Der 9. November 2008: Erinnern heißt handeln!

Antifa Infoportal Weser/Deister/Leine 10.11.2008 17:34 Themen: Antifa
Vor 70 Jahren - am 9. November 1938 - wütete der deutsche Mob in der so genannten "Reichspogromnacht". Fast alle Synagogen, jüdischen Friedhöfe, Geschäfte und Wohnungen in Deutschland wurden in dieser Nacht geplündert und zerstört. Mehr als 400 Jüdinnen und Juden verloren ihr Leben. Nur kurze Zeit später begannen die Nazis mit der Deportation der überlebenden und nicht geflohenen Jüdinnen und Juden in Konzentrationslager. Der Shoa, dem von den Nazis organisierten industriellen Massenmord, fielen bis zur Befreiung 1945 über 6 Millionen Menschen jüdischen Glaubens zum Opfer. Zum mahnenden Gedenken an den Auftakt dieser in der Geschichte beispiellosen Barbarei führten einige der im Antifa Infoportal Weser/Deister/Leine organisierten Gruppen Aktionen durch.
Schaumburg

Ein Dutzend Mitglieder der Autonomen Antifa Bückeburg (A.A.B.) und der Kritischen Initiative Schaumburg [K.I.S.] entrollten auf der bürgerlichen Gedenkveranstaltung in Bückeburg ein Transparent mit der Aufschrift "Fight Antisemitism". An die Anwesenden wurden Flugblätter zum Thema Antisemitismus verteilt (Text siehe Ergänzungen). Das gleiche Flugblatt wurde auch auf der parallel stattfindenden Gedenkveranstaltung in Bad Nenndorf von Aktivist_innen der [K.I.S.] und der Autonomen Antifa Deister verteilt, welche ein Transparent mit der Aufschrift "Erinnern heißt handeln - Antisemitismus bekämpfen!" mit sich führten. Dass das Flugblatt mit der Aufforderung endete, sich 2009 gemeinsam dem alljährlich in Bad Nenndorf stattfinden Nazi-"Trauermarsch" entgegen zu stellen, wurde von den Teilnehmer_innen der Gedenkveranstaltung überaus positiv aufgenommen. Am Abend wurden die restlichen Flugblätter auf der Gedenkveranstaltung in Obernkirchen unter die Anwesenden gebracht.

Wunstorf

Am Mahnmal für die von den Nazis ermordeten Jüdinnen und Juden aus Wunstorf an der Marktkirche legten Mitglieder der Antifa [rk] Wunstorf eine hölzerne Gedenktafel mit der Aufschrift "Niemand ist vergessen - Nichts ist vergeben", sowie Blumen und Flugblätter (Text siehe Ergänzungen) nieder. Im Anschluss wurden weitere Flugblätter in der Innenstadt verteilt.

Minden

Die Antifaschistische Jugend Minden (AJM) brachte nachmittags ein Transparent an der viel befahrenen Auffahrt zur Bundesstraße 65 in Porta Westfalica-Neesen an. Dieses enthielt den Schriftzug: "Im Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus".
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Ergänzungen

Text der in Wunstorf verteilten Flugblätter

Antifa Infoportal Weser/Deister/Leine 10.11.2008 - 17:45
Niemand ist vergessen - Nichts ist vergeben

Am 09 .November 1938 entlud sich der tief verankerte Antisemitismus der deutschen Gesellschaft in einem landesweiten Pogrom gegen jüdische Geschäfte und Einrichtungen sowie Menschen jüdischen Glaubens. Etwa 30.000 Menschen wurden an den Folgetagen in Konzentrationslager inhaftiert und so gut wie alle Synagogen in Deutschland und Österreich fielen den praktisch gewordenen Flammen der deutschen Gesellschaft zum Opfer.

Geplant durch SS und SA, toleriert und unterstützt durch Polizei, hatte das deutsche Volk eine freie Handhabe, um seinen bis dato gedachten Antisemitismus barbarische Wirklichkeit werden zu lassen.

60 Jahre später spielt sich in Deutschland eine skurrile Art des Gedenkens ab. Neben Veranstaltungen von Kirche und Institutionen wie der weißen Rose, kriegt man hierzulande an diesem Datum eher wenig mit.Ganz im Gegensatz zum allseits bekannten "Volkstrauertag", wo den Tätern und Verantwortlichen dieser 12-Jährigen Barbarei, dem Nationalsozialismus, gedacht wird. Wir möchten an dieser Stelle festhalten, dass persönlich verbundene Trauer an Angehörige nichts Falsches in sich birgt. Jedoch reicht es nicht, sich argumentativ an der Trauer in diesem Sinne zu klammern, ohne dabei die historischen Hintergründe als Ganzes zu sehen, und daraus die Konsequenzen zu ziehen.

