Die Bewegung der Bewegungen hat mit 60.000 Leuten demonstriert

R.F. 23.11.2002 22:32 Themen: Soziale Kämpfe
Mehr, als das, von dem wir geträumt haben.

Die Demonstration in Kosenz hat einen Zulauf gehabt, der alle Erwartungen übertroffen hat. Es ist ziemlich zuverlässig von 60.000 Leuten die Rede, nach Polizeiangaben waren es 30.000. Wenn man bedenkt, dass die Menschen in Italien sehr wenig Geld haben, und dass Cosenza im tiefsten Süden des Landes liegt, was für viele eine weite Reise für diesen Tag bedeutet hat, ist das Resultat der Mobilisierung noch größer. Erste Infos und erste Bilder untenstehend
Die Stadt hat mit offenen Armen die vielen Menschen empfangen, die nach Kosenz gekommen sind, um für die Freilassung der Gefangenen zu demonstrieren. Aus den Fenstern und von den Balkonen lächelte die Bevölkerung unentwegt den Demonstranten zu, viele Einwohner gingen auch mit auf die Straße und schenkten den Leuten Blumen. Ein spontanes Bürgerkomittee organisierte die kostenlose Verteilung lokaltypischer Süßigkeiten an die Leute auf der Straße. Die Stadt selbst war zugepflastert mit verschieden Plakaten, die die DemonstrationsteilnehmerInnen Begrüßten. Einen ließ die von einer jungen, linken Bürgermeisterin geführte Kommunalverwaltung Drucken, mit der Aufschrift: "Willkommen Leute. Die Stadt Kosenz begrüßt die Demonstranten vom 23.November." Auch stellte die Kommunalverwaltung einiges an Service für die DemonstrationsteilnehmerInnen bereit, binnen weniger Tage wurden Gemeindeinfrastukturen für kostenlose Übernachtungen und Mobilität bereitgestellt. Die Bürgermeisterin hat in der ersten Reihe mitdemonstriert, mit allen Kommunalabgeordneten, den zwei Freigelassenenen und den Verwandten der Inhaftierten. Aus den Fenstern warfen ihr StadtbewohnerInnen rote Rosen zu. Das haben italienische Bürgermeister an verschiedenen Orten in letzter Zeit immer öfter getan. Das ist nicht unerheblich, und erst recht nicht verlogen, weil es ein Ausdruck eines in Italien wachsenden Phänomens der bewussten sozialen Politisierung von engagierten und mitunter sehr mutigen Kommunalbeamten ist, die sich nicht als Parteipolitiker begreifen, sondern als VertreterInnen der BürgerInnen. Vor dem Krankenhaus Ospedale dell`Annunziata stellten sich die dort tätigen Nonnen auf und applaudierten begeistert dem vorbeiziehenden Demozug [Anekdote zwischendurch: höchste kirchliche Kreise griffen im Vorfeld von Florenz den Vorstand der italienischen Äbtissinnen empfindlich an, weil sie ihre Mitschwestern zur Teilnahme am Europäischen Sozialen Forum animiert hatten] Aus ganz Italien schlossen sich u.a. linksorientierte Hools der Demonstration an, sowie Delegationen aus allen Teilen der Antiglobalisierungsbewegungen von Florenz, der vielen Basisdemokratischen und -gewerkschaftlichen Initiativen, des Medienaktivismus, der sozialen Zentren und so weiter an. Auch Arbeiter der besetzten Zanon Fabrik in Selbstverwaltung in Argentinien und eine Delegation der Arbeiter von Termini Imerese, die verzweifelt um die Erhaltung ihrer Arbeitsplätze kämpfen, waren dabei. In mehreren Städten gab es parallel zur Demonstration Präsidien und Flugblattaktionen, was auch an vielen Orten morgen weiter stattfinden wird.. Wegen einer Flugblattaktion im norditalienischen Städtchen Pinerolo wurden die Leute, die am Marktplatz Flugblätter verteilten, von der politischen Polizei Digos erkennungsdienstlich behandelt. Das durch die Ermittlungen kriminalisierte Radio GAP sorgte volle Kraft voraus für intensive Direktübertragung von Redebeitägen, Interviews und O-Tönen aller Art, die im ganzen Land von sehr vielen mit großer Anteilnahme aufmerksam verfolgt wurde. Die Zuhörer bekamen u.a. Statements und Interviews eines der freigelassenen Gefangen mit, vom Vater der Verhafteten 31-jährigen Radiomacherin, die seit gestern in den Hausarrest verlegt wurde, von Angehörigen sozialer Zentren, von Stadtbewohnern, von Anwälten der Gefangenen, von DemonstrationsteilnehmerInnen usw. Die Stadtbewohner ließen Radio Gap in ihre Häuser und äußerten sich auch. Als die Demonstration den Ort der Abschlusskundgebung erreichte, erhob sich ein riesiger Applaus, um die no globals zu begrüßen, während am Balkon des Rathauses plötzlich ein Transparent auftauchte, auf dem stand: "Friede und Gerchtigkeit werden sich küssen". Der Demonstrationszug wurde lediglich von Verkehrspolizisten begleitet, am Bahnhof, an dem die Sonderzüge ankamen, war allein die sonst auch anwesende Bahnpolizei zugange. Die "richtigen" Demonstrationspolizeien waren in Zivil aber doch vorhanden. Am Vorabend der Demonstration stellte sich auch der Erzbischof von Kosenz mit einer wohl ziemlich dezidierten "Gebetswache" auf die Seite der Demonstranten. Das von Vertrauensleuten Berlusconis kontrollierte Staatsfernsehen spricht hartnäckig von 15.000 Leuten. Diese Angabe spricht Bände, weil die Erfahrungen zeigen, dass bei solchen Angaben die Wirklichkeit einem Vielfachen des Behaupteten entspricht. Berlusconi selbst ging ins Stadion sich das Spiel der Mannschaft seiner Heimatstadt Milan angucken
und ignorierte damit die Riesenveranstaltung. Die Leute aber, die in Kosenz sind, werden sich heute noch viel erzählen, einander kennenlernen, sich austauschen und überlegen, wie es jetzt weitergeht, da die Gefangenen noch lange nicht frei sind und es inzwischen sogar um mehr geht, als nur die Entlassung der Betrfffenen zu erkämpfen.

