Antirassistischer Einkauf

Wie geht das? 08.11.2002 21:44 Themen: Antirassismus
Bereits im Sommer hatte ich es auf Indymedia gesehen, es gibt eine Initiative die Flüchtlingen dabei hilft die täglichen Schikanen der staatlichen Gesetze zu unterlaufen, und zwar beim einkaufen!

Ok, fertig, das erste mal seit Langem, daß ich vor 19 Uhr mit dem Einkaufen fertig bin und gleichzeitig grinsend aus dem Supermarkt gehe.
Tatort:
"Extra" Markt
Schönhauser Allee 10-11
Berlin

Tatzeit:
Freitag 8.11.02
16:00 - 18:00

Tatmotiv:
Verachtung für Unterdrückung, Staat und Kapital; Hilfbereitschaft Benachteiligten gegenüber


Hintergründe der Tat:

Bereits im Sommer hatte ich es auf Indymedia gesehen, es gibt eine Initiative die Flüchtlingen dabei hilft die täglichen Schikanen der staatlichen Gesetze zu unterlaufen, und zwar beim einkaufen!

Flüchtlinge in Berlin erhalten kein Geld sondern Gutscheine oder Chipkarten die sie nur erschwert einlösen können. Eine vierköpfige Familie erhält laut Flugblatt nur 532 Euro für Essen und Kleidung im Monat und das auf einer einzigen Chipkarte!
Inwieweit diese Sonderbehandlung nicht nur sehr umständlich sondern auch äußerst demütigend ist, kann ich hoffentlich einigermaßen im folgenden vermitteln.

Es gibt nur wenige Läden, die diese Karten annehmen. Diese Läden sind verhältnismäßig teuer. "Extra" ist eine Ladenkette die von den Preisen, Produktpalette und vom Ambiente (einlullende Fahrstuhlmusik, Mc Donald's-Lichtstärke) in etwa "Kaisers" entspricht.


Tathergang:

Ich gebs zu, ich kaufe nicht gerne ein, als Verbraucher bin ich wirklich schlecht, im Gegenteil, ich brauche nicht viel und kaufe am liebsten noch weniger. Der Hunger treibt mich meist erst am Samstag kurz vor 16 Uhr zum naheliegendsten Supermarkt um die Ecke, eine Filiale von "Extra".
Warum ich so ungern in diese sterile Abfertigungshalle gehe? Vielleicht weil ich ungern Konzerne unterstütze oder Obst vom anderen Ende der Welt kaufe das mit Flugzeugen (?) oder wie auch immer hergeschafft wird? Oder weil die meist weiblichen, von Desinteresse und mechanischem Allltag zermürbten Supermarkt-Bediensteten in Ihren ausdruckslosen Augen das ganze Elend des gegenwärtigen Systems wiederspiegeln und ich Ihnen ganz egal oder ein Ärgernis bin? Wie auch immer, ich gehe nicht gern einkaufen.
Vielleicht gehe ich mal beim Food-Coop einkaufen oder beim Bio-Laden wenn ich mal mehr Zeit und Geld haben sollte, bis dahin... kaufe ich eigentlich am liebsten beim etwas überladen und unaufgeräumt wirkenden Vietnamesen auch um die Ecke, obwohl er wohl etwas teurer zu sein scheint. Nur, nicht immer genügt dessen Auswahl und der Laden ist eng, eine Kasse, hmmm. Jedenfalls kaufe ich bei Menschen ein, nicht bei einem Konzern und ich weiß, die meisten Vietnamesen sind so Ihrer Deportation nach der Wende entgangen indem sie sich eine Existenzgrundlage selber geschaffen haben. Und weil es Ihr Laden ist, sind sie einfach netter. Ebenso wie bei den ganzen Imbissen mit dem leckeren Essen.

