Mittenwald:Langer Marsch durch die Vergangenh

VERONIKA SCHANDL 01.06.2004 01:20
Ernst Grube ist fassungslos. Gerade zischte ihm ein Passant entgegen: "Hitler hat vergessen, Euch zu vergasen." Ein Ausspruch, der den Überlebenden des Konzentrationslagers Theresienstadt bis ins Mark getroffen hat. Denn diesem Schicksal ist er nur um wenige Tage entronnen. Die Rote Armee hat Grubes Martyrium nach der Befreiung noch rechtzeitig beendet - für seine beiden Schwestern kam jedoch Stalins Armee zu spät.
Ein Bericht aus dem Garmisch-Partenkirchner Tagblatt (Münchner Merkur)
Langer Marsch durch die Vergangenheit
Zahlreiche Festnahmen bei Demonstrationszug der Brendtengegner durch Mittenwald
VON VERONIKA SCHANDL Mittenwald - Ernst Grube ist fassungslos. Gerade zischte ihm ein Passant entgegen: "Hitler hat vergessen, Euch zu vergasen." Ein Ausspruch, der den Überlebenden des Konzentrationslagers Theresienstadt bis ins Mark getroffen hat. Denn diesem Schicksal ist er nur um wenige Tage entronnen. Die Rote Armee hat Grubes Martyrium nach der Befreiung noch rechtzeitig beendet - für seine beiden Schwestern kam jedoch Stalins Armee zu spät.


Wie bereits im Vorjahr nahm der gebürtige Jude mit rund 400 Gleichgesinnten in Mittenwald an den Kundgebungen gegen das Pfingsttreffen des Kameradenkreises auf dem Hohen Brendten teil; zu sehr seien auch deutsche Gebirgsjäger in Kriegsverbrechen während des Zweiten Weltkriegs verwickelt gewesen, so der Tenor.
Hasstiraden wie eingangs erwähnt gibt es am Samstag öfters. Da wird mit dem Kopf geschüttelt und werden abfällige Bemerkungen gemacht. Vereinzelt gibt es am Rande des Demonstrationszuges aufgeheizte Diskussionen. Die Brendtengegner sollten lieber zum Bush gehen, meint einer, dem könne man eher solche Vorwürfe machen. Aber die NS-Zeit und damit einhergehende Verbrechen seien Geschichte. "Warum müsst Ihr diese nach 60 Jahren wieder aufrollen?", fragt ein Einheimischer, der sich kurz darauf mit einigen Demonstranten ein heftiges Wortgefecht liefert. "Für die wäre jetzt der Hitler recht", urteilt ein anderer älterer Mann über die meist jungen Demonstranten, die vornehmlich aus der linken Szene stammen. Sie hätten doch keine Ahnung vom Krieg,kosteten den Staat nur Geld.

Der Demonstrationszug setzt sich vom Bahnhof Richtung Zentrum in Bewegung - abgeschirmt von etwa 200 Polizisten, ausgerüstet mit Schlagstock und Helm, alles gebannt auf Video. Der Tross muss immer wieder gestoppt werden, weil bestimmte Auflagen nicht erfüllt seien, so Polizeisprecher Klaus Schürgers.

Ansonsten jedoch verläuft die erste Strecke bis ins Gries ziemlich ruhig. Auf Höhe der Pfarrkirche überschlagen sich die Ereignisse: Ein Demonstrant brüllt "Bullenstaat." Die Polizei schreitet ein und nimmt ihn fest. Ein anderer widersetzt sich deren Zugriff, wälzt sich am Boden und wird von mehreren Beamten abgeführt. Insgesamt verbringen sieben Brendtengegner wegen "Verunglimpfung des Staates" die Nacht zum Sonntag in Gefängnis-Zellen. Drei weitere werden wegen Marihuana-Besitzes oder anderer Vergehen festgenommen. Ebenso wie eine 13 Mann starke Skinhead-Gruppe aus dem Landkreis, die mehrmals versucht, die linksgerichteten Demonstranten zu provozieren. Eine Anzeige erhielt auch ein 59-jähriger Mittenwalder, der einen Hakenkreuz-Anhänger am Hut trägt.

"Ihr könnt ja nicht lesen, es steht an jeder Wand. Soldaten, das sind Mörder - und zwar in jedem Land", ertönt es immer wieder in den Straßen Mittenwalds. Reihenförmig, im Gleichschritt rufen die Demonstranten Parolen, wie "Stalingrad war wunderbar. Nazi-Opa blieb gleich da". Jugendliche verteilen Flyer, Info-Material oder den "Mittenwalder Landboten".