Das für die Demonstration errichtete IMC Kosenz hat um 17.58 Uhr einen kurzen Indymedia-Beitrag veröffentlicht, den ich hier wiedergebe:

Weit mehr als wir uns erträumt haben.

Der Marsch und die Ekstase

Heute durch die Straßen von Kosenz zu wandeln, das grenzt an einer ekstatischen Erfahrung.
Wie es noch nie zuvor geschehen war, rückt eine ganze Stadt zusammen, umarmt und gibt einer Bewegung einen Zungenkuss.
Kurvenreich schlängelt sich der Demonstrationszug durch die Stadtviertel, zwischen dem Lächeln und dem Applaus der Leute an den Balkonen, zwischen den Transparenten, die an den Fenstern hängen, um eine "globale", spontane Anteilnahme kundzutun.
Ein Greis ist auf mich zugegangen und hat mir die Hand gegeben.
Er hat sich bei allen, die am demonstrieren waren, bedanken wollen, weil sie ihm die Möglichkeit gegeben hatten, seine Stadt so zu erleben, wie er es sich immer geträumt hatte.
Er hat sich dafür bedankt, dass er all das noch sehen konnte, bevor er stirbt.
Kosenz ist heute eine freiere Stadt, und mit ihr eine ganze Welt, die von hier aus gesehen aussieht, als wäre sie anders als zuvor.

Kommentar 1: Ich bin so stolz und so froh, Teil dieser Bewegung zu sein.... wir fliegen weit oben.

Kommentar 2: Ich konnte nicht dabei sein, aber es ist, als wäre ich da gewesen. Ich habe den ganzen Nachmittag die Demo verfolgt. Danke vor Allem dem wunderbaren Kalabrien, das zu oft versehrt und vergessen wurde. Danke den Kalabresen. Eine Kraft, die nicht nur von allen Anwesenden kommt, sondern auch von denen, die euch aus der Ferne in diesen Stunden friedlichen "Kampfes" gefolgt sind. ALLE FREI UND ZWAR SOFORT.

Bilder:

 http://italy.indymedia.org/news/2002/11/117038.php

 http://italy.indymedia.org/news/2002/11/117060.php

 http://italy.indymedia.org/news/2002/11/117084.php
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Ergänzungen

demo in berlin

malte 24.11.2002 - 15:07
parallel zur demonstration in cosenza (und gleichzeitig mit der silvio-meier-demo) fand auch in berlin eine kleine aktion vor der italienischen botschaft statt. unter teilnahme der gruppe "global voice" und attac-vertreterInnen entrollten rund 20 deutsche und italienische demonstrierende ein spruchband mit dem spruch "uns wegen subversion anklagen, um nicht ueber die neue welt im bau zu sprechen" (eine etwas holprige uebersetzung des italienischen slogans "accusarci di sovversione per non parlare del mondo in construzione"). fotos unter
 http://italy.indymedia.org/news/2002/11/117120.php

kleine ergaenzung zum artikel: die beteiligung von buergermeisterin und kommunalpolitikern ergibt sich auch aus der tatsache, dass cosenza eine "linke" stadt im sonst postfaschistisch-regierten calabrien ist, und ist nicht zwingend ausdruck eines parteiunabhaengigen lokalen selbstbewusstseins gegenueber den zentralbehoerden - leider.

@RF

palästina-freund 24.11.2002 - 15:58
danke für die übersetzung, halte uns bitte weiter auf dem laufenden.
liebe u. kraft für die ital. genossInnen