Chipkartenini (Berlin) hat neuen Erfolg

freyafluten 08.12.2005 14:13 Themen: Antirassismus
Am 22. November verkündete der Sozialstadtrat von Reinickendorf, Balzer (CDU), im Sozialausschuss, dass die Sozialverwaltung des Bezirkes am 15. November den Vertrag mit der Firma SODEXHO, die das Chipkartensystem für Flüchtlinge betreibt, gekündigt hat. Das bedeutet, dass ab dem 15. Februar auch in Reinickendorf Bargeld an alle Flüchtlinge ausgezahlt wird.
Reinickendorf (Berlin) steigt aus dem Chipkartensystem für Flüchtlinge aus –
Spandau nun einziger verbliebener Bezirk

Am 22. November verkündete der Sozialstadtrat von Reinickendorf, Balzer (CDU), im Sozialausschuss, dass die Sozialverwaltung des Bezirkes am 15. November den Vertrag mit der Firma SODEXHO, die das Chipkartensystem für Flüchtlinge betreibt, gekündigt hat. Das bedeutet, dass ab dem 15. Februar auch in Reinickendorf Bargeld an alle Flüchtlinge ausgezahlt wird.

Reinickendorf ist Nachzügler in einer Entwicklung, die im Juli 2003 begann, als die Sozialverwaltung des Landes Berlin ihren Vertrag mit SODEXHO kündigte. In der Folge stiegen auch die Bezirke Mitte, Tempelhof/Schöneberg und Neukölln aus ihren jeweiligen Umsetzungen des Sachleistungsprinzips aus und zahlten Bargeld aus. Nur Reinickendorf und Spandau hielten am Chipkartensystem fest. Wenn Reinickendorf nun aussteigt, haben wir also die Situation, dass es nur in Spandau eine Sonderregelung für Flüchtlinge gibt.
Die jetzige Entscheidung der Sozialverwaltung ist insofern überraschend, als es in der Reinickendorfer BVV mehrfach Anträge gab, das Chipkartensystem abzuschaffen, die immer von der CDU und der FDP niedergestimmt wurden. Namentlich Herr Balzer sah die Flüchtlingspolitik wohl bisher als Möglichkeit, sich als „harter Hund“ innerhalb der CDU zu profilieren und gab sich persönlich davon überzeugt, das Chipkartensystem auch dann fortführen zu müssen, wenn alle anderen schon ausgestiegen seien. Nun hat Herr Balzer einen Teil der Argumentation der GegnerInnen des Systems übernommen: In der Sozialausschusssitzung gab er als Begründung für die jetzige Entscheidung an, dass es nur wenige Akzeptanzstellen für die Chipkarten gibt, so dass die EmpfängerInnen der Chipkarten für ihre Einkäufe zu langen Wegen gezwungen sind, was zusätzliche Fahrtkosten mit sich bringe.
Was Herr Balzer sagt, ist nicht falsch: Seit 2003 ist die Zahl der Läden in Berlin, die die SODEXHO-Karte akzeptieren, von über 80 auf heute nicht mal 20 gesunken. In großen Teilen Berlins, so im kompletten Südosten, gibt es solche Läden gar nicht mehr. Das ist jedoch nur ein Teil der Probleme, die dieses diskriminierende System für die betroffenen Flüchtlinge mit sich bringt. Und ein klein wenig skeptisch bleiben wir auch, was das plötzliche Interesse Balzers am Budget der Flüchtlinge/ MigrantInnen betrifft: Es ist wohl eher zu vermuten, dass der finanzielle Mehraufwand, den sich die Bezirke (und bundesweit die Kommunen) diese rassistische Diskriminierung kosten lassen, nun auch endlich für Reinickendorf nicht mehr lohnenswert war. Die gesunkenen Zahlen derer, die mit diesem System schikaniert werden können, stehen vermutlich einfach nicht mehr im Verhältnis zu den Mehrkosten - und Herr Balzer ist einer von denen, die stolz sind auf jeden Cent, den sie im Sozialbereich sparen können. Dass es uns in diesem Fall freut, ändert nichts an der Tatsache, dass es bei dem System prinzipiell darum geht, Menschen aufgrund ihrer Herkunft schlechter zu behandeln als andere, also um rassistische Sondergesetze. Auch wenn in anderen Kommunen bundesweit auch noch mehr Schweinereien gibt, wie z.B. außer Chipkarten und Gutscheinen auch noch Fresspakete oder Zwangs- Vollverpflegung, so sind die Chipkarten dennoch ein zusätzliches Problem für Menschen, die eh schon mit staatlichem und alltäglichem Rassismus zu kämpfen haben.
Mit den Chipkarten können in den wenigen Läden nur bestimmte Waren, nämlich „Nahrungsmittel, Körperpflegeartikel und Haushaltsgegenstände“ erworben werden. Alkoholika und Zigaretten dürfen nicht gekauft werden, auch keine Druckerzeugnisse; vor allem aber können sämtliche Dienstleitungen, angefangen von BVG- Fahrscheinen über Porto- und Telefonkosten bis hin zu den für Flüchtlinge im Asylverfahren natürlich unerlässlichen AnwältInnen nicht bezahlt werden. Das Chipkartensystem beinhaltet noch viele weitere kleine und große Schikanen, so kann man z.B. mit den Karten nicht sparen: Sie werden einmal im Monat im zuständigen Sozialamt aufgeladen; ist zu diesem Zeitpunkt noch Guthaben auf der Karte, so verfällt dies.