Bei einer öffentlichen Befragung mit der Aussage "Auch heute noch ist der Einfluss der Juden zu groß" stimmten 20 % der westdeutschen Bevölkerung damit überein. Verbunden mit Sätzen "Was interessiert mich der Holocaust" oder "Die waren selber nicht ganz sauber" lässt sich der heutige gesellschaftliche Stand explizit darstellen.

Während auf einer Seite versucht wird, ein sauberes und offenes Deutschland darzustellen, was mit seiner Vergangenheit abgeschlossen hat, gibt es an Terminen wie dem Volkstrauertag regelrechte Großaufmärsche. NPD, freie Kameradschaften und größtenteils undogmatische
Bürger trauern Hand in Hand den Soldaten der deutschen Wehrmacht hinterher.

Wir stehen heute hier, um den Opfern der Shoa, den Opfern deutscher Barbarei zu gedenken. Doch nicht nur Trauer, sondern auch Wut und eine Mahnung an die heutige Gesellschaft drücken sich in unserem Anliegen aus. Den Verstorbenen gegenüber ist es unsere Pflicht, mit allen Mitteln dafür zu sorgen, dass Antisemitismus und Hass auf Minderheiten in einer emanzipierten Gesellschaft keinen Platz haben.

"Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung.
Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ziel."

Dieses Flugblatt wurde in Schaumburg verteilt

Antifa Infoportal Weser/Deister/Leine 10.11.2008 - 18:21
»Die Geschichte des Pardons ist in Auschwitz zu Ende gegangen.«[1]

Der 9. November 1938, der als »Progromnacht«[2] den Ausgangspunkt für eine unbeschreibliche Grausamkeit in Deutschland markierte, war es, der den Weg aller weltweit lebenden Menschen fortan bestimmte, welche als jüdisch denunziert wurden. Jenes »Novemberprogrom« 1938 bildete die Ausgangslage eines systematisch organisierten Vernichtungswahns an Jüdinnen und Juden, dessen grausames Ende die Shoah war. Wir gedenken am 9. November 2008, genau 70 Jahre später, derer ermordeter, entrechteter sowie gedemütigter Opfer dieser antisemitischen Ideologie – insbesondere denen, die noch am Leben sind.

Antisemitismus in neuem Gewand

Der 9. November 1938, die »Kriegserklärung an die Juden«[3], die mindestens sechs Millionen Jüdinnen und Juden bis 1945 das Leben kostete, kann den Deutschen niemals verziehen werden. Zu viel Gräuel ging von diesem deutschen Volks-Konstrukt aus. Immerhin distanziert sich der NS-Nachfolgestaat – die Bundesrepublik Deutschland – seit seiner Staatsgründung 1949 gemäß dem Grundgesetz von den nationalsozialistischen Verbrechen und erklärt sich antifaschistisch. Nichtsdestoweniger tut es dem Antisemitismus hierzulande keinen Abbruch. Er beweist auch gegenwärtig noch durch verschiedene Prägungen seine Existenz und ist gerade durch das implizierte Wissen der Shoah als verwerflicher denn je einzustufen. Unabhängig von der gesellschaftlichen Strömung, tritt dieser in teils versteckten, teils offenen Ressentimentbildungen auf, die nach wie vor die gängigen antisemitischen Stereotypen bedienen und Zeichen eines Verschwörungsdenkens ist. In Übereinstimmung mit einer falschen, oder meist komplett fehlenden Kritik am falschen Ganzen, enttarnt sich eine Wut auf »die da oben«, »die Bonzen«, oder eben »die Juden« als affirmativ antisemitisch. Diese ist Charakter eines strukturellen Antisemitismus in der bürgerlichen Gesellschaft. Ob nun vereint im Deckmantel der Kritik am Staate Israel oder gemeinsam im Hass auf die USA zeigt sich heutiger Antisemitismus in einer trivial kollektivistischen Form, unter dessen Banner des Antizionismus und des Antiamerikanismus sich von Neonazis, über die demokratische »Mitte« bis hin zu vermeintlichen Linken einzelner Politiker_innen der Partei »Die Linke« alle einfinden können.

