Leipzig: Aktion gegen Privatisierung & Überwachungswahn

Seven 22.06.2003 23:44 Themen: Freiräume
Übung in nichtbestimmungsgemäßen Verweilen!
1.Teil, Flugblatt: Am Sonntag, dem 22.Juni wird am Leipziger Hauptbahnhof das LIGNA-Radioballett durchgeführt. Das Radioballett ist eine neue Form politischer und ästhethischer Intervention in öffentliche Räume, die inzwischen privat kontrolliert werden. Kameraüberwachung, Hausordnungen und Wachleute verhindern dort jede Versammlung, die noch gegen diese Kontrolle protestieren wollte. Das Radioballett ist deshalb keine Versammlung, sondern eine Zerstreuung: Über den Raum des Hauptbahnhofs verteilt hören die TeilnehmerInnen über tragbare Radios auf der Frequenz von Radio Blau (97,6MHz) Anweisungen für Gesten, die sich in der Grauzone zwischen erlaubten und verbotenen Gesten bewegen und bringen diese in den Bahnhof zurück. Das Radioballett wendet sich gegen die zunehmende Kontrollierung und ästhetische Normierung öffentlicher Räume. Gerade in Leipzig ist es Selbstverständlichkeit geworden, dass Videokameras Strassen und Plätze überwachen. Der Alltag stellt sich als eine Abfolge kontrollierter Situationen dar. Der Bahnhof war für diese Entwicklung ein Prototyp: Seine Hausordnung schliesst "unliebsame Verhaltensweisen" aus. Entsprechend sind am Bahnhof folgende Gesten verboten: Die Hand aufhalten, auf dem Boden sitzen - überhaupt alles, was unter nicht bestimmungsgemäßes Verweilen fällt. Indem es ausgeschlossene Gesten über den Raum verteilt wiederkehren lässt, erzeugt das Radioballett eine unkontrollierbare Situation. Zur Teilnahme bei diesem Ballett sind keine tänzerischen Fähigkeiten vonnöten. Es braucht allein ein aufmerksames Ohr und ein tragbares Radio mit Kopfhörern. Ziel des Balletts ist nicht der individuelle künstlerische Ausdruck, sondern serielle und wiederholte Bewegungen. Das Radioballett ist kein Massenornament wie ein Fernsehballett. Es hat keine einheitliche Bühne. Es behindert die Passanten nicht, sondern irritiert durch seine Gleichzeitigkeit.

Teil 2, Bericht: Wer hätte gedacht, dass dieser frischen, ungezwungenen und überaus lustigen Form des Protests gegen Überwachungs- und Ordnungswahn und Kapitalisierung am Sonntag abend soviele Leute folgen würden! Am Laden 6+7 gegenüber vom Bahnhof holten wir uns gegen einen Pfand von 5 Euro das tragbare Radio mit den Kopfhörern, eine rote Serviette und eine Plastetüte ab und los ging´s in den Konsumtempel Hauptbahnhof Promenaden! Viele Reisende und auch einige Sonntag-Abend-Einkäufer (einige Geschäfte hatten offen) waren Zeugen, als sich immer mehr Leute mit den verdächtigen Ohrstöpseln unter´s Volk mischten. 18:30 Uhr ging´s dann los, die ersten Anweisungen wie an die Decke deuten oder so tun als ob man sich die Schuhe zubindet erklangen über den Äther. Ich fand es grossartig, wie gleich von Anfang an alle mitmachten - keinem war es peinlich. Und so schauten die Passanten ratlos an die Decke oder ärgerten sich über die ganzen Leute, die auf dem Boden hockten und ihre Schuhe zubunden. Die Minuten verstrichen mit harmlosen Anweisungen, bis dann die auf dem Bahnhof verbotenen Dinge wie Hand aufhalten und sich auf dem Boden hinsetzen und breit machen angesagt wurden. Hektische Reisende ärgerten sich krumm und schief, denn jetzt wurde so langsam das Ausmass der Aktion sichtbar: meiner Meinung nach bestimmt an die 400 Alternative, Punks, aber auch "Normalos" belebten den Bahnhof mit kollektiven Gesten und Verhaltensweisen, das alles klappte so gut und durch die Anweisungen durch´s Radio manchmal so perfekt wie choreographiert, es war einfach nur wunderbar lustig. Zum Beispiel sollte man sich dann an die Schaufenster der Geschäfte stellen und dranklopfen - das ist schon ein Bild wenn da ein paar Hundert Leute rumlungern und dann wie auf Kommando (ahem, es war ja eins) an dem Glas klopfen. Das Beste war natürlich, als alle auf einmal losrannten. Die Gesichter der Leute!!! Ein anderes Highlight natürlich das Schwenken der roten Servietten und Tücher: "So, jetzt winken wir mit unserem roten Tuch dem imaginären Zug der Revolution hinterher". 20 Uhr wurde dann das Ende der Aktion durchgesagt, was mit einem lauten Geschrei und Klatschen quittiert wurde - Zitat Vorbeigehender: "Machen die das wegen Olympia?" Ha! Ha! Insgesamt war die ganze Sache echt toll, es war unglaublich wie viele Leute sich beteiligt haben, viele Passantenreaktionen waren positiv (ausser wie gesagt man lag ihnen gerade im Weg) und medienwirksam war das Ganze sowieso! Ich freu mich auf´s nächste Mal! Ach so: obwohl die Bahn AG die Aktion im Vorfeld verboten hatte, hielten sich die (sowieso kaum vorhanden) Polizisten im Hintergrund und sahen sich die Sache nur an. Und die Wachschutzstreifen wussten wahrscheinlich gleich garnicht was abgeht, so ratlos wie die von 18:30 Uhr bis 20 Uhr glotzten. Es gibt kein Hausrecht für den öffentlichen Raum! Danke Radio Blau und alle die da waren!!
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Ergänzungen

