sind Paris und Lyon, die starken Plätze der Immigration, die in den kommenden 15 Jahren zum Experimentierfeld verschiedener Initiativen werden, die sich den Rechten der Immigranten widmen. Das Debut dieser neuen Bewegung der jungen Einwanderer wird in Lyon gegeben, in dessen Banlieues der Widerstand gegen den Rassismus in der französischen Gesellschaft, sich in Emeuten (Unruhen) Bahn bricht, denen der Staatsapparat mit der üblichen harten repressiven Strategie entgegnet. Sie wird begleitet von mehreren bis heute ungeahndeten Polizeimorden an jugendlichen Einwanderern. Im ganzen Land werden Jugendliche zu Opfern eines in den Wahlkampagnen zusätzlich aufgeheizten rassistischen Klimas. Es ist der Beginn der Erfolge und des Erstarkens des rechten Front National.

"Gegen Polizei, Justiz und Presse. Wir helfen uns selbst!" ist die bis heute aktuell gebliebene Losung der Bewegungen der Immigranten und Banlieues. Sie spiegelt das Nichtfunktionieren der staatlichen Gewaltorgane, den rasanten Abbau demokratischer Rechte und den mangelnden Integrationswillen der französischen Gesellschaft wieder. Die Bewegung ist trotz des feindlichen rassistischen Klimas stärker geworden, und an die Seite der Maghrebiner gesellten sich in den neunziger Jahren die Immigranten des schwarzafrikanischen Kontinents. Die Sans Voix (die keine Stimme haben) sorgten immer wieder dafür, dass ihr Kampf um Rechte und Menschenwürde in der Öffentlichkeit wahrgenommen wurde.

///Sans Papiers 1996///

Zwei Jahre vor Seattle kündigt sich in Frankreich der Beginn einer neuen Phase der sozialen Bewegungen an, die sich weltweit vernetzt und ebenso auf Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit stößt. Es sind die Sans Papiers Africains, die mit der Besetzung der Kirche Saint-Ambrois  auf ihre Situation aufmerksam machen und für die Legalisierung ihres Aufenthaltes kämpfen. Die Aktion endet mit einer Niederlage und es ist das erste Mal in der Nachkriegsgeschichte Frankreichs, dass der Staat sich mit Gewalt Zugang zur Kirche Saint-Bernard verschafft, in der zehn Afrikaner zur Durchsetzung ihrer Forderungen nach Legalisierung des Aufenthaltes in den Hungerstreik getreten sind. Der demokratische Staat entpuppt sich immer mehr als eine "verselbständigte" Maschinerie, die weder gewillt noch in der Lage ist, auf die sozialen Konflikte der Gesellschaft adäquat zu reagieren. Aus ganz Europa und der Welt erreichen die Sans Papiers Solidaritätsadressen, die einzelnen Bewegungen, die in den 80iger Jahren im Schattendasein ihrer "isolierten" Aktionen und Kämpfe gewachsen sind, beginnen sich zur Bewegung der Bewegungen zu formieren. In Frankreich waren seit langer Zeit, gemeinsam mit den Sans Papiers und vielen neu entstandenen Bewegungen, wieder all die auf der Straße, die sich als traditionelle Sachwalter der sozialen Frage begreifen. Die sozialen Bewegungen formulieren ihre Kritik gegenüber einem Kapitalismus, der in allen europäischen Ländern seit den 90iger Jahren mit dem Zusammenbruch des "Realen Sozialismus" in die Offensive gegangen ist. Sie tun es mit sehr viel Sachverständnis, mit konkreten Forderungen und konkreten Alternativen zu einer neoliberalen Politik, die weltweit auf Deregulierung der Märkte, sowie Abbau der sozialen und demokratischen Errungenschaften setzt, die den gesellschaftlichen Reichtum zu Gunsten der ohnehin schon Begünstigten neu verteilt, welche die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter öffnet.