Erfolg für die GegnerInnen des Chipkartensystems

Von vielen Seiten hat es in den vergangenen Jahren Druck auf die Bezirke Reinickendorf und Spandau gegeben, diese rassistische Diskriminierung zu beenden. Ohne diesen Druck wäre es zweifelsohne nicht zu dieser Entscheidung Balzers gekommen. Wir begrüßen diese Entscheidung und bewerten sie als Erfolg für uns.
Als Initiative gegen das Chipkartensystem engagieren wir uns seit bald sechs Jahren gegen diese rassistische Sonderregelung. Unter anderem organisieren wir PatInnenschaften, d.h., UnterstützerInnen gehen mit Flüchtlingen einkaufen. Bezahlen mit ihren Chipkarten und geben ihnen den entsprechenden Betrag in bar wieder. Doch nicht nur wir vermitteln solche PatInnenschaften; es ist in den letzten Jahren ein nicht überschaubares Netz der Solidarität entstanden. Deswegen kann davon ausgegangen werden, dass nahezu alle vom Chipkartensystem betroffenen Flüchtlinge eine Möglichkeit haben, ihre Karte gegen Bargeld zu tauschen. Das müssen sie auch, denn es ist faktisch nicht möglich, ohne Bargeld in Berlin zu überleben. Das alles ist den zuständigen PolitikerInnen natürlich auch bekannt – das weitere Festhalten an diesem System im Bezirk Spandau muss als Mischung aus trotzigem Rechthabenwollen und blankem Rassismus bewertet werden.

Und Spandau?
Am 19. Oktober veranstalteten der Migrations- und Integrationsbeirat Spandau und die Initiative gegen das Chipkartensystem (wie berichtet) gemeinsam eine Diskussionsveranstaltung zum Thema „Chipkarten für Flüchtlinge in Spandau“, an der u.a. VertreterInnen aller Fraktionen und Gruppen der Spandauer BVV teilnahmen. In der Diskussion sprachen sich die VertreterInnen von SPD, PDS und AL/Grünen für die sofortige Bargeldauszahlung aus, nur die Vertreter von CDU und FDP, die in der BVV die Mehrheit stellen, bestanden auf dem Chipkartensystem. Jetzt, nur wenige Wochen später, sieht auch die Reinickendorfer CDU ein, dass dieses System nicht mehr aufrechtzuerhalten ist. Auch wenn die Gründe, die Herr Balzer nennt, natürlich nur ein kleiner Teil der tatsächlich gegen das Chipkartensystem sprechenden Punkte ist, so sind sie ja richtig und werden für die verbliebenen, von Spandau verwalteten Flüchtlinge noch gravierender werden: Es ist mit Sicherheit davon auszugehen, dass nun weitere Läden aus diesem System aussteigen werden, so dass es kaum noch möglich sein wird, mit diesen Karten einzukaufen. In Spandau selbst z.B. akzeptiert schon jetzt nur noch ein Supermarkt, der Minimal in der Goltzstraße, die SODEXHO-Karten.
Nachdem die PatInnenschaften, die bisher an Flüchtlinge, die vom Bezirksamt Reinickendorf verwaltet wurden, jetzt ja auslaufen werden, sind wir uns sicher, dass es uns möglich sein wird, jedeN ChipkartenempfängerIn vom Bezirksamt Spandau mit einer PatInnenschaft zu versorgen. Deswegen wäre alles andere als eine baldige Abschaffung des Chipkartensystems auch in Spandau eine absolut nicht nachvollziehbare Entscheidung.

