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Wer verdient am Pflegenotstand?

Pflegesyndikat der Anarchosyndikal Ini Berlin 13.10.2008 18:28
Im Mittelpunkt der Debatte um Pflegequalität stehen nicht die Pflegebedürftigen, sondern sogenannte Pflegefehler und Kosten. Den Pflegekräften dagegen von allen Seiten Faulheit, Trägheit und Unwillen, sich an die "modernen Bedingungen" anzupassen, vorgeworfen. Solange jedoch Pflege und Betreuung weiter der Gewinnorientierung und der Kapitalakkumulation unterworfen sind, wird sich an der Situation im Gesundheitswesen nichts ändern.
Herr W. steht in der Tür zu seinem Zimmer und schreit. Eben ist er aufgewacht in einem Bett, das ihm unbekannt ist, in einem ihm fremden Zimmer mit fremden Möbeln, unbekannten Geräuschen und Gerüchen. Panik hat ihn ergriffen. Er kann sich nicht mehr orientieren.
Herr W., 83 Jahre, leidet an einer Demenz. Er kann sich nicht daran erinnern, dass er seit zwei Monaten in einem Pflegheim lebt, weil er in seiner eigenen Wohnung akut gefährdet war. Immer wieder hatte er den Elektroherd angelassen, auch schon mal die Küchenhandtücher darauf liegenlassen, seine Socken im Herd gebacken, war unbekleidet auf die Strasse gegangen, hatte die Nachbarn nachts aus dem Haus geklingelt, weil er sich Sorgen um seine Tochter machte. Spricht man ihn auf sein inadäquates Verhalten an, wird er ungehalten, wütend. Er weiß nicht, dass ihm ständig Fehlhandlungen unterlaufen, seine Demenzerkrankung lässt dies nicht zu.


Herr. W. braucht professionelle Betreuung und Pflege durch Fachkräfte, die im Umgang mit seinem Krankheitsbild geschult sind, auf seine krankheitsbedingten Ängste und Bedürfnisse eingehen und in einfühlender Weise den Begleiterscheinungen einer Demenz wie Angst, Aggression, Unterernährung und Austrocknung vorbeugen können. Professionalität und Zeit sind hierbei die Faktoren, die die unbedingte Voraussetzung für jede angemessene Pflege darstellen.


Die Wirklichkeit jedoch sieht anders aus: der Arbeitsalltag von Pflegekräften in der stationären wie ambulanten Altenpflege ist von Dauerstress, Überlastung und permanentem Zeitmangel geprägt. Die Pflegereform sollte mit dem seit Juli 2008 in Kraft getretenen Pflegeweiterentwicklungsgesetz hier die dringend benötigte Abhilfe schaffen. So sollen erstmals seit 1996, dem Jahr der Einführung der Pflegeversicherung, die Zuschüsse der Pflegeversicherung für die Pflegebedürftigen angehoben werden, und zwar schrittweise bis 2012 auf insgesamt, man höre und staune, ganze 236 Euro monatlich mehr in der Pflegestufe drei im Pflegeheim. Die Pflegestufen zwei und eins werden im Pflegeheim nicht angehoben, immerhin, so trösten sich die Heime, sind sie nicht wie geplant auch noch verringert worden. In der ambulanten Pflege gibt es Erhöhungen in allen Pflegestufen, allerdings in niedrigerer Höhe. Eine spürbare Entlastung der Pflege oder gar eine bessere Pflegequalität ist mit diesen Sätzen definitiv nicht zu erreichen!

