Ageeb: Bericht vom 8. Prozesstag

Prozessbeobachtungsgruppe 27.02.2004 23:49 Themen: Antirassismus
Am 8. Prozesstag schildert der Münchner Gerichtsmediziner Helmut P., der die Leiche von Aamir Ageeb obduzierte, die wesentlichen Befunde der Obduktion und der Nachuntersuchungen. Abschließend beantragt die Verteidigung der angeklagten BGS-Beamten unter Verweis auf das informelle Gespräch in Berlin, Bundesinnenminister Otto Schily als zeugen zu laden.
Helmut P. Sachverständiger Gerichtsmedizin München

Der medizinische Sachverständige trägt die wesentlichen Befunde der Obduktion und der Nachuntersuchungen vor, wie sie sich bereits bei den Akten befinden.

Ein zweifelsfreier, die Todesursachen klärender Befund sei nicht feststellbar, jedoch gebe es gravierende Indizien für einen Erstickungstod. Hinweise auf einen Tod aus natürlicher Ursache hätten sich nicht gefunden.

Hinsichtlich der Ergebnisse der feingeweblichen Untersuchung verweist der Zeuge darauf, dass keine krankhaften Veränderungen zu finden waren, die den Tod hätten erklären können.

Zum mutmaßlichen Tathergang führt der Zeuge aus, dass die Oberkörperfesselung alleine nicht zu einer Atmungseinschränkung geführt habe. Auch der Helm habe per se die Amtung nicht beschränken können, da der Gesichtsausschnitt groß war. Auch die Fesselung der Beine und die Fesselung am Sitz hätten atmungstechnisch keine Rolle gespielt. Der Zeuge bezieht sich auf Zeugenaussagen, die über ein Herunterdrücken des Oberkörpers von Ageeb berichtet hatten. Die Beugung des Rumpfes nach unten sei atembehindernd, der Umfang der verursachten Atemnot u.a. abhängig von der Intensität und Dauer des Niederdrückens. Zusätzlich zum Effekt der Beugung des Oberkörpers ergebe sich ein zangenartiger Mechanismus durch die Art der Fesselung. Ageebs Widerstand führte zu einem erhöhten Sauerstoffbedarf. In solchen Fällen könne die Zeitspanne bis zum Eintritt des Todes kürzer sein als im Ruhezustand.

Der Richter fragt den Sachverständigen nach seiner Einschätzung der Zeitspanne, die unter solchen Umständen bis zum Eintritt des Todes vergehe. Der Zeuge äußert sich dahingehend, dass das schwer zu schätzen sei, in der Regel aber einige Minuten dauern dürfte.

Auf Befragen des Richters, ob die bei der Obduktion festgestellten Rippenbrüche tatsächlich bei den Reanimationsversuchen entstanden seien: Rippenbrüche dieser Art seien häufig bei Reanimationen, ebenfalls Brüche des Brustbeines.

Auf Befragen schildert der Zeuge seine Erfahrungen bei einem Selbstversuch, bei dem sein Oberkörper gewaltsam vorgebeugt wurde. Bereits nach 5 Sekunden in dieser Haltung habe er Angst bekommen, weil er nicht atmen konnte.

Auf Fragen des Staatsanwaltes, welche Bedeutung Ageebs Schreien im Zusammenhang mit den medizinischen Vorgängen gehabt habe: Solange Ageeb noch laut schreien konnte, konnte er auch atmen. Bei maximaler Kompression des Oberkörpers jedoch war kein Schreien mehr möglich, wie die Rekonstruktion ergeben habe.

Frage des Staatsanwaltes: Was empfindet das Opfer einer solchen Einwirkung?
Der Zeuge: Ein Nachvollzug der Empfindungen des Opfers sei nur begrenzt möglich. Es sei jedoch allgemeinkundig, dass mit Atemnot in der Regel ein Angstgefühl mit hohem Stress verbunden sei.

Auf Befragen des Staatsanwaltes, woher der festgestellte Schaum vor dem Mund Ageebs gekommen sei: Die Schaumreste könnten durch Einspeicheln entstanden sein oder als Folge des partiellen Lungenödems.

Frage der Staatsanwaltschaft: Hat es sich um einen gewaltsamen Tod gehandelt?
Der Zeuge: Ja.

Nachfrage der Staatsanwaltschaft: Ist das Risiko eines Erstickungstodes bei einer solchen Fallkonstellation für den Laien erkennbar?
Der Zeuge: Auch dem Laien sollte bekannt sein, dass jemand irgendwann erstickt, wenn man ihm die Luft nimmt.