Wir hoffen sehr, dass die Spandauer LokalpolitikerInnen möglichst bald zur Vernunft kommen, dem Beispiel ihrer Reinickendorfer KollegInnen folgen und den Vertrag mit SODEXHO ebenfalls kündigen. Bis dahin werden wir, die Initiative gegen das Chipkartensystem, aber gemeinsam mit unseren UnterstützerInnen und den Betroffenen eine gezielte Kampagne in Spandau fahren.

Dazu brauchen wir aber natürlich Eure Hilfe und Unterstützung: Solange es die Chipkarten noch gibt, brauchen wir dringend Leute, die sich solidarisch zeigen und mit denen Betroffenen einkaufen gehen. Es wird 1:1 umgetauscht, Ihr macht Eure regulären Einkäufe auf Karte und die Flüchtlinge bekommen das Bargeld. Einfacher geht es eigentlich kaum konkret was gegen rassistische Diskriminierung zu tun, den Einkaufen tun jawohl die Meisten regelmäßig.
Also: kommt vorbei, holt Euch die Karten und unterstützt die Flüchtlinge praktisch und/oder noch besser:
Kommt am 10. Dezember um 13 Uhr zum öffentlichen antirassistischen Einkauf im Minimal in der Goltzstraße 15 in Spandau. Hier werden wir zum einen gegen das Chipkartensystem protestieren, zum anderen werden wir offen zeigen, wie weitgehend es heute schon obsolet ist, indem wir den Flüchtlingen das Bargeld geben, was zu einem halbwegs autonomen Leben nötig ist.
Dabei ist eine breite Beteiligung wichtig, auch wenn Ihr nicht einkaufen wollt/ könnt, ist Masse-Bilden gerade in Spandau sinnvoll, damit möglichst viele Menschen mitbekommen, das und warum wir da sind.

Initiative gegen das Chipkartensystem
Haus der Demokratie und Menschenrechte
Greifswalder Str. 4, 10405 Berlin
Tel.: 030/41935839 (Do. 19 -20 Uhr) Fax: 030/41936868 Mobil: 0160/3410547 www.chipkartenini.squat.net/
Bürozeiten: Do. 19-20 Uhr und ab FEBRUAR 2006: Dienstag 19 - 20 Uhr!!!
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Ergänzungen

Presse vor dem Einkauf

Freya Fluten 10.12.2005 - 11:25
Berliner Morgenpost vom Freitag

 http://morgenpost.berlin1.de/content/2005/12/09/bezirke/797328.html

Abschied von der Chipkarte
Reinickendorf steigt aus - Als einziger Bezirk will nun nur noch Spandau Asylbewerbern kein Bargeld geben
Von Marianne Rittner und Helga Labenski

Reinickendorf verabschiedet sich vom Chipkartensystem für Flüchtlinge. "Wir werden den Vertrag zum März 2006 kündigen", sagt Sozialstadtrat Frank Balzer (CDU). Reinickendorf und Spandau sind derzeit noch die einzigen Bezirke, die mit dem Chipsystem arbeiten. Statt Bargeld erhalten die Asylbewerber eine Karte, mit der sie in etwa 20 Läden in der Stadt Lebensmittel kaufen können. Balzer betont: "Ich halte die Auszahlung per Chipkarte immer noch für richtig." Jedoch lohne sich der Aufwand für die 60 von Reinickendorf betreuten Personen nicht.

Das Land hat schon 2003 den Vertrag mit dem Chipkarten-Betreiber Sodexho gekündigt, der eine Provision von zirka einem Prozent auf die Kartengutschrift erhält. "Es ist preiswerter, Flüchtlingen das Geld bar auszuzahlen. Außerdem ist es diskriminierend und menschenunwürdig", so Roswitha Steinbrenner von der Senatssozialverwaltung. Erschwerend komme hinzu, daß die "Initiative gegen das Chipkartensystem" das Anliegen unterlaufe, die Flüchtlinge vor sich selbst zu schützen. Mitglieder dieser Initiative kaufen per Chipkarte ein und zahlen Bargeld an den Karteninhaber aus. Hauptkritikpunkt der Initiative: Mit der "Infracard" können Asylbewerber nur Lebensmittel kaufen. Für Fahrkarten beispielsweise bleibe kein Geld übrig. Die Flüchtlinge werden - abhängig von ihrem Geburtsdatum - in verschiedenen Bezirken betreut, also nicht unbedingt in ihrem Wohnbezirk. Medikamente können nur in zwei Berliner Apotheken erstanden werden. In Spandau und Reinickendorf gibt es jeweils nur einen Supermarkt, der die Karte akzeptiert.

