Jeder Soldat ist Generalstabschef

siempre 03.11.2002 22:57 Themen: Weltweit
Von Gideon Levy

deutsche Übersetzung eines Artikels der Tageszeitung Ha’aretz, Israel (www.haaretzdaily.com) für Indy ch.

„Wohin?“ fragte der Soldat. “Nach Qalqililya, ins Spital” sagte der Palästinenser. “Wozu?” fragte der Soldat. “Meine Frau wird ein Kind bekommen” sagte der Palästinenser. “Knabe oder Mädchen?” fragte der Soldat. “Eine Tochter.” “Mädchen, Ok, gehe.”
Dieser absurde Dialog fand am letzten Samstag in der Nähe des Checkpoints beim Eingang nach Qalqiliya statt. Warum sollte ein Soldat sich nach dem Geschlecht des Kindes erkundigen? Es gibt keinen Grund. Warum sollte ein Palästinenser der von seinem Dorf in die nahe gelegene Stadt reisen will, nach dem Grund seiner Reise gefragt werden? Um ihm die unbeschränkte Macht zu beweisen, die jeder Soldat in der Hand hat und die das Schicksal jedes Palästinensers bestimmt, der dem jeweiligen Soldaten begegnet.

Solche Dialoge können jederzeit an jedem der hunderten von Checkpoints gehört werden, welche die Armee in den besetzten Gebieten eingerichtet hat und meistens enden sie nicht so glücklich wie derjenige mit dem werdenden Vater. Es geht nicht immer darum rechtzeitig ins Spital zu kommen. Die Soldaten entscheiden, ob eine Ambulanz passieren kann, ein Patient seine Dialyse bekommt, eine Braut zu ihrer Hochzeit gehen kann und ob Schüler zu den Abschlussprüfungen. Heute ist mehr denn je jegliche Entscheidung des täglichen Lebens in der Hand eines einzelnen Soldaten. Die Befehle und die Anweisungen sind oftmals unklar und ändern sich häufig. Sie werden zudem nur unvollständig befolgt. Für Palästinenser ist daher jede und jeder Soldat im Besitz der absoluten Macht. Das ist logischerweise schlecht für die Palästinenser, aber auch schlecht für die Soldaten.

Man kann sich leicht vorstellen, was einem Palästinenser durch den Kopf und durch das Hertz geht, wenn er auf die gute Laune eines Soldaten angewiesen ist, um von einem Ort in den nächsten zu gelangen. Der Ärger und die Frustration sind ebenfalls leicht vorstellbar, wenn seine Anfrage wieder und wieder abgelehnt wird, normalerweise ohne Begründung und Erklärung. Aber wie werden wohl die Umstände einen 18 bis 21 jährigen beeinflussen, wenn ihm plötzlich die Möglichkeit gegeben wird, das Schicksal eines andern auf so einfache Weise zu entscheiden?

Dieses Problem stellt sich seit dem Beginn der militärischen Besetzung, seit aber die Armee drastischer und brutaler agiert, müssen auch die Soldaten skrupelloser sein und die Autorität, die ihnen übertragen wird, erweist sich immer öfter als zu gross für ihr Alter, egal wie gut die Erziehung vorher ausgefallen war. Was wird aus dem jungen Soldaten, nachdem er in jugendlichem Alter mit einem Wort da oder mit einer Geste dort Entscheidungen auf Leben und Tod getroffen hat? Welche Art von Staatsbürger wird aus einem Soldaten, der wusste, dass er mit einem Wort das Schicksal jeder Person bestimmen konnte - so lange es sich dabei um Palästinenser handelte?

Diese Frage wird noch einmal ernster, wenn es nicht um ein Wort geht, sondern um den Finger am Abzug. Die Situation in diesem Bereich wurde in der letzten Zeit immer schlimmer. Die Regeln des Einsatzes haben sich dramatisch gewandelt. Soldaten schiessen oft auf Dinge die sich bewegen, ohne Vorwarnung. Immer wieder herrscht Unklarheit was nun verboten sei und was erlaubt - und es spielt auch keine grosse Rolle, weil die Armee fast nie Untersuchungen über Todesfälle in den Gebieten anstellt. Unter diesen Umständen liegt der Entscheid, dass Feuer zu eröffnen, in den Händen von jungen Soldaten, die oftmals zuwenig Reife haben, um eine solche Entscheidung zu treffen. Es ist kein Unfall, dass Reservisten oftmals vorsichtiger sind.