Die "Extra"-Filiale ist zwar nicht die bei mir um die Ecke aber drei Ecken weiter, also fahre ich ganze 5 Minuten mit Fahhrad dahin und sehe schon beim Ankommen den halb umlagerten Infotisch und lasse mir bereitwillig ein Flugblatt überreichen mit der Frage: "Was tue ich um mitzumachen?" Die etwas unerfreuliche Antwort: "Geh an die Kasse mit der längsten Schlange, das ist die Richtige". Tja, Flüchtlinge haben wohl Geduld nötig. Eine zweite Aktivistin rät an der Kasse nach Flüchtlingen Ausschau zu halten die ja doch meist erkennbar seien.
Ich fühle mich dann etwas allein gelassen, hatte ich doch gehofft die Sterilität des Einkaufens ein Wenig zu überwinden und nebenbei vielleicht mit einem Flüchtling zu plaudern, allerdings wäre es mir schon etwas peinlich die teuren Markenprodukte in den Wagen zu packen angesichts von einem Menschen, der nur über einen Bruchteil meines Geldes verfügt... Wieviel ist 532 geteilt 4?
Gut, ich laufe schnell durch die Gänge und kaufe das übliche Zeug von Großkonzernen wie Nestle oder aud Südafrika herangekarrt, versuche möglichst industrielle Zusatzstoffe zu vermeiden wie Geschmacksverstärker etc. die oft zu Allergien und schleichender Vergiftung führen, wie etwa der Süßstoff Aspartam der auf Druck der Industrie zugelassen wurde, seit Jahrzehnten aber als toxisch und krebserregend bekannt ist.
Dennoch ich habe ein gutes Gefühl, endlich hat mein antiemanzipatorisches Handeln des kapitalistischen Alltags einen Sinn, endlich kaufe ich nicht nur egoistisch und entfremdet für "mich" ein. Ach so, heute doch nicht ganz für mich, ein Wein wäre nicht schlecht für einen Gast der nachher vorbeischaut.
Naja, Seife finde ich zwar nicht, hab aber keine Lust mehr auf diesen sterilen Ort und will an die Kasse... ups, alle Kassen haben gleichlange lange Schlangen... Gut, ich bitte meinen Vormann meinen Wagen mitzuziehen und finde dennoch keine Seife und keinen Menschen den ich fragen kann, denn natürlich ist es wegen der alltäglichen Entfremdung nicht gerade üblich andere Einkaufszombies nach etwas zu Fragen.

Naja, lange Schlange und kein Mensch zum Quatschen aber wenigsten hab ich ja Lesestoff, das Flugblatt... aber leider macht der mir wenig Freude als ich lese, daß nur an ausgewählten Kassen mit der Chipkarte bezahlt werden kann... ist das an meiner Kasse überhaupt möglich? Woran erkenne ich das? Habe ich jetzt umsonst gewartet? Soll ich jetzt ganz normal bezahlen (wäre ich ein Flüchtling ginge das wohl nicht, fällt mir ein)? Langsam geht mir das auf die Nerven, ich werde doch nicht normal bezahlen, ich bin doch absichtlich wegen dem antirassistischen Einkaufen hier. Ich versuche Flüchtlinge oder Aktivist/inn/en zu erblicken und nachdem das geschehen ist Blickkontakt zu finden, klappt aber nicht... hmmm... ok, das reicht, ich lasse meinen Wagen stehen (jetzt sind alle 5 Kassen offen und ich bin weit vorne nach 10 Minuten oder so) gehe an der Kasse vorbei und spreche zwei Aktivistinnen an und die sind sichtlich erfreut und gleich organisatorisch und persönlich zur Stelle. Chipkarten, PINs und Randbemerkungen wandern zwischen den beiden und nun gehe ich mit einer netten Aktivistin mit pinkfarbenen Haaren zurück zu meinem Wagen.
Als erstes sagt sie mir, die Weinflasche bemerkend, Alkohol dürfe nicht gekauft werden, aber vielleicht ginge es trotzdem, denn die Kassiererinnen seien schon so gestreßt...
Ach so, Flüchtlinge werden entmündigt und wie Kinder behandelt, sie dürfen kein Alkohol kaufen...
Ich sage es sei mir egal, denn inzwischen ist mein Wunsch einen vollständigen Einkauf nach Hause mitzunehmen dem Wunsch den Flüchtlingen zu helfen zum Opfer gefallen. Ich unterhalte mich also mit der netten Aktivistin über die Resonanz der Aktion und sonstiges zum Thema und da höre ich schon die Kassiererin sagen "Zahlen sie mit Karte?", offenbar ist meine pinkhaarige Begleiterin schon als mutmaßliche Chipkarten-Kundin berüchtigt...
Nur, die Kasse hat kein Lesegerät für die Karte... Pinkie (von mir selbst gewählter Deckname für die mutmaßliche "gewaltbereite Autonome" aus der "linksextremistischen Szene") meint, daß Flüchtlinge normalerweise an meiner Stelle zu dieser geschickt worden wären, egal ob diese als einzige eine lange Schlange hätte und alle anderen frei wären...

