Was Marx am Sowjetsystem kritisiert hätte 13) Systemtod

Wal Buchenberg 17.04.2003 10:15 Themen: Weltweit
Mindestens seit 1970 begann die innere Krise des Sowjetsystems. Der Rückgang der Arbeitsproduktivität ist ein objektiver Gradmesser für die erlahmende wirtschaftliche und gesellschaftliche Dynamik und Lebenskraft der Sowjetunion.Das Sowjetsystem hatte seine Wachstumsgrenze erreicht und war seit 1970 Jahre am Absterben.
Die letzte Folge steht hier:Landwirtschaft: http://de.indymedia.org/2003/04/49054.shtml7. Erstickungstod des Sowjetsystems
7.1. Extensives und intensives Wachstum
Es ist immer wieder zu lesen, dass der anfängliche ökonomische Erfolg der Sowjetunion allein oder vor allem auf extensives Wachstum, also auf Ausdehnung des gesamtgesellschaftlichen Arbeitstages durch einfache Addition von Arbeitern und Maschinerie zurückzuführen sei. Das schließliche Scheitern der Sowjetwirtschaft hätte dann in dem Unvermögen gelegen, auf intensives Wirtschaftswachstum, also auf Steigerung der Arbeitsproduktivität umzuschwenken. Doch diese Meinung widerspricht den Tatsachen.

Steigerung der Produktivität heißt vor allem gesunkene Arbeitszeit, die ein bestimmtes Produkt erfordert. „Der Wert der Ware ist bestimmt durch die Gesamtarbeitszeit, vergangene und lebendige, die in sie eingeht. Die Steigerung der Produktivität der Arbeit besteht eben darin, dass der Anteil der lebendigen Arbeit vermindert, der der vergangenen Arbeit vermehrt wird, aber so, dass die Gesamtsumme der in der Ware steckenden Arbeit abnimmt; dass also die lebendige Arbeit um mehr abnimmt, als die vergangene zunimmt. ...
Diese Verminderung des in die Ware eingehenden Gesamtarbeitsquantums scheint hiernach das wesentliche Kennzeichen gesteigerter Produktivkraft der Arbeit zu sein, gleichgültig unter welchen gesellschaftlichen Bedingungen produziert wird. In einer Gesellschaft, worin die Produzenten ihre Produktion nach einem voraus entworfenen Plan regeln, ja selbst in der einfachen Warenproduktion würde die Produktivität der Arbeit auch unbedingt nach diesem Maßstab gemessen.


Der erreichte Grad der Arbeitsproduktivität ist auch das wichtigste materielle Kennzeichen für den erreichten Entwicklungsgrad, die Reife einer Gesellschaft. Die jeweilige Fähigkeit einer Produktionsweise zur Steigerung der Produktivität ist ihr wichtigstes Erfolgskriterium.
Der wirkliche Reichtum der Gesellschaft und die Möglichkeit beständiger Erweiterung ihres Reproduktionsprozesses hängt ... nicht ab von der Länge der Mehrarbeit, sondern von ihrer Produktivität und von den mehr oder minder reichhaltigen Produktionsbedingungen, worin sie sich vollzieht.

Die in einer Produktionsweise erreichte Produktivität des Arbeitstages bestimmt die „Fruchtbarkeit“ der vorhandenen Arbeitszeit. Rückgang der Arbeitsproduktivität heißt daher Schrumpfen der Reichtumsquelle, Rückgang der Arbeitsproduktivität heißt wirtschaftlicher wie gesellschaftlicher Rückschritt.

Wäre die Sowjetwirtschaft nie in der Lage gewesen, produktiver, also zeitsparenderm zu produzieren, sondern hätte nur immer mehr Menschen in ihre Industrien eingesaugt und dadurch die Produktion gesteigert, hätte es tatsächlich nie wirtschaftlichen Fortschritt in der UdSSR gegeben. Das Experiment Sowjetunion wäre von Anfang ein Misserfolg gewesen.

In den Anfangsjahren der sowjetischen Industrialisierung war jedoch die Arbeitsproduktivität deutlich schneller gewachsen als die Zahl der Arbeiter. Im Zeitraum von 1926-1929 wurde das Industriewachstum im Staatssektor um 70 % gesteigert, gleichzeitig nahm die Arbeiterzahl nur um 23 % zu . Also stieg in dieser Zeit die sowjetische Arbeitsproduktivität mit 47 % deutlich schneller als das extensive Wachstum (plus 23 %) durch Vermehrung der Arbeiter.
Die Herstellung eines sowjetischen Großpanzers T-34 erforderte zum Beispiel im Jahr 1941 8.000 Manntage, aber nur 3.700 Manntage im Jahr 1943.