Eine ältere Dame steckt einem Polizisten einen Zettel in die Hand mit den Worten "Vielleicht lernt Ihr noch was". Man wolle damit erreichen, dass die Kriegsverbrecher endlich zur Rechenschaft gezogen werden, betont Ulrich Sander, Sprecher der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN). "Diejenigen sollen aufgerüttelt werden, die Tür an Tür mit den Massenmördern leben."

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Datum: 01.06.2004
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Ergänzungen

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leser 01.06.2004 - 03:00
GEBIRGSJÄGERTREFFEN IN OBERBAYERN
Mit dem Hakenkreuz zum Gedenken an die toten Soldaten
Trotz Proteste ehren Gebirgsjäger von Wehrmacht und Bundeswehr weiter gemeinsam ihre toten Kameraden - darunter auch einige Kriegsverbrecher.
VON J. TORNAU (MITTENWALD)

"Mörder" - in meterhohen Lettern haben Unbekannte dieses Wort auf die monumentalen Steinstelen des Ehrenmals der Gebirgstruppe im bayerischen Mittenwald gesprüht. Als Beleidigung und Provokation dürften dies die meisten Teilnehmer des alljährlichen Totengedenkens des Kameradenkreises der Gebirgstruppe empfunden haben. Am Pfingstsonntag kamen mehr als 2000 Wehrmachtsveteranen, Bundeswehrsoldaten und ihre Angehörigen nach Mittenwald.

Für Historiker ist die Sache hingegen klar: Gebirgsjäger der nationalsozialistischen Wehrmacht haben im Zweiten Weltkrieg dutzende Massaker begangen, tausende unschuldige Zivilisten und Kriegsgefangene ermordet und sich an der Deportation von Juden in Konzentrationslager beteiligt.

Jahrzehntelang ist davon bei den Pfingsttreffen der Gebirgssoldaten in Mittenwald nicht ein Wort zu hören gewesen. In diesem Jahr aber sah sich der Präsident des Kameradenkreises, Ernst Coqui, angesichts der zunehmenden Proteste gegen die größte soldatische Feier in Deutschland erstmals zu einer Stellungnahme genötigt: "Der Kameradenkreis ist sich in gleicher Weise der großen Leistungen der Gebirgstruppe im Zweiten Weltkrieg bewusst wie der leider auch von Gebirgsjägern begangenen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit", sagte der Brigadegeneral a. D. in seiner Begrüßungsansprache.

Konsequenzen zeitigt dieses Eingeständnis nicht. Kriegsverbrecher würden vom ehrenden Totengedenken nicht ausgeschlossen, sagte Coqui der FR. "Wir gedenken Toter und Menschen, nicht ihrer Handlungen." Und: Die Traditionskameradschaften der nachweislich an Massakern beteiligten Einheiten blieben selbstverständlich weiter im Kameradenkreis der Gebirgstruppe vertreten.

In der Organisation, der rund 6400 Wehrmachtsveteranen und Bundeswehr-Gebirgsjäger angehören, gebe es nicht einen einzigen Kriegsverbrecher, denn es sei bislang noch niemand gerichtlich verurteilt worden, sagte Coqui.

Gegen den Schulterschluss von alten und jungen Kameraden protestierten in diesem Jahr erneut etwa 600 Menschen, die einem Aufruf des Arbeitskreises "Angreifbare Traditionspflege" und der Vereinigung der Verfolgten des Nazi-Regimes (VVN) folgten.

Dabei sahen sich die Aktivisten nicht nur einer rüde vorgehenden Polizei gegenüber, die mehrere Demonstranten wegen kleinerer Delikte festnahm und zum Teil über Nacht festhielt. Mit ihren Forderungen nach Bestrafung der Täter und Entschädigung der Opfer trafen sie bei der einheimischen Bevölkerung auf Feindseligkeit. Eine mitgebrachte Gedenktafel für die von deutschen Gebirgsjägern Ermordeten war schon nach wenigen Minuten wieder abgerissen und zerstört. Ein 59-jähriger Mittenwalder präsentierte demonstrativ einen Anstecker mit dem Hakenkreuz. Und Ernst Grube, jüdischer Überlebender des KZ Theresienstadt und Landessprecher der VVN in Bayern, musste sich von einem Ladenbesitzer gar übelst beleidigen lassen: "Euch haben sie vergessen zu vergasen", schleuderte ihm der Mann entgegen - und erhielt von Umstehenden Zuspruch.

Unterstützung für das Anliegen der Demonstranten war dagegen nur hinter vorgehaltener Hand zu hören. In Mittenwald, seit jeher Kasernenstandort, ist das Militär sakrosankt. "Ich würde ja was sagen", so ein Mann. "Aber dann müsste ich hier wegziehen."