Also, meinen Wein darf ich als Nicht-Flüchtling getrennt zuerst bezahlen...
Dann gibt es einiges durcheinander, die Kassiererin geht zur Kollegin rüber, dort PIN eintippen (Pinkie geht mit rüber, dann die andere Aktivistin die die anderen Karten verwaltet...), Kassiererin wieder zurück, Pinkie auch - nach der ersten Milch streikt die Kasse, geht nicht auf, offenbar computergesteuert, stürzt ganz ab (Windows?), Kassiererin telefoniert, sie soll neu starten per Ausschaltknopf, der Reboot dauert laut Aussage "2 Minuten". Die Schlange hinter mir: etwas ratlos verzogene Gesichter. Mein Gesicht: grinst. Mein Kommentar: "Jetzt habe ich wohl die Kasse sabotiert, hehe." Pinkie: grinst, entschuldigt sich aber vorsichtshalber für die lange Wartezeit. Ich erkläre ihr nochmal, daß ich ja extra deswegen da bin und es mir nichts ausmacht. Reboot fertig, zwischenzeitlich noch Hektik und dann fertig, Pinkie muß noch unterschreiben und ich muß der anderen Aktivistin noch das Geld geben, es war etwas mehr als sonst, denn ich habe mich dazu hinreißen lassen überteuerte Akkus zu kaufen, hatte ich doch unterschwellig das Gefühl, je mehr ausgeben desto mehr helfen. Inwieweit ich damit den Kapitalismus/überteuerte Läden/Läden die an diskriminierenden Sondergesetzen profitieren unterstütze verdrängte ich erstmal.

Ok, fertig, das erste mal seit Langem, daß ich vor 19 Uhr mit dem Einkaufen fertig bin und gleichzeitig grinsend aus dem Supermarkt gehe.

Ich drücke Pinkie noch Aufkleber einer mir nahestehenden (pssst, nicht weitersagen) mutmaßlich "linksextremistischen" Organisation in die Hand und verabschiede mich auch von den Leuten draußen die leider den Infotisch mit der "üblen linksextremistischen Propaganda" schon eingepackt haben zu meiner Enttäuschung (ich meine, wie soll ich mich vor diesen "gewaltbereiten autonomen Chaoten" anders schützen als durch Wissen wo sie das nächste Mal zuschlagen?).
Das verdächtige grün-weiße Kraftfahrzeug das am Straßenrand parkte ist auch schon weg und ich kann unerkannt entkommen.

Laut den Aktivistinnen konnten sie über 20 Karten leeren und hätten am Ende nur noch Familienkarten, auch Leute die nicht absichtlich kamen haben sich teils beteiligt nach kurzer Einweisung. Weil es in der Innenstadt stattfand gab es mehr Resonanz als bei den vorigen Aktionen.


Profil des Täters:

OK, ich gebs zu, an Allem ist meine traumatische Kindheit schuld, ich war selber mal Flüchtling vor mehr als 15 jahren und mein Vater bekam auf seine Gutscheine keine Weihnachtsgeschenke für uns Kinder. Ich erinnere mich wie demütigend es ist an einer Kasse abgewisen zu werden, vor allem wenn der Sohn daneben steht.


An Trittbrettfahrer und Nachahmungstäter:
Verkleidet Euch als harmlose Einkaufende und kauft unerkannt ein!


