Die Prekarität hat viele Gesichter

lesender arbeiter 21.04.2007 02:24
Eine neue Broschüre stellt die unterschiedlichen Gesicher der Prekarität vor und regt zur Diskussion über gemeinsamen Widerstand und Organisierungsprozesse an.
Kurz vor dem 1. Mai und dem G8-Gipfel kommen im Wochenrhythmus neue Schriften auf den linken Markt. Dabei ragt schon optisch eine Broschüre heraus, die unter dem Titel "Hier & Jetzt“ Anleitungen für ein schönes Leben geben will und Schluss mit dem „prekären Quatsch“ machen will.
An den vielen bunten Buttons und Bildchen erschließt sich für die LeserIn nicht gleich der Hintergrund der Schrift. Aber wer umblättert und das Editorial liest wird schlauer sein. Die Gruppe Fels (für eine linke Strömung) hat auf über 40 sehr bunten Seiten Streiflichter aktueller prekärer Lebens- und Arbeitsverhältnisse vorgestellt. Die Zusammenfassung wird gleich mitgeliefert. Das prekäre Leben hat viele Gesichter“, heißt es in der Einleitung. Nach einer Begriffserklärung prekärer Lebens- und Arbeitsverhältnisse kommen dann verschiedene Prekäre selber zu Wort. Allerdings fällt hier auf, dass die befragten Personen mehrheitlich zum akademischen Prekariat gehören. Stimmt also doch das oft verbreitete (Vor)Urteil, dass mit der Prekaritätsdebatte eine akademische Mittelschicht, die nicht mehr automatisch nach dem Diplom Karriere machen kann, ihre Unzufriedenheit darüber zu artikulieren? Wer die Broschüre weiterliest, wird eines Besseren belehrt. Es gibt Beiträge über Ein-Euro-Jobs, über Migration und Prekariat, über die Kampagne gegen Zwangsumzüge. Der Erwerbslosentreff Neukölln befasst sich mit den Schwierigkeiten einer Organisierung von Erwerbslosen. Andere Beitrage befassen sich mit dem bedingungslosen Grundeinkommen. Am Beispiel der Rütlischule wird über einen rassistischen Diskurs gegen SchülerInnen der sogenannten Unterklassen Stellung bezogen. Danach kommt in einem Aufsatz über die „Organisierung der Unorganisierbaren“ wieder das akademische Prekariat zu Wort.
Fast zum Schluss wird der Mayday als „Work in Progress“ vorgestellt, als Raum und Möglichkeit für Widerstand und für Organisierungsprozesse.

Dort wird die These vertreten, dass die Gemeinsamkeiten in der Prekarität zunehmen und dass deshalb die öffentliche Diskussion über abgekoppelte und überflüssige Unterschicht auf den Holzweg führe.
Genau hier sollte die auch kritische Diskussion ansetzen. Denn so sinnvoll es ist, die gemeinsamen Interessen der Lohnabhängigen zu betonen, so wichtig ist es aber doch erst einmal zu analysieren, ob denn diese gemeinsamen Interessen bestehen. Bei den in der Broschüre vorgestellten Initiativen scheint es nicht so schwer, diese gemeinsamen Interessen zu finden. Das wurde aber in der Broschüre nur sehr grob geleistet. Der Schwerpunkt lag hier eindeutig zunächst in der Darstellung der unterschiedlichen Kämpfe und Themenfelder. Ed liegt jetzt an den LeserInnen die Debatte über Trennungen und Gemeinsamkeiten und über einen Organisierungsprozess unter den Prekarisierten weiterzutreiben. Vor dem Mayday besteht eine gute Gelegenheit. Denn wenn es versäumt wird, nach dem Gemeinsamkeiten zu suchen, bleibt der Mayday ein singuläres Ereignis und der viel bemühte Mayday-Prozess findet faktisch nicht statt. Der müsste gerade darin bestehen, die aufgeführten Bewegungen und Kämpfe im Alltag zu vernetzten und auch zu organisieren. Genau daran wird eine erfolgreiche Bewegung nicht herumkommen.
Eine erste Gelegenheit zur kritischen Debatte ergibt sich am kommenden Sonntag ab 19 Uhr im Kato. Dort findet eine Art Broschürenpremiere statt. „Prekär arbeiten und leben. Chance oder Schicksal? Heißt das Oberthema. Über die Frage, individuell akzeptieren – oder organisiert widerstehen“, diskutieren Holm Friebe (Autor des Buches, Wir nennen es Arbeit), Anne Allex von der Kampagne gegen Zwangsumzüge und Veronika Mirschel, die bei der Gewerkschaft verdi für die Organisierung von Selbstständigen zuständig ist. Dort gibt es auch die Broschüre kostenfrei. Wer schon vorher einen Blick hinein werfen will, findet sie in jeden gut sortierten linken Buchladen.