Besonders öffentlichkeitswirksam war die neu eingeräumte Möglichkeit für Pflegeheime, für je 25 demenzkranke Bewohner eine zusätzliche Betreuungskraft zu erhalten, die sich der besonderen Bedürfnisse dieser Bewohner annehmen soll. Der von den Pflegekassen erarbeitete Kriterienkatalog, anhand dessen der Anspruch der Bewohner auf diese Betreuung nachgewiesen werden muss, sieht eindeutig vor, dass es sich dabei um verhaltensauffällige Menschen mit erheblichen Einschränkungen der Alltagskompetenz handelt, wie Herrn W. Die Fachlichkeit für diese Tätigkeit sollen sich die hierfür avisierten Langzeiterwerbslosen in 160 Ausbildungsstunden aneignen können. Sie werden dann täglich 25 Menschen wie Herrn W. in ihrer Angst, ihrer Frustration, ihrer Wut und Desorientierung zu „betreuen“ haben.
Die Urheber der Pflegereform stellen sich vor, man müsse nur die Kontrollen in den Pflegeheimen verschärfen, um eine bessere Pflegequalität zu erreichen. Seit Juli 2008 soll der medizinische Dienst der Pflegekassen unangemeldete Prüfungen in den Pflegeeinrichtungen durchführen, ab 2009 müssen die Pflegeeinrichtungen ihre Prüfungsergebnisse veröffentlichen, ab 2010 soll jede Einrichtung mindestens einmal jährlich geprüft werden. Solange aber die Bedingungen, unter denen Pflege durchgeführt wird, nicht drastisch verbessert werden, solange Zeit, Professionalität und Möglichkeiten zu fachgerechter Weiterbildung nicht zur Verfügung gestellt werden, werden auch diese Prüfungen nur das bisherige, sich verschlimmernde Elend der Pflegelandschaft abbilden können. Das Nachsehen haben die Pflegekräfte, denen von allen Seiten Faulheit, Trägheit und Unwillen, sich an die modernen Bedingungen anzupassen, vorgeworfen werden. Die hohe Einsatzbereitschaft im Schichtdienst oft unter Verzicht auf ein regelbares Privatleben, die Bereitschaft dieser Berufsgruppe, unter teilweise widrigsten Umständen doch immer wieder das Bestmögliche für die Pflegebedürftigen zu leisten, werden dagegen von der Öffentlichkeit nicht wahrgenommen.


Nicht die Pflegebedürftigen stehen im Mittelpunkt der so genannten „Qualitätsdebatte“, sondern Pflegefehler und Kosten. Nirgendwo dagegen wird die Frage aufgeworfen, wie Lebensräume gestaltet werden können, die es kranken und pflegebedürftigen Menschen ermöglichen würden, ihr Leben nach ihren eigenen Wünschen und Vorstellungen zu gestalten, die ja eventuell von den Vorstellungen so genannter „Expertengruppen“ erheblich abweichen können.


Kontrollen, Prüfungen und Schuldzuweisungen sollen von den tatsächlichen Ursachen des Pflegenotstandes ablenken. Trotz allem Katzengejammer über zu hohe Kosten wird weiterhin kräftig an der Pflege verdient. Allerdings fließen die Milliardenbeträge, die im Gesundheitsbereich umgesetzt werden, an den Pflegebedürftigen und den direkt in der Pflege Tätigen vorbei. Gewinner der seit den neunziger Jahren fortschreitenden Deregulierung des Pflegemarktes sind Banken, Investoren und Kreditgeber, die trotz leer stehender Heime und Pflegenotstand im vollen Einklang mit dem bürgerlichen Gesetzbuch ihre Zinszahlungen, Tilgungsraten und Ausschüttungen aus den Leistungen des kränkelnden Gesundheitswesens beziehen.