Nach westlichen Angaben stieg die Arbeitsproduktivität in der UdSSR bis in die 70er Jahre schneller als in den USA und erreichte damals 50 % der amerikanischen Produktivität. Danach konnte der Abstand in der Produktivität nicht weiter verringert werden, sondern blieb ungefähr gleich groß.
In Arbeitszeit ausgedrückt heißt das, dass die Arbeiter in der Sowjetunion zur Herstellung des gleichen Produkts rund doppelt so lange arbeiten mussten wie die Arbeiter in den USA.

Neuere Berechnungen zeigen, dass erst seit 1970 die Arbeitsproduktivität sank. 1970 begann der ökonomische Erstickungstod der Sowjetunion, der durch extensives Wachstum nur hinausgezögert wurde.

Tabelle 6: Extensive Wachstumsraten


Zeitraum>UdSSR>USA
1966 – 1970>+ 4,1>+ 1,5
1971 – 1975>+ 4,2>+ 0,7
1976 – 1980>+ 3,6>+ 1,4
1982>+ 3,1>- 1,2

Tabelle 7: Intensive Wachstumsraten


Zeitraum>UdSSR>USA
1966 – 1970>+ 1,1>+1,4
1971 – 1975>- 0,5>+0,3
1976 – 1980>- 0,8>+0,4
1982>- 1,1>-1,5

Mindestens seit 1970 ging in der Sowjetunion die wirtschaftliche Produktivität zurück. Mindestens seit 1970 begann die innere Krise des Sowjetsystems. Der negative Produktivitätsfortschritt ist ein objektiver Gradmesser für die erlahmende wirtschaftliche und gesellschaftliche Dynamik und Lebenskraft der Sowjetunion. Das Sowjetsystem hatte seine Wachstumsgrenze erreicht und war seit 1970 Jahre am Absterben.

Im Einzelnen lassen sich für diese nachlassende Produktivität viele Einzelfaktoren finden. Fest steht, dass dabei Mangel an menschlichen Ressourcen wie z.B. Mangel an qualifizierten Kopfarbeitern keine Rolle gespielt hat, wie die Tabelle 8) zeigt.

Tabelle 8: Wissenschaftler und Ingenieure
(pro 10.000 Beschäftigte)

Zeit>UdSSR>USA
1950>14,7>26,2
1960>27,5>55,8
1970>66,0>61,5

Mit relativ wenigen Wissenschaftlern und Ingenieuren hatte die junge Sowjetwirtschaft in ihrer Frühzeit mehr technische Verbesserungen und Produktivitätssteigerungen erreicht als mit einer relativ hohen Zahl in ihren späten Jahren. Nicht die Anzahl der Wissenschaftler und Ingenieure war für die wirtschaftliche Dynamik entscheidend. Die sowjetischen Werktätigen verfügten insgesamt über den nötigen Sachverstand für eine Verwissenschaftlichung und Modernisierung der Produktion, aber die Planbürokraten konnten und wollten der Initiative der sowjetischen Werktätigen keinen Raum geben, weil das ihr wirtschaftliches und politisches Machtmonopol untergrub.

Die Planbürokraten tätigten Investitionen fast nur noch in Neuanlagen von ganzen Fabriken, die mit ihren bürokratischen Methoden leichter zu kontrollieren waren als die Modernisierung schon vorhandener Fabriken. Das war zu Beginn anders. Im Jahr 1928/29 gingen nur 30 % der industriellen Investitionen in Neugründungen von Fabriken.
Die sowjetischen Betriebe durften kaum eigene Forschungs- und Entwicklungsabteilungen unterhalten. Innovationen waren allein Sache der Zentrale, die jede einzelne Verbesserung der Produktionstechnik oder eines Produkts erst akzeptieren und in den Plan aufnehmen musste. Nicht die kombinierte Intelligenz von Millionen sowjetischen Werktätigen zählte, sondern nur die Intelligenz von einigen zehntausenden verbeamteten Wissenschaftler und Ingenieure in den zentralen Forschungslabors.

Jede akzeptierte Innovation erforderte aber viele weitere Änderungen in den Plänen der Zuliefer- und Abnehmerbetrieben wie bei der Preisfestsetzung. Innovationen erleichterten vielleicht die Arbeit der Werktätigen oder verbesserten ein Produkt – für die Bürokraten vermehrten Innovationen die Arbeit und fielen ihnen zur Last. Die Existenz der Planbürokratie selber wurde zum Hindernis für Innovationen und Produktivitätsfortschritt. Die Existenz der Planbürokratie selber wurde zur Ursache für wirtschaftliche Stagnation und wirtschaftlichen Rückschritt.