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nach dem hungertod eines arbeitslosen

tbdjh 21.04.2007 - 04:52
muß jetzt was passieren: die realität zeigt, wie unmenschlich hartz 4 ist.

diskutieren mit ver.di

sub_schicht 21.04.2007 - 07:47
Mit ver.di über das Prekariat diskutieren? Das ist die Gewerkschaft, die sich wie kaum eine zweite um die flächendeckende tarifvertraglicbe Festschreibung von Hungerlohnen verdient gemacht und damit zum Entstehen eines Niedrigstlohnsektors tatkräftigt beigetragen hat. Die Gewerkschaft, deren kommerzielle "Bildungseinrichtungen" mit als erste Personalserviceagenturen gegründet und in großem Umfang 1-Euro-Jobber ausgebeutet und damit zur Durchsetzung der Zwangsarbeit beigetragen hat. Ausgerechnet mit diesem Funktionärsapparat also, der mit zum großflächigen Angriff auf das Lebensniveau der gesamten Klasse beigetragen hat, will man diskutieren? Da ist es wahrscheinlich nicht weiter erstaunlich, dass in der Broschüre in dem Beitrag "Organisierung der Unorganisierbaren - Unterschicht, urbane Penner und Digitale Boheme" einer von ver.di bezahlten Politikwissenschaftlerin zum Thema nichts anderes als der Beitritt in ver.di und der IG Metall einfällt. Aber vielleicht ist es ja auch das, worum es bei der Broschüre eigentlich geht: neue Stellen für PolitikwissenschaftlerInnen zu schaffen, von denen es bei den HerausgeberInnen überdurchschnittlich viele gibt. Dann hätte das Heftchen vielleicht ja wirklich einen materiallen Sinn...

Kritik auf die veranstaltung tragen

leserin 21.04.2007 - 13:08
genau diese kritik an verdi sollte auch auf der veranstaltung geäußert werden, auch an holm friebes position gibt es sicher kritik.

aber diskussionsveranstaltungen sind ja auch zur kontroversen debatte gedacht und nicht zum gegenseitigen händchenhalten.

@autor

vxhuh 21.04.2007 - 15:48
leider passe ich nicht in eure definition vom prekariat
ich habe kein abitur und studiere nicht,ich bin arbeitloser hartz 4 empfänger
wenn du mich genau fragst zu welcher klasse ich gehöre so meine ich mit meinen ungebildeten geist ich gehöre zum proletariat(abhängige lohnarbeiter)
wieso einige unterbezahlte studenten/praktikanten hier eine eigen gesellschaftklasse ausrufen,nur um sich nicht mit den ungebildeten proletariern zu solidarisieren,
erklärt sich aus der tatsache das viele von denen ihre zukunft in einer eigen firma sehen und dort werden sie dann das selbe lohndumping betreiben welches sie heute kritisieren.
hinzu kommt das sich viele prekarianer im vergleich zum arbeiter gesellschaftlich höherwertig sehen.

MAYDAY/MYFEST ABSCHAFFEN

guter artikel

arbeitender leser 22.04.2007 - 13:21
Danke für den Artikel. Freue mich immer, wenn auf indymedia ein etwas journalistischerer Artikel geschrieben wird. Noch dazu abwägend und nicht immer das gleiche abgefeiere von den ewig-gleichen eigenen inhalten. eigentlich könnte das ruhig auf die startseite. naja, das schöne wetter verhinderts vielleicht...