Ab in die Hölle

LeserIn 01.06.2004 - 10:35
"... denn die Hölle wartet schon"
Keine Zusammenstöße während der Kundgebung am Luttensee - Sicherheitskräfte haben Lage im Griff
Mittenwald - "Zwölf Polizisten und zwölf blutrünstige Hunde würden`s für die auch tun." Wenig Christliches aus dem Mund eines Mannes aus Trier, der nur eine knappe Stunde später am Hohen Brendten an einer Gedenkmesse teilnehmen wird. Alles andere als friedfertig klingt`s auch von der Gegenseite: "Gottesdienst, das ist der Hohn, denn die Hölle wartet schon."


Es ist Pfingstsonntag, kurz vor 10 Uhr. Der Parkplatz am Luttenseelift füllt sich mit zumeist jungen Demonstranten, vornehmlich aus der linken Szene. Die Autokennzeichen verraten, wo sie herkommen: Frankfurt, Bremen, Köln, Berlin. Aus den Lautsprechern dringt "Bel Ami", während die Bäuerin vom benachbarten Luttenseehof noch schnell am Zaun ihr Schild anbringt: "Heute Schweinebraten mit Knödel und Blaukraut".
Derweil kreist oben ein Polizeihubschrauber. Er sendet Livebilder vom Brennpunkt "Luttensee" zum Führungsstab in die Dienststelle Mittenwald, wo Weilheims Polizeidirektor Dietmar Valentin und sein Team den Einsatz der rund 200 Sicherheitskräfte koordinieren. Alles ruhig, keine Vorkommnisse.

Dann erklingt über Mikrofon die Stimme von Stephan Stracke. "Es müssen Namen genannt werden", fordert der Sprecher des Arbeitskreises "Angreifbare Traditionspflege". Und er nennt die Namen, auch von Wehrmachtsoffizieren aus dem Werdenfelser Land, die im besetzten Feindesland tagsüber Massaker verübten und abends dann im Blutrausch "Apfelkompott und Pudding verspeisten". "Kein Vergeben, kein Vergessen, Mörder haben Namen und Adressen", skandieren Strackes rund 400 Sympathisanten. "Und was macht die Bundeswehr beim Pfingsttreffen?", fragt sich der wortgewaltige Historiker. Die stifteten solchen Kriegsverbrechern auch noch einen Kranz.

11 Uhr, der Gottesdienst auf dem Hohen Brendten hat mit halbstündiger Verspätung begonnen. Die Lautsprecher der Demonstranten schweigen - müssen schweigen. Nur noch vereinzelt schmettern Demonstranten ihre bekannten Parolen: "Edelweiß - Nazischeiß".

Für Aufregung sorgen bei den Brendtengegnern nur noch ein Fahrradfahrer mit erhobenem Mittelfinger und vier kurzgeschorene junge Männer mit Gebirgsjäger-T-Shirts, die aufreizend langsam an Stracke und Co. vorbeischlendern. Doch in keiner Phase gibt es Handgreiflichkeiten mit der Ordnungsmacht. "Mit unserer Kräfteeinschätzung sind wir richtig gelegen", bestätigt auch Polizeisprecher Klaus Schürgers. Also dann: Auf ein Neues im Jahr 2005.

Christof Schnürer

mm


Sein Ausweg war der eigene Tod
Zeitzeugen berichten von Kriegsschicksalen
Mittenwald - Ihm wurde mit einem Messer in den Rücken gestochen. Panagiotis Babouskas war ein 14 Monate altes Kind, als die Soldaten der Wehrmacht das Dorf Lyngiades überfielen und die Einheimischen erschossen, erstachen und anschließend verbrannten. Er lag an der Brust seiner toten Mutter - eineinhalb Tage lang.


Der Grieche war einer der sechs Menschen, die dieses "große Massaker", wie Stephan Stracke von der "Angreifbaren Traditionspflege" es nannte, überlebte. Bei der Veranstaltung "Die Mörder sind unter uns" in der Gaststätte des Mittenwalder Eisstadions versammelte sich eine Vielzahl der Demonstranten, um die Zeitzeugen-Berichte von Babouskas oder eines französischen Partisanen zu verfolgen.
Ernst Grube aus München, der nach Theresienstadt deportiert worden war, sagte, dass immer noch der alte Ungeist herrsche. "Hier in Mittenwald sieht man es", dort, wo "man Kriegsverbrecher hochleben lässt." Er sei froh, noch eine Zeit wahrnehmen zu dürfen, in der die Leute nicht nur zuschauen, sondern etwas dagegen unternehmen.