Aus eigenem Antrieb feuern Soldaten Granaten gegen Kinder auf Fahrrädern, schiessen auf Fussgänger, Frauen und Kinder, und sie werden nie gefragt warum sie dies getan haben. Die Armee erweckt den Eindruck, alles sei erlaubt solange es um die Armee geht.

Die letzten zwei Jahre brachten diejenigen Jahre zurück, in denen die Armeesoldaten Palästinenser nicht als Menschen wie sich selber betrachteten und vor allem nicht als Menschen mit Menschenrechten. Begegnungen mit Soldaten die in den Gebieten dienen, bestätigen dies immer wieder aufs Neue. Für sie sind Palästinenser die „andern“, mit denen die Soldaten tun können, was immer sie wollen. Man sehe beispielsweise einmal zu, wie die Soldaten eine Ansammlung in den Gebieten auflösen: Mit „Warn“-schüssen mitten in die Menge, wie wenn die „andern“ Tiere wären.

Mohammed Dahlan, der ehemalige Sicherheitsberater von Yasser Arafat, kennt Israel genau. Vor ein paar Wochen sprach er zu dieser Zeitung: „Eure Armee benimmt sich wie ein scheuendes Pferd. Wer kontrolliert sie? Sharon? Ben-Eliezer? Jeder Soldat handelt, als wäre er der gewählte Premierminister.”

Nun kann man zur Liste der Befehlshabe den zukünftigen Verteidigungsminister Shaul Mofaz addieren, der Mann dessen Name mehr Abscheu unter Palästinensern und Menschenrechtsgruppen hervorruft als der von Sharon und Ben-Eliezer. Mofaz verdient diese Missgunst: Der Rückgang von Anstand, die vielen Tötungen, die vielen Verhaftungen, die Schikanierung der Bevölkerung und die nervösen Finger am Abzug sind mehr sein verschulden als jenes von jemand anderem. Die Sorge ist berechtigt, dass wenn er in einer rechtsstehenden Regierung Verteidigungsminister wird, er noch brutaleres Vorgehen befehlen wird und die Soldaten ihre menschlichen Hemmungen noch mehr verlieren werden. Uns sollte dies noch grössere Sorgen bereiten, als es denn Palästinensern Sorgen bereiten wird.
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Ergänzungen

Ich kanns nicht mehr hören

Warhead 04.11.2002 - 00:31
Solch kafkaeske Dialoge hören wir überall da wo die Menschenrechte ausgesetzt sind.
Zum Beispiel am ersten Mai
Blöder Bulle:"Heda,wo gehts hin!!"
Geschundener Passant:"Ins Krankenhaus,wenns erlaubt ist."
Blöder Bulle:"Ist das erlaubt??ähh ne hier ist gesperrt!"
Geschundener Passant:"Aber ich muss...
Blöder Bulle:"Warum müssen sie ins Krankenhaus??"
Geschundener Passant:"Ja wissen sie meine Arthritis im Knie meldet sich,bin beim Malern von der Leiter gefallen...kaum zur Türe raus haut mir ihr Kollege mit dem Knüppel drüber
Blöder Bulle:"Am Feiertag arbeiten,auch noch schwarz hähä,mein Kollege hat das nicht ohne Grund gemacht...hm...sie gehen auch ganz bestimmt ins Krankenhaus!!"
Geschundener Passant:"Ich gehe nicht ich hinke,ja ganz bestimmt ins Krankenhaus."
Blöder Bulle:"Hm,na gut,ich will mal nicht so sein...aber wehe ich seh sie mit nem Stein in der Hand....
Und wie hörte sich wohl so ein Gespräch in Ramallah an wo diese oder jene Miliz diesen oder jenen Bürger festhält??
Und wie hörte sich wohl so ein Gespräch in einer pogoanarchistisch kontrollierten Zone an??
Pogomilizionär:He,Kamernosse...wo will er hin?!"
Unbekannter Kammernosse:"Nach da oder dort."
Pogomiliz:"Was sucht er da,was will er dort?!"
Unbekannter...Ähh,ich arbeite da
Milizionär:WAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAS!!!!!!!!!!!!!

Warum stehen diese Checkpoints dort?

siehe 04.11.2002 - 17:27

Bist du so bescheuert...

Warhead 04.11.2002 - 17:43
...oder ist diese Frage tatsächlich ernst gemeint??
Wenn sie ernst gemeint ist,dann mach dir mal Gedanken darüber wie sich Macht und Ohnmacht voneinander unterscheiden und wo sie ihre Gemeinsamkeiten haben.Physisch wie auch psychisch