"Zeithistorische Umstände"

Infobüro Gera 07.07.2003 16:01 Themen: Antifa
Seit 2000 ermittelt die Staatsanwaltschaft Gera wegen 159-fachen Mordes gegen Rosemarie Albrecht. Nach Angaben der Staatsanwaltschaft hat Rosemarie Albrecht als Assistenzärztin und als Leiterin der psychiatrisch-neurologischen Frauenabteilung in der Landesheilanstalt Stadtroda zwischen 1940-42 an der Tötung von mindestens 159 PatientInnen mitgewirkt...
Seit 2000 ermittelt die Staatsanwaltschaft Gera wegen 159-fachen Mordes gegen Rosemarie Albrecht. Nach Angaben der Staatsanwaltschaft hat Rosemarie Albrecht als Assistenzärztin und als Leiterin der psychiatrisch-neurologischen Frauenabteilung in der Landesheilanstalt Stadtroda zwischen 1940-42 an der Tötung von mindestens 159 PatientInnen mitgewirkt. Sie verfasste beispielsweise gemeinsam mit dem Leiter der Anstalt, Dr. Kloos, einen Bericht über den Gesundheitszustand von Heimkindern aus Bad Blankenburg. Die Kinder waren 1941 vollständig aus dem Anna-Luisen-Stift in die Landesheilanstalt Stadtroda gebracht worden. 24 Kinder sollen im Rahmen der "Vernichtung lebensunwerten Lebens" ermordet worden sein. Die Staatsanwaltschaft beschuldigt Rosemarie Albrecht direkt dafür verantwortlich zu sein.

Alles das geschah im Rahmen des NS-"Euthanasie"-Programms, der sogenannten Aktion T 4. Ganz in der Tradition des in Jena bis heute hochgeschätzten Zoologieprofessors ErnstHaeckel, der als einer der Begründer der Theorien von "lebenswertem" und "lebensunwertem" Leben gelten muss, wurden im Nationalsozialismus Menschen, die als "minderwertig" galten, zum Zwecke der "Reinigung" des Volkskörpers von "Ballastexistenzen" ermordet. Darunter fielen nicht nur Menschen mit Behinderungen, sondern beispielsweise auch Suchtkranke, SonderschülerInnen und politische GegnerInnen.

Angezeigt wurde Rosemarie Albrecht von dem Thüringer Beauftragten für die Stasi-Unterlagen, Haschke, im März 2000. Haschke war bei der Durchsicht von Akten auf den Vorgang "Ausmerzer" aus den Jahren 1964/65 gestossen. Aufgrund von Rechtshilfeersuchen aus der BRD begann seinerzeit das zuständige MfS mit Recherchen. Rosemarie Albrecht war zu diesem Zeitpunkt bereits zur Dekanin an der medizinischen Fakultät der Universität Jena und Leiterin der Hals-Nasen-Ohren-Klinik aufgestiegen und als "Verdiente Ärztin des Volkes" ausgezeichnet worden. Das MfS schloss die Ermittlungen also wieder ab und hielt die Sache geheim.

Der Fall erinnert stark an den Fall Jussuf Ibrahim, einem Kinderarzt aus Jena, der sich am NS-Tötungsprogramm beteiligt hatte und 1950 in der DDR mit dem Nationalpreis der DDR der 1. Klasse ausgezeichnet worden war. Straßen, Kindereinrichtungen und die Kinderklinik in Jena, die nach ihm benannt waren, wurden im Jahre 2000 nach heftig geführten Debatten umbenannt.