Nachfrage des Nebenklagevertreters zu den bei der Obduktion festgestellten Einblutungen im Nackenbereich
Der Zeuge: Sie könnten möglicherweise vom Helm stammen. Der Helm selbst allerdings sei nicht atmungsbeeinträchtigend gewesen.

Weitere Frage des Nebenklagevertreters, ob die Struktur der Rippenbrüche und der Helmeinsatz einander zugeordnet werden könnten.
Der Zeuge: Nein, es handele sich um Reanimationsfolgen.

Die Nebenklage erkundigt sich danach, ob eine sofortige Reanimation am tödlichen Ausgang etwas hätte ändern können.
Der Zeuge: Aus der Beweisaufnahme sei nicht erkennbar, wann der Atemstillstand bzw. der Kreislaufstillstand bei Ageeb vorgelegen hätte. Die Grundregel sei: Je schneller eine adäquate Reanimation einsetzt, desto besser die Prognose. Bei bloßem Atemstillstand wäre die Methode der Wahl die Beatmung gewesen. Wenn auch ein Kreislaufstillstand vorgelegen hätte, hätte kombiniert beatmet werden und eine Herzdruckmassage durchgeführt werden müssen.

Frage der Verteidigung an den Zeugen, wie es komme, dass das positional asphyxia-Problem in Deutschland in Fachliteratur über Jahre hinweg nicht gesehen worden sei.
Der Zeuge: Der Begriff sei seit spätestens 1992 in der US-Forschung eingeführt. Er habe allerdings zunächst auf den Zusammenhang mit dem Phänomen plötzlicher Gewahrsamstode gestanden. Dann sei er in Verbindung mit bestimmten Fesselungstechniken, wie der sogenannten hogtie-Fesselung gebracht worden. Hogtie-Fesselung und positional asphyxia seien dann auch Gegenstand experimenteller Untersuchungen gewesen. Der konkrete Fall des Vornüberbeugens des Oberkörpers in Verbindung mit einer Oberarmfesselung sei im amerikanischen Schrifttum nicht geschildert. Es könne durchaus sein, dass im polizeilichen Bereich die Gefährdung durch lagebedingtes Ersticken (positional asphyxia) über lange Zeit hinweg nicht bekannt war.

Frage der Verteidigung zum Selbstversuch. Ob die Fesseln auch "hinweggedacht" werden könnten und derselbe Effekt entstehe: Nein. Von wesentlicher Bedeutung sei der Zangenmechanismus. Dies bedeute aber nicht, dass nicht auch ein Erstickungstod ganz ohne Fesselung eintreten könnte. Ablauf und Bedingungen müssten hier allerdings anders überprüft werden.

Weitere Frage der Verteidigung, ob unter dem Helm eine problematische CO²-Konzentration entstanden sein könnte: Diese Frage habe man zunächst ins Kalkül gezogen. Die Öffnung des Helmes sei jedoch so groß, dass keine relevante Beeinträchtigung existiere.

Anschließend wird der Biomechaniker Dr. Erich S. (55 Jahre), Diplom-Physiker, Abteilung für Biomechanik am Institut für Rechtsmedizin München, der zweite medizinische Sachverständige, als Zeuge vernommen. Er bestätigt im wesentlichen die Erklärungen seines Kollegen und berichtet einige weitere Einzelheiten aus der Rekonstruktion.

Ende der Zeugenvernehmung

Die Verteidigung stellt den Beweisantrag, Bundesinnenminister Otto Schily zu laden. Die Verteidigung liest ihren Beweisantrag vor. Begründung für den Beweisantrag ist im Wesentlichen, die bereits erwähnte "Fachkonferenz" (das informelle Gespräch), die in Berlin stattgefunden haben soll.

Der Staatsanwalt als auch der Richter schienen nicht sonderlich einverstanden Schily als Zeugen zu laden, da sie davon ausgehen, er habe nichts direkt zu dem Tod von Ageeb bei zu tragen. Auch könne Schily keine detaillierte Stellungnahme dazu abgeben.

Der Staatsanwalt stellte am Ende den Antrag den Beweisantrag abzulehnen.

Der Richter verschiebt die Entscheidung über den Beweisantrag. Diese Entscheidung wird für den nächsten Prozesstag, 08.03.04 erwartet. Es ist jedoch auch möglich, dass am 08.03.2004 bereits die Plädoyers gehalten werden.
Indymedia ist eine Veröffentlichungsplattform, auf der jede und jeder selbstverfasste Berichte publizieren kann. Eine Überprüfung der Inhalte und eine redaktionelle Bearbeitung der Beiträge finden nicht statt. Bei Anregungen und Fragen zu diesem Artikel wenden sie sich bitte direkt an die Verfasserin oder den Verfasser.
(Moderationskriterien von Indymedia Deutschland)

Ergänzungen