Flexibility rules: 37 Jobs in 10 Jahren

passenger 30.11.2003 23:45 Themen: Soziale Kämpfe
M.T. ist 31 Jahre alt und lebt in Italien. Was Flexibilität bedeutet, hat er gründlich erfahren. Übersetzung eines Artikels aus chainworkers.org über seine Geschichte.
Flexibilitätsrekord: mit 31 hat er bereits 37 Mal den job gewechselt.

Es geschah vor einigen Jahren, kurz nach dem er den fünfundzwanzigsten Job verloren hatte und kurz bevor er den nächsten fand. Marco Tinto stellte plötzlich fest, dass sein Lebenslauf nicht funktionieren konnte, so wie er war.

"Zu viele Seiten, zuviel geschriebenes, zuviel an Allem, zuviel Chaos...". Welcher Arbeitgeber würde sich je in diesem Roman aus großen und kleinen Diplomen, Qualifizierungen, Praktika, Kursen und Referenzen orientieren können? Viel sinniger, dagegen, den Lebenslauf zu personalisieren, oder, wie Tinto selbst sagt, "ihn den Bedürfnissen des zukünftigen Arbeitgebers anzupassen". Beispiel: Wird jeman dür ein Labor gesucht? Tinto präsentiert seine technischen Referenzen. Wird eine Kraft im sozialen Bereich gesucht? Tinto breitet seine Erfahrungen als Erzieher aus. Wird ein Steward für ein Kreuzfahrtenschiff gebraucht? Tinto legt seinen Navigationsschein vor. Es hat funktioniert.

Nun lebt Marco Tinto, der 31 Jahre alt ist, mit seinen Eltern im 8. Stock eines großen Gebäudes im mailändischen Viertel Niguarda. ER hat einen wachen blick, sieht gut aus und hat soeben seinen siebenunddreißigsten job innerhalb von etwa zehn Jahren ad acta gelegt. Er bereitetsich gerade darauf vor, eine neue Kerbe in seinen Lebenslauf-Roman einzuschlagen: Koch, Teilzeitkoch, vielleicht im Ausland. Marco Tinto ist nur ein Jobjäger, - "Alles reguläre Beschäftigungen, nichts in Schwarz" – wie er betont: er ist eine Art Zelig des Arbeitsmarktes. Sein Lebenslauf gleicht dem Register einer Handelskammer. Er hat schon alles Mögliche gemacht, und sogar noch mehr. Messebau. Fabrikarbeit. Labortechnik.

Wartung von Schulgebäuden. Montagetechnik. Qualitätskontrollen. Er hat bei der Flugabfertigung in Linate gearbeitet. Auf Zügen, als Schlafwagensteward. Bei der Post. In Call-Centern. Als Animateur. Er bewegt sich innerhalb des Prekariats wie ein Fisch im Wasser. Er ist ein Profi der Arbeitsvermittlungen und –ämter sowie der einschlägigen Fachzeitschriften. Er hat Praktika und Zertifikate aller Art gesammelt. Seine Technik ist es, sagt er, "sich frühzeitig zu bewegen, die Luft beschnuppern, verstehen, wann eine Branche anfängt, zu starten, aber auch wann ein Bereich den Bach runter geht". Das seine ist das vielleicht etwas überspitzte Abbild eines Arbeitsmarktes, der den Jungen Menschen zumindest im Norden mitunter sogar Möglichkeiten bietet, aber dann größte Schwierigkeiten hat, Sicherheit und oft auch Qualität im Beruf zu gewährleisten.

Das Nomadenleben des Marco Tinto beginnt früh, als er noch die Schule für IT und Elektrotechnik besucht: "In der Freizeit verkaufte ich Litografien von Haus zu Haus". Zum Einen, um etwas Geld auf Tasche zu haben, "zum anderen, weil ich mir nicht erlauben kann, untätig zu sein", aber vor allem "aus Neugier". Er hat in Mailand gearbeitet und in vielen Ecken der Lombardei und kam bis London, als "Hotelportier". Jetzt, wo er 31 ist und zum ersten Mal davon träumt, eine Wohnung zu haben, die ihm allein gehört, gibt Marco zu, dass "das Alles anfängt, mich zu belasten", weil er sich klar ist, dass "mir ohne einen sicheren Arbeitsplatz niemand je einen Kredit gewähren wird". Aber über seine Vergangenheit ist er stolz. "Ich habe viel gesehen, ich habe viel kennen gelernt, ich habe gelernt, durchzukommen". Die bitteren Pillen haben nicht gefehlt. "Jede berufliche Situation ist eine Geschichte für sich".

"Es hat Betriebe gegeben, wo ich mich ganz wohl gefühlt habe, aber wenn ich angefangen habe zu hoffen, dass ich meine Position verbessern oder gar Karriere machen könnte, ging es immer schief. Das eine Mal trafen mich Personalkürzungen. Das andere Mal lag es an den Folgen der internen Mobilität. Ich zahlte ohne auf eine Hoffnung auf ein Entkommen für die Schwäche meiner vertraglichen Stellung". Es hat aber auch Momente gegeben, wo er es gewesen ist, der sich entschieden hat, die Koffer zu packen. "Und so gesehen, kann der Zustand eines Prekären auch von Vorteil sein", erklärt er im Ton eines Experten. Man muss sich nur organisieren können. "Der entscheidende Schritt ist es, sich mental darauf einzurichten, eine Stelle zu verlassen. Da eine Vorwarnung von 24 Stunden ausreicht, um den Anspruch auf die Abfindung zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses geltend zu machen, legt man mit den Karussell der Vorstellungsgespräche los und wenn man die absolute Sicherheit über den neuen Arbeitsplatz hat lässt man den alten job fallen und springt über zum neuen". Wie Tarzan, von einer Liane zur nächsten. Auf diese Weise hat Marco bislang kaum Arbeitslosigkeit gekannt. 2003 hat er für eine Finanzgesellschaft gearbeitet (sechsunddreißigste stelle) und für einen Call/Center.

Sicher, auch die Vielfältigkeit hat ihre Gegenanzeigen: Es kommt vor, dass sich Arbeitgeber manchmal, beim Anblick von Marcos endlosem Lebenslauf, erschrecken: "Sie fangen dann an, mich nach dem Grund für derartiges Umherirren zu befragen, und kommen immer zum Schluss, dass ich eine nicht verlässliche Person bin". Sein Vater träumt davon, dass es für ihn einen sicheren Schreibtisch und einen sicheren Lohn gäbe. Jede Zeitungsannonce ist wie der Gesang einer Sirene.
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