Sachdienliche Hinweise zur Ergreifung des Täters:
An SOKO linksextremistische Wirtschaftskriminalität und Propaganda:  imc-germany-kontakt@indymedia.org



Links:

Antirassistisches Einkaufen:

Chipkarten-Initiative
 http://members.partisan.net/chipkartenini

Antirassistisches Einkaufen am 24.05.
 http://www.de.indymedia.org/2002/05/21645.shtml

Antirassistisch Einkaufen in Rathenow
 http://www.de.indymedia.org/2002/02/15896.shtml

Antirassistisches Einkaufen in Rathenow II
 http://www.de.indymedia.org/2002/01/13261.shtml

Gemeinsam Einkaufen in Hennigsdorf
 http://www.de.indymedia.org/2001/12/12101.shtml


verantwortlicher Konsum:

[ Leben statt Kaufen !
Am 30.11.02 ist Buy Nothing Day ! ]

Buy Nothing Day 2001
 http://www.de.indymedia.org/2001/11/11316.shtml

Buy Nothing Day (Kauf Nix Tag)
 http://www.buynothingday.de

Buy Nothing Day
 http://adbusters.org/campaigns/bnd/


Enfremdung im Alltag:

15 Cent für eine Plastiktüte
 http://www.de.indymedia.org/2002/08/28240.shtml


Flüchtlinge brauchen nicht nur Hilfe beim Einkaufen, sie werden allein für Ihre Herkunft in Gefängnissen und Lagern gehalten, sie brauchen Solidarität also etwa Besuche:

Initiative gegen Abschiebehaft
 http://www.berlinet.de/ari/ini/

Tag der offenen Tür
(Bundesweite Kampagne gegen Abschiebungen, Abschiebehaft und Abschiebelager)
 http://de.indymedia.org/2002/11/33052.shtml
Indymedia ist eine Veröffentlichungsplattform, auf der jede und jeder selbstverfasste Berichte publizieren kann. Eine Überprüfung der Inhalte und eine redaktionelle Bearbeitung der Beiträge finden nicht statt. Bei Anregungen und Fragen zu diesem Artikel wenden sie sich bitte direkt an die Verfasserin oder den Verfasser.
(Moderationskriterien von Indymedia Deutschland)

Ergänzungen

für traumatisierte Konsumenten

Pinkie 08.11.2002 - 22:40
auch als linksradikale autonome, die ja immer dagegen ist, freue ich mich ab und zu klammheimlich, wenn aktionen gut ankommen.
schade, daß die vereinzelung uns diesmal nicht nur im alltag, sondern auch in der antira arbeit erwischt hat, aber nächstes mal wird alles besser. und wenn du - und alle anderen, die mal echt teuer aber sinnvoll einkaufen wollen - uns ne mail schreibt, dann schicken wir euch gerne termine direkt nach hause (ist ja schließlich ne service gesellschaft). bis nächstes mal und dann das mal und dann nochmal, bis die karten weg sind - und dann kommt das nächste Sondergesetz dran! unite&fight...

fieso?

tomtom 08.11.2002 - 22:42
'Gut, ich laufe schnell durch die Gänge und kaufe das übliche Zeug von Großkonzernen wie Nestle oder aud Südafrika herangekarrt'

Warum? Es ist doch nicht so, daß es nicht mittlerweile Alternativen gäbe, die nicht auffällig teurer sind. Und selbst da gibt's ja nicht nur Nestlé... of all things...

Der Seitenhieb auf Windows war ja nett

Holger Halfmann 09.11.2002 - 00:36
Versuchs mit Opera

Destroy Néstle

Babylon 09.11.2002 - 01:54
bitte bitte bitte, so schön deine aktion auch ist, erwähne bitte nie wieder den namen néstle. informier dich und mach ansonsten ohne néstle so weiter.
gruß

Gibt's das auch in anderen Städten?

09.11.2002 - 18:39

umtauschinis in anderen städten

freya fluten 09.11.2002 - 20:03
es gibt weitere umtauschinis in anderen städten. da berlin die erste stadt war, die das chipkartensystem eingeführt hat, gibt es in den anderen städten inis, die gutscheine umtauschen. gutscheine sind die vorläufer der chipkarten, sie werden über einen bestimmten betrag ausgestellt und es darf nur maximal 10% rückgeld ausgegeben werden. sie sind noch öffentlich diskriminierender und perfider. wer genauere infos möchte, kann ja eine mail schicken.