Diesen Kampf unterstützt auch Jacob Baruch "Jacquot" Szmulewicz, ein jüdischer Partisan aus Frankreich. Er kämpfte größtenteils in den Städten Lyon oder Grenoble. Nachdem er mitbekommen hatte, was mit Glaubensbrüdern in Deutschland passierte, flüchtete er in den Süden Frankreichs, in die freie, nicht besetzte Zone. "Ich wollte mein Leben leben", sagte der heute 80-Jährige. Er verteilte illegale Flugblätter, stahl sich die Waffen für die ersten Aktionen bei der Polizei, schoss auf Soldaten.

Während dieser Zeit verlor er auch seinen besten Freund Antoine. "Er hat sich eine Granate auf die Brust gelegt", erinnert er sich. Antoine wollte nicht den Deutschen lebend in die Hände fallen. Szmulewicz ist erst das zweite Mal nach dem Krieg in Deutschland. Doch er sei nicht wütend auf dieses Volk, sondern nur "auf die, die diese Taten noch heute verteidigen."vro

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Großaufgebot der Weilheimer Polizei bei Gebirgsjäger-Feier
Beamte sind für Schutz des umstrittenen Treffens an Pfingsten in Mittenwald zuständig / Gegner drohen spaßhaft mit Kampfelefanten

Von Roland Lory


Weilheim Wie schon an Pfingsten 2003 werden Kräfte der Polizeidirektion Weilheim auch an diesem Wochenende massiv präsent sein, wenn in Mittenwald der Kameradenkreis der Gebirgstruppe sein traditionelles Pfingsttreffen abhält. Denn erneut haben Gegner der Veranstaltung angekündigt, ins Werdenfelser Land zu kommen, um auf Kriegsverbrechen der Gebirgsjäger im Zweiten Weltkrieg aufmerksam zu machen. Man werde ¸¸in ausreichender Stärke" vor Ort sein, sagte Polizeisprecher Klaus Schürgers auf SZ-Anfrage. Über die Zahl der eingesetzten Kräfte wollte er sich nicht äußern.


Ziel sei es, so Schürgers, die verschiedenen Veranstaltungen zu schützen und deren ordnungsgemäßen Ablauf zu gewährleisten. So haben die Gegner der Gedenkfeier für den heutigen Samstagvormittag einen Demonstrationszug angemeldet. Später findet eine Infoveranstaltung (¸¸Die Mörder sind unter uns!") statt, zu dem die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes/Bund der Antifaschisten (VVN/BdA) und der Arbeitskreis ¸¸Angreifbare Traditionspflege" unter anderem einen griechischen Überlebenden von Wehrmachtsgräueln und einen ehemaligen jüdischen Partisanen aus Frankreich eingeladen haben.


Am Abend werden die Beamten, die von Kräften der Bereitschaftspolizei unterstützt werden, dann am ¸¸Postkeller" präsent sein, wo die ehemaligen und aktiven Gebirgssoldaten einen Kameradschaftsabend abhalten. Am Pfingstsonntag geht die Gedenkfeier des Kameradenkreises am Ehrenmal auf dem Hohen Brendten über die Bühne, das wie 2003 von Unbekannten kürzlich mit Sprüchen wie ¸¸Mörder unterm Edelweiß" versehen worden ist. Um 9 Uhr treffen sich die aus ganz Deutschland anreisenden Gegner zu einer Kundgebung am Luttensee. Bereits seit Donnerstag ist eine in München gestartete Fahrradkarawane unterwegs, die über Wolfratshausen, Wallgau und Krün nach Mittenwald fährt. 15 Brendten-Gegner beteiligen sich an der Tour, so der Sprecher der Polizeidirektion, die die Kreise Weilheim-Schongau, Tölz-Wolfratshausen und Garmisch-Partenkirchen umfasst.


Mangelnden Einfallsreichtum kann man den antifaschistischen Aktivisten nicht vorwerfen: So fanden einige Bewohner der Karwendelgemeinde einen ¸¸Mittenwalder Landboten" in ihrem Postkasten, in dem Verbrechen deutscher Gebirgsjäger im Zweiten Weltkrieg thematisiert werden. Humorig kündigen die Gegner, von denen voraussichtlich einige Hundert anreisen werden, in dem Blatt an, sie würden mit drei Kampfelefanten aus dem Tierpark Hellabrunn in Mittenwald aufkreuzen.


Quelle: Süddeutsche Zeitung
Nr.123, Samstag, den 29. Mai 2004 , Seite 1