Spandau will dennoch als einziger Bezirk weiter an dem System festhalten. Die Bezirksverordneten-Versammlung hat auf ihrer jüngsten Sitzung mit den Stimmen von CDU und FDP einen Antrag der Union angenommen, wonach die Sicherheitsvorkehrungen sogar verschärft werden sollen. Das Bezirksamt soll sicherstellen, daß die Karten personengebunden sind, um den Weiterverkauf zu erschweren. "Wir wollen verhindern, daß Menschen Geld bekommen, das ihnen nicht zusteht", so der CDU-Bezirksverordnete Arndt Meißner. Sozialstadtrat Axel Hedergott (SPD) teilt jedoch die Bedenken wegen des zu hohen Verwaltungsaufwands für die 76 in Spandau betreuten Asylbewerber. Er will im Januar die Fraktionen zum Gespräch über die Chipkarten bitten, um "eine pragmatische Lösung zu finden".

Die "Initiative gegen das Chipkartensystem" hat unterdessen angekündigt, ihre Aktivitäten auf Spandau zu konzentrieren. Am Sonnabend soll es erneut einen "antirassistischen Einkauf" bei Minimal an der Goltzstraße geben.


Berliner Zeitung vom Samstag
 http://www.berlinonline.de/berliner-zeitung/archiv/.bin/dump.fcgi/2005/1210/lokales/0091/index.html

Asylbewerber dürfen wieder mit Bargeld einkaufen
Reinickendorf schafft Chipkarten ab, Spandau bleibt dabei
REINICKENDORF/SPANDAU. Der Bezirk Reinickendorf schafft die umstrittenen Chipkarten für Asylbewerber ab. Die 60 Asylbewerber, die der Bezirk betreut, erhalten bislang vom Sozialamt statt Barem lediglich Plastikgeld, mit dem sie nur in bestimmten Geschäften Lebensmittel einkaufen können. "Ich halte die Chipkarte noch für richtig, aber der Aufwand für die wenigen Asylbewerber lohnt sich nicht mehr", sagte am Freitag Sozialstadtrat Frank Balzer (CDU). Deshalb hat der Bezirk den Vertrag mit dem Chipkarten-Betreiber Sodexho zum Februar 2006 gekündigt. Nur der Bezirk Spandau hält dann noch an dem Chipkartensystem fest.

Die Berliner Initiative gegen das Chipkartensystem zeigt sich von Balzers Kehrtwende überrascht. Der Sozialstadtrat hatte die Chipkarten immer befürwortet, weil damit Missbrauch vermieden werden könne. So gebe es weniger Anreize für Wirtschaftsflüchtlinge, nach Deutschland zu kommen, hatte Balzer früher gesagt. "Ich kann den Verwaltungsaufwand jetzt nicht mehr rechtfertigen, zudem gibt es nur noch 20 von ehemals 100 Geschäften, die die Karten akzeptieren", so Balzer. Sollten die Asylbewerberzahlen wieder ansteigen, "werde ich die Chipkarten wieder einführen".

Der Senat hatte schon vor zwei Jahren das Chipkartensystem für die von ihm betreuten Flüchtlinge abgeschafft. Ab 2004 zahlten die Bezirke Mitte, Tempelhof-Schöneberg und Neukölln wieder Bargeld aus, alle anderen Bezirke hatten die Karten gar nicht erst eingeführt.

Die Anti-Chipkarten-Initiative will nun die "diskriminierende Sonderregelung in Spandau" kippen. Sie ruft im Internet für diesen Sonnabend zu einem "antirassistischen Einkauf" auf. Sozialstadtrat Axel Hedergott (SPD), der 74 Asylbewerber betreut, setzt auf die Vernunft von CDU und FDP, die bisher die Aufhebung des Chipkartensystems blockiert haben. Wie Hedergott sagte, wolle er im Januar mit allen Fraktionen reden, um Möglichkeiten für einen Kompromiss auszuloten.

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