Deutsche Geschichtsverdrehung

Seitdem der »Mauerfall« 1989 jüngst eine Teilablösung der deutschen Erinnerungskultur des 9. Novembers als Gedenktag gegenüber dem »Novemberprogrom« eingenommen hatte, zeichnete sich das Erinnern in Deutschland zumeist immer mehr als Gelegenheit dafür aus, um nun auch endlich über die vermeintlichen deutschen Opfer sprechen zu dürfen. Ohne sich einer faschistischen oder antisemitischen Ideologie verdächtig machen zu brauchen, nutzen nun allerlei Couleur die Gunst der Stunde, einen Diskurswechsel herbeizuführen. Wo mancherorts der Antisemitismus auf Gedenkveranstaltungen am 9. November nicht einmal mehr zur Sprache kommt, oder als Randnotiz verkommt, dort ist der »Schlussstrich« längst Allgemeingut geworden. Im vereinten Chor der Unschuld stimmen Anfang September (»Tag der Heimat«) und am 16. November (»Volkstrauertag«) all jene mit ein, die nichts mehr von den deutschen Verbrechen hören wollen und beispielsweise stattdessen um die selbsternannten Opfer ostpreußischer »Vertreibung« trauern. Mit der deutschen »Wiedervereinigung«, ab dem Zeitpunkt, wo Willy Brandt (SPD) »nur noch Deutsche« und »keine Parteien mehr kannte«, bekamen die sich gern als Opfer sehenden Deutschen einen weiteren Tag hinzu, an dem sie sich über das Leid, eine geteilte Nation sein zu müssen, nun auch am heutigen 9. November erinnern können.

Schaumburger Spezialitäten

Beispielhaft präsentieren sich auch hier im Landkreis Schaumburg einige Anhänger_innen dieser antisemitischen Ideologie besonders renitent. Die hiesige Neonazi-Szene aus dem Umfeld der »Nationalen Sozialisten Ostwestfalen-Lippe/Schaumburg« beweist in unermüdlicher Weise ihre fanatische Weltanschauung immer wieder aufs Neue. Besonders beim jährlichen so genannten »Trauermarsch« in Bad Nenndorf wird ihre offene Agitation offensichtlich: Das »Wincklerbad« in Bad Nenndorf – dem Anlass der »Trauermärsche« –, welches von 1945 bis 1947 ein britisches Internierungslager für deutsche Kriegsverbrecher_innen war, vergleichen die Neonazis mit dem Unvergleichbaren, mit Konzentrationslagern wie etwa Auschwitz, Bergen-Belsen, Dachau, Sobibor oder Treblinka. Dies unterscheidet die Neonazis von anderen rechten Antisemit_innen elementar, da sie sich somit nicht nur der bekannten Täter_innen-Opfer-Umkehr bedienen – so wie es revanchistische und geschichtsrevisionistische Gruppen gerne tun –, sondern weiter gehen und den Nationalsozialismus mit all seinen antisemitischen Verfolgungspraktiken keineswegs als etwas Abscheuliches kritisieren. Das Gegenteil ist der Fall: Sie heißen es gut.

Erinnern heißt kämpfen

Die Zeichen der Zeit, die nicht nur Wachsamkeit, vielmehr ein aktives Handeln erfordern, »auf dass sich Auschwitz nicht wiederhole«[4], sind es, die uns die unentbehrliche Schlaflosigkeit bereiten. Doch müde werden wir nie gegen diese Brutalität aufzustehen und ihre Schuld anzuklagen. Das Erinnern an die unvergleichliche deutsche Unmenschlichkeit sind unlängst Notwendigkeiten, stets kritisch die Vorgänge in Deutschland zu hinterfragen und die Verantwortung der Verantwortlichen zu überprüfen. Denn die Täter_innen und Helfer_innen der deutschen Ideologie sind allezeit unter uns.

Aus diesem Grunde kann es heute am 9. November wie auch in Zukunft nur heißen:

Kein Vergeben, kein Vergessen!
Deutsche Täter_innen sind keine Opfer!
Antisemitismus in all seinen Formen bekämpfen!

Kritische Initiative Schaumburg [K.I.S.], November 2008

___________
[1] Vladimir Jankélévitch, Das Verzeihen – Essay zur Moral und Kulturphilosophie, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 2003
[2]  http://zukunft-braucht-erinnerung.de/holocaust/ausschreitungen-und-judenpolitik-seit-1935/176.html
[3] Wilfred Mairgünther, Reichskristallnacht, Neuer Malik Verlag, Kiel, 1987
[4] Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 1966

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