Im Januar 2001 zeigt sich im brasilianischen Porto Alegre eine selbstbewusste, breite internationale Bewegung, die die Herausforderung des Neoliberalismus angenommen hat und proklamiert: Eine andere Welt ist möglich. Ihre theoretische Basis ist ebenso breit gefächert, wie ihre unterschiedlichen praktischen und sozial spezifischen Erfahrungen. War noch die Losung der auslaufenden Phase der orthodoxen Studentenbewegung "Getretener Brei ist breit aber nicht stark", was immer wieder zu neuen Aufsplitterungen ohnehin schon politisch ineffizienter orthodoxer Gruppierungen führte, ist es nun die Feststellung, dass gerade Breite und Vielfalt die Stärke der Bewegung ausmachen. Und die Breite ist ebenso faszinierend wie überzeugend. Sie konfrontiert so manchen alten Aktivisten mit neuen Sichtweisen und theoretischen Schlussfolgerungen, die Althergebrachtes ins Fließen bringen, die Anregung zur neuen Suche nach der Verwirklichung der alten Sehnsucht des Menschen nach sozialer Gleichheit und Freiheit geben. Diese Sehnsucht macht sich derzeit auf allen Kontinenten breit.

Während des G8 Gipfels in Genua 2001 wurde versucht, die Bewegung durch harte Repression empfindlich zu treffen. Der Tod des Jungen, Carlo Giuliani, war eingeplant, Menschenrechtsverletzungen waren das Instrumentarium mit dem der Gewaltapparat des Staates den Gegnern des Neoliberalismus antwortete. Er probte eine Woche lang in der belagerten Stadt chilenische Verhältnisse. Der Neoliberalismus zeigte sein wahres Gesicht, seine Nähe zu Faschismus und Krieg. Der 11. September markierte die Wende zum nunmehr offenen Kriegskurs des Imperialismus. Die Überfälle der USA und ihrer Verbündeten auf Afghanistan und Irak, die Einsetzung von Kompradorenregimes sind die alten Rezepte aus der Schublade des Imperialismus, mit deren Hilfe die kapitalistische Globalisierung vorangetrieben werden soll.

Florenz 2002, das erste Europäische Sozialforum, fand im Klima des bevorstehenden Irakkrieges statt. Die überwältigende Ablehnung von Neoliberalismus und Krieg zeigte sich am 9. November 2002 auf der Abschlussdemonstration mit über einer Million Teilnehmer. Das zweite Europäische Sozialforum Paris 2003 zeigte, dass die europäische Bewegung auf sehr unterschiedliche nationale Entwicklungen zurückgreift. In dem Land, in dem aus den Redaktionsstuben von Le Monde Diplomatique heraus, das internationale Netzwerk Attac gegründet wurde, zeigte sich eine eindeutige Schwäche: die Ausrichtung des ESF ist sehr stark von den nationalen Gegebenheiten seines Standortes abhängig. Von diesem ESF gingen keine entscheidenden Impulse in die europäischen Lande, es droht die Gefahr, dass es zur alljährlichen selbstgefälligen Nabelschau und Selbstdarstellung der "Größen" und Organisationen verkommt. Der Esprit von Annemasse und Genf anlässlich des G8 Gipfels in Evian war ein wesentlich anderer als der von Paris. Hier überwog der Aktivismus, dort die "akademische" Diskussion. Wenn das ESF in Zukunft eine Funktion haben soll, dann die, die verschiedenen nationalen und lokalen Widerstände gegen die neoliberalistischen Regimes auf eine europäische Ebene zu heben. Global Village ist auch auf diesem Kontinent kein abstrakter Begriff. Der Widerstand der Bauern in der Basilikata Italiens gegen Atommülldeponien, ist auch die Angelegenheit des Bauern im Wendland. Der Widerstand der Studenten in den Städten Deutschlands gegen die Verschlechterung der Studienbedingungen, ist auch der Widerstand der Studenten an der Sorbonne, an der Universität von Reggio Calabria, von Warschau, Moskau, Budapest. Das Elend der Kinder in Rumänien, ist ebenso das Elend der Kinder der Armen und Schwachen in unseren Breiten. Der Widerstand der Sans Papiers in Frankreich, ist auch der Widerstand der Residenzpflichtigen und Illegalen in Deutschland. Der Widerstand der Prekären und Chomeur in Frankreich oder Mailand gegen vorsintflutliche Arbeitsbedingungen, ist auch der Widerstand der Prekären und Arbeitslosen in den europäischen Städten und Ländern, und sei er auch noch so schwach. Das ESF hat nur dann Bestand, wenn es sich auf diese europäische Dimension des Widerstandes ausrichtet. Dies nicht nur in "akademischen" Diskussionen, sondern in konkreten Aktivitäten, der Diskussion, Vernetzung, Organisation und des Widerstandes.

Fortsetzung: Etwas vom Widerstand, der auch uns etwas angeht - Les Intermittents e Chomeur
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Zukünftige Treffen — Andreas