Ob es im Fall Rosemarie Albrechts noch zu einer Anklageerhebung kommt ist unklar. Es wäre der erste und vermutlich der letzte "Euthanasie"-Prozeß in Thüringen. Die Ermittlungen gestalten sich nach Aussage des leitenden Oberstaatsanwalts Villwock schwierig, da es keine Zeitzeugen gibt. Allerdings gebe es "gewichtige Hinweise", dass mindestens "elf Kinder und vier erwachsene weibliche Patienten [...] eines nicht natürlichen Todes gestorben sind" so Villwock. Die Krankenakten liegen allerdings größtenteils vor. In Berlin wird derzeit ein Gutachten zur Quellenlage erstellt, auf dessen Grundlage dann weiter entschieden wird. Warum die Ermittlungen jetzt schon über drei Jahre andauern ist unbegreiflich. Der Landesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen in Thüringen beklagte jüngst: "Das Ganze interessiert offensichtlich niemanden mehr."

Über die Opfer ist noch wenig bekannt. Die aus Leumnitz bei Gera stammende KPD-Abgeordnete und Widerstandskämpferin Helene Fleischer (1899-1941) wurde in Stadtroda aller Wahrscheinlichkeit nach getötet. Die Textilarbeiterin und Betriebsrätin wurde 1931 in den Thüringer Landtag und 1932 in den Reichstag gewählt. Im Mai 1934 verurteilte das Oberlandesgericht Jena Helene Fleischer wegen "Hochverrats" zu drei Jahren Haft. Nach der Haft in Gräfentonna und Hohenleuben wurde sie im Mai 1937 in das Frauen-KZ Mohringen überstellt. Zu einem nicht bekannten Zeitpunkt wurde sie gesundheitlich schwer angeschlagen aus der KZ-Haft entlassen. Kurz nach ihrer erneuten Verhaftung 1941 wurde sie in die Landesheilanstalt Stadtroda eingeliefert. Das war ihr Todesurteil. Helene Fleischer, der zuvor "schwere Schizophrenie und Lungentuberkolose" diagnostiziert wurde, verstarb unter nicht geklärten Umständen am 26. Juni 1941 in der von Rosemarie Albrecht geleiteten Frauenabteilung der Landesheilanstalt.

Rosemarie Albrecht will sich zu den Vorwürfen nicht äußern und lässt über ihren Koblenzer Anwalt mitteilen, Fragen von Journalisten wolle sie nicht beantworten, es sei denn, man verspreche ihr einen "sehr objektiven Bericht" und berücksichtige die "zeithistorischen Umstände damals" und Debatten wie die über die Sterbehilfe in den Niederlanden. Eine Aussage, die bereits sehr viel über das Tatverhältnis aussagt und die an Zynismus nur schwer zu übertreffen ist.

Die strafrechtliche Verfolgung von NS-Straftätern zu fordern bleibt weiterhin notwendig , da eine Verjährung einer Verharmlosung dieser Verbrechen gleichkommt. Zunächst ist die Ächtung der Taten und die Erinnerung daran eine Selbstverständlichkeit. Sie ist auch der Versuch, zumindest in der Wahrnahme und Erinnerung den lebenden und ermordeten Opfern gerecht zu werden. Überdies ermöglicht erst eine Verurteilung, den Opfern Entschädigung einzuklagen. Ohne TäterInnen keine Opfer. Dazu schreibt Argyris Sfountouris, Überlebender des Massakers von Distomo (Griechenland), begangen von Gebirgsjägern der Wehrmacht am 10. Juni 1944: "Das ethische Prinzip solcher Prozesse liegt nicht nur in der Bestrafung des Täters, sondern in erster Linie in der Verurteilung der Tat! Dadurch erst erhält die Geschichte ihren moralischen und didaktischen Wert." Ebenso gilt es, das Ausbleiben und Vermeiden von NS-Strafprozessen in der BRD und in der DDR zu skandalisieren und wahrzunehmen, was diese mangelnden Brüche über den "Zustand der Republik" aussagen. Seit 1990 haben Re-Nationalisierungsdiskurse und Schlussstrichforderungen vermehrt gerade in der sogenannten Mitte der Gesellschaft Konjunktur. Es ist kein Zufall, dass den Opfern des 17. Juni 1953 in Jena demnächst an prominenter Stelle gedacht wird, während für die Opfer deutscher NS-TäterInnen lediglich wenige und im öffentlichen Raum unauffällige Gedenksteine existieren.
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