Jede Innovation in bestehende Sowjetbetrieben gefährdete die Erfüllung des laufenden Planes, der eine volle Auslastung der Kapazitäten voraussetzte, denn Produktionsumstellungen, d.h. Verbesserungen in der Produktionsweise wie Verbesserungen beim Produkt, machen zunächst Produktionsunterbrechungen unvermeidlich. Die Prämienvergabe war aber an die Erfüllung der Jahrespläne gebunden.

Außerdem richteten sich Gehalt und Prämien von leitenden Managern in den Unternehmen nach der Lohnsumme, also der Anzahl der Arbeiter. Direktoren, die die Produktion effektivierten und dadurch Arbeit einsparten, kürzten sich das Gehalt.
Gorbatschow veranschlagte im Jahr 1986 den Anteil der sowjetischen Fabrikanlagen, deren Produktivität fortgeschrittenes Weltniveau erreicht hatte, auf nur 13 - 15 Prozent der Industrie.

7.2. Bringt Einsatz von Computern die Rettung?
Es gab im Westen Stimmen, die meinten, dass die Computertechnik der sowjetischen Planungsbürokratie eine neue Daseinsberechtigung und Legitimation verleihen könne, weil sie mit Computern endlich all das leisten könne, woran sie bisher gescheitert war.

So meinte Michael Kaser : „Echte Änderungen der Koeffizienten erfordern so viele Wiederholungen, dass sie die Planbüros normalerweise nicht bewältigen können, solange nicht mehr Computer in der UdSSR allgemein verfügbar sind.
Computer verschoben jedoch nur den Grenzwert, bei dem die Planbürokraten in der Datenflut erstickten. Computer beseitigen diese Grenze nicht. Tatsächlich sind Computer vielmehr eine technische Basis für die Demokratisierung aller Entscheidungen, weil jeder Computer dezentral die Zentralisierung aller Daten ermöglicht. Mit dem Computer hat grundsätzlich jeder Zugang zu allen gesellschaftlichen Daten - wenn diese nicht künstlich unter Verschluss gehalten werden.

Kapitalismus und Sowjetsystem bedürfen und bedurften wie jede Klassengesellschaft vor ihnen für die Zentralisierung und Auswertung der für Wirtschaft und Gesellschaft wichtigen Informationen noch einer Personalisierung in Gestalt einer zentralen Bürokratie- und Politikerklasse.

Mindestens seit es allgemein zugängliche Computer gibt, ist jedoch jede Bürokratie und jede herrschende Klasse überflüssig geworden: Ökonomen und Manager könnten alle ihre Erkenntnisse z. B. ins Internet stellen und jeder Einzelne von uns hätte Zugang zu allen Daten, die für den Gang der Gesellschaft von Bedeutung sind. PCs sind eine sachliche Grundlage für die Abschaffung jeder herrschenden Klasse, seien es die Staatsbeamten und Berufspolitiker im Kapitalismus oder die Planbürokraten im Sowjetsystem. Eine weitere Grundlage dafür ist ein ständig steigendes Bildungsniveau der Gesamtbevölkerung. In den entwickelten kapitalistischen Gesellschaften besteht kein Unterschied mehr zwischen dem Bildungsstand der Herrschenden und dem der Beherrschten. Der Informationsvorsprung unserer Politiker- und Managerklasse wird künstlich durch Monopolisierung von Informationen – durch Geheimhaltung – aufrechterhalten.

wird fortgesetzt, Wal Buchenberg, 17.4.03.
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Ergänzungen

Der Kapitalismus sitzt auf einem Kartenhaus

Gabriela 17.04.2003 - 10:33
Wer weiß zum Beispiel, dass die DDR zum Ende hin nur halb so hoch verschuldet war (17% ihrer Jahresproduktion - Auslandschulden) wie die USA heute (35% der Jahresproduktion in der USA, so hoch sind die Auslandsschulden)?

Wer sich mit der Thematik des Geldes und des Zinzes beschäftigt, leider hat da kaum jemand Basiswissen, wird spüren, wie sehr das Kartenhaus, in dem wir sitzen, schon wackelt.

Sehr informative Seite: www.geldcrash.de

Aber auch der Kommunismus funktioniert nicht!