Solange die Pflege und Betreuung kranker und pflegebedürftiger Menschen weiterhin und immer unverschämter der Gewinnorientierung und der Kapitalakkumulation unterworfen sind, wird sich an der Situation im Gesundheitswesen nichts ändern, allen „Pflegereformen“ zum Trotz. Verlierer sind die Pflegebedürftigen, denen durch immer teurere Gesundheitsdienste auch noch die letzten mühsam zusammengesparten Cents aus der Tasche gezogen werden – „wie viel Solidarität können wir uns noch leisten?“ fragen die Veranstalter des europäischen Gesundheitskongresses, der jüngst am 07. und 08. Oktober in München stattfand. Kongresspräsident Ulf Fink, ehemaliger Berliner Gesundheitssenator, jubelt: „der zweite (nicht durch Kassenleistungen abgedeckte, Anm. d. Verf.) Gesundheitsmarkt wächst kontinuierlich und hat inzwischen ein Volumen von über 60 Milliarden Euro erreicht.“
Aber Pflegekräfte, Pflegebedürftige und deren Angehörige tun sich schwer, der inzwischen frech ganz öffentlich vorgetragenen Ausschlachtung der Hilfebedürftigkeit von Menschen Widerstand zu leisten. Pflegebedürftige können sich oft nicht mehr für ihre Rechte einsetzen, ihre Angehörigen sind mit der Unterstützung des Pflegebedürftigen und der Organisation möglicher Hilfen oft so absorbiert, dass sie keine Kraft mehr haben, sich auch noch für eine Verbesserung der gesellschaftlichen Verhältnisse einzusetzen, obwohl es ja gerade diese sind, die die Ursache ihrer Erschöpfung und Überforderung darstellen. Ebenso die Pflegekräfte: Schichtdienste, ständig wechselnde Einsatzpläne und enorme Arbeitsdichte lassen kaum Raum zum Nachdenken über die eigene berufliche und gesellschaftliche Situation.


Und doch wird nur eine breite Widerstandsbewegung von unten der kapitalistischen Ausbeutung der menschlichen Gesundheit eine Grenze setzen können. Die AnarchosSyndikalistische Initiative Berlin möchte hierzu durch wiederkehrende Veranstaltungen mit Betroffenen sowie durch die Unterstützung der gegenseitigen Vernetzung Berufstätiger im Gesundheitswesen beitragen. Nur wenn Arbeitende im Gesundheitswesen und Betroffene zusammenkommen, Selbsthilfegruppen bilden und Netzwerke gegenseitiger Unterstützung aufzubauen beginnen, wird es möglich sein, unser gesellschaftliches Zusammenleben auf Dauer gesünder und menschenwürdiger zu gestalten.

AnarchoSyndikalistische Initiative Berlin
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Ergänzungen

Ich bin hocherfreut...

über Eure... 13.10.2008 - 18:57
...zweifelsohne wichtige und für mich in dieser Form neue Herangehensweise an diesen umfangreichen Themenkomplex. Ich sehe ausführlicheren Texten aus Eurer Arbeit mit Spannung entgegen. Die obige Veröffentlichung stellt ja lediglich eine Paraphrasierung der Problematik dar, die mir als kaufmännischem Angestellten in einer privaten Trägergesellschaft mehrerer Altenpflegeheime durchaus bewußt ist. Ironischerweise arbeitet unsere Gesellschaft hochprofitabel und meistert dabei meiner Meinung nach recht gut den Spagat zwischen ökonomischem Handeln und Menschlichkeit. Deswegen: Gerne mehr dazu!

Gemeinschaftlich Demenz Vorbeugen

Jasmin 01.03.2012 - 12:21
"Nur wenn Arbeitende im Gesundheitswesen und Betroffene zusammenkommen, Selbsthilfegruppen bilden und Netzwerke gegenseitiger Unterstützung aufzubauen beginnen, wird es möglich sein, unser gesellschaftliches Zusammenleben auf Dauer gesünder und menschenwürdiger zu gestalten." Diese eure Aussage kann ich nur vollends unterstützen. Wir haben in unserer Gemeinde ebenfalls ein Projekt gestartet in dem wir zusammen mit einer Selbsthilfegruppe Alzheimer erkrankte dabei unterstützen mit Ihrer Krankheit zurecht zu kommen und die anfallenden alltäglichen Aufgaben zu beweltigen. Unsere Erfahrungen sind, dass das Gehirn weniger anfällig für altersbedingte Vergesslichkeit wird, je mehr es auf unterschiedliche weiße gefordert wird und je größer die soziale Zuwendung aus dem Umfeld ist. Demenz vorbeugen heißt auch darum bemüht sein dein Gegenüber geistig fit und aktiv zu halten.