Hotzenplotz 17.04.2003 - 13:50

download?

fiete 17.04.2003 - 15:06
Hallo lieber Autor!
Erstmal Dank für deine interessanten Beiträge!!
Könntest du die komplette Reihe "was marx am sowjetsystem kritisiert hätte..." Teil 1 bis ? eventuell irgendwo als kompletten Download anbieten?
Wär´super!!

Download

Wal Buchenberg 17.04.2003 - 16:23
Soweit der Text hier vorgestellt ist, wird er auf meiner Homepage MIT ALLEN FUSSNOTEN zur Verfügung stehen.
(Wie hier ein Oberrevolutionär spitz gekriegt hat, soll es außerdem als Buch erscheinen. Aber da muss ich erst mal einen Verlag für finden. Bis jetzt hab ich keinen.

(Anmerkung für meinen Intimfeind, den Genosse Revolutionär: Der Text bleibt trotzdem im Internet.

Genauso, wie meine Kurzfassung von Karl Marx: "Das Kapital" als Buch erschienen ist, trotzdem aber auch auf meiner Homepage steht.
Wie die Homepage eine Adresse braucht, und ein Mensch einen Namen, so braucht ein Buch einen Titel. Den Titel habe ich quasi ins "Geburtsregister" eingetragen.
Im Gegensatz zu dir denke ich: Namen und Adressen werden auch durch die revolutionärste Revolution nicht abgeschafft!

Gruß Wal

Ein Verlag muss her - besetze einen

sven 17.04.2003 - 18:05
Du redest von 2 Personen, ich bin Dein "Oberkluges Hmm",
Wenn Du Namen von anderen Personen benötigst, um das von
Dir gesagte zu unterstreichen damit es "wichtiger"
erscheint und Deinen Bildungsgrad in die höhe treibt,
so brauchst Du das wohl, und es tut mir denn auch eher
leid für Dich.
Persönliche Angriffe erspare ich mir an dieser Stelle,
du füllst den Raum hier und auch ansonsten reichlich
Damit aus.

Tschüss

Verteidigung von Wal Buchenberg

extremo 17.04.2003 - 21:21
Man nehme nur ein Text von Wal Buchenberg oder eine Abhandlung und man erkennt sofort, dass hier niemand redet, der arrogant ist, sondern der die Sache mit ernsten Augen betrachtet.

Frage an Autor

ww 18.04.2003 - 08:37
Du redest davon, dass das Sowjetsystem ersticken musste, weil die Produktivitaet nicht weiter gesteigert werden konnte.
Wenn ich es richtig verstehe, bedeutet Produktivitaetssteigerung unter anderem, dass manche Arbeiter fuer einen Betrieb ueberfluessig werden.
Entweder sind sie dann arbeitslos, was fuer die Gesellschaft nicht so toll ist, oder sie werden in anderen (neuen) Betrieben eingesetzt, um die Gesamtproduktion weiter anzuheben.

Meine Frage: wo soll das denn hinfuehren? Steigerungen bis in alle Ewigkeit? Ist unser Lebensstandard nicht irgendwann hoch genug? (in Deutschland schon lange) Und wo sollen die Ressourcen herkommen um die Produktion unbegrenzt zu steigern? Waere es nicht das gesuendeste (betrachten wir den unseren menschlichen Koerper) nur eine Zeit lang zu wachsen und bei Erreichen eines bestimmten Niveaus zu stagnieren?

Antwort

Wal Buchenberg 18.04.2003 - 09:21
Hallo,
das selbstgesteckte Ziel des Sowjetsystems war es, den Kapitalismus "einholen und überholen". Die Methode dazu kann nur in Steigerung der Produktivität bestehen.
Wenn die Arbeitsproduktivität zurückfällt, dann fällt das Sowjetsystem hinter seinen Konkurrenten zurück.

Die Arbeitsproduktivität ist daher der eigene Maßstab für Erfolg oder Misserfolg des Sowjetsystems - so wie Profitproduktion der Maßstab für Erfolg oder Misserfolg des Kapitalismus ist.

Wo die Steigerung der Produktivität hinführt:
Ohne Kapitalismus und Sowjetsystem führt sie zur allgemeinen Senkung der notwendigen Arbeit.
Zur "Abschaffung der Arbeit" bis auf das Minimum.

Wäre die Arbeit auf alle verteilt und wären wir zufrieden mit dem Lebensstandard von 1850, dann müsste jeder noch rund 3 Stunden in der Woche arbeiten. (Seit 1850 wurde die Arbeitsproduktivität um das 30fache gesteigert.

Gruß Wal

Danke

ww 21.04.2003 - 08:40