Zum Schluss...

...ich 23.06.2003 - 00:45
...haben die Bullen dann doch noch versucht einen Mensch wegen seines T-Shirts zu verhaften, dies wurde jedoch durch angaiertes Handeln verhindert.
Sehr schöne Aktion mit vielen positiven Resonazen.

Anti-Kamera-Aktionen

elfboi 23.06.2003 - 02:38
Ich hatte schon vor einer Weile die Idee, man müsse mal in Köln eine Aktion gegen die ausufernde Pflasterung mit Überwachungskameras sowie die zunehmende Umwandlung einiger U-Bahn-Stationen in Einkaufszentren (Neumarkt, Appellhofplatz) starten. Wer hat Ideen, wer macht mit?

???

23.06.2003 - 02:51
ich würde moch ja nicht auf indy zu irgendwas verabreden. mit leuten direkt was planen ist günstiger. du weisst nie, wer hier schreibt.

23.06.2003 - 03:48
Wegen seines T-Shirts verhaften!!! Ist ja wie im Iran hier!!! Toller RechtSStaat!!!

Wunderschön

der Bewunderer 23.06.2003 - 10:26
... fantastisch, grossartig!
Danke Leipzig... wird Zeit das hier in Berlin auch mal sowas gestartet wird.

in NYC und co.

j 23.06.2003 - 11:59
hatten sich diese protestformen recht gut etabliert, in denen mehrere leute vor ein paar überwachungskameras mit "ich gehe gerade zur arbeit", "ich will nur einen freund besuchen", "mache gerade meine einkäufe" und ähnlichen schildern umherspaziert sind.
ich fand die relativ kreativ und auch leicht nachzumachen.
das nur so als tipp.

ja war gut

leipzscher allerlei 23.06.2003 - 16:40
ja, sehr gute aktion, war total überrascht wieviele mitgemacht haben..hätte nicht mit mehr als 50 leuten gerechnet...schön...ein highlight war eine ältere nonne, o-ton: "ihr lasst aber auch alles mit euch machen!"

ich denke, der erfolg zeigt, dass in leipzig doch potential für kreative aktionen vorhanden ist, wenn man nicht in irgendwelchen elitären einbahnstrassen rumkrebst...

...bin grad dabei, ein kurzes video vom radioballett zusammenzuschneiden...hat jemand ne idee was man dann damit machen könnte..?

video

mastermindchaos 23.06.2003 - 19:01
als ertes ins netz laden (webspace für umsonst gibts überall) und werbung dafür machen, zb hier oder schreib n eigenen artikel mit nem link zum video.
weiters kannste das bei linken veranstaltungen abspielen wo n beamer vorhanden is, vielleicht fährste auch zur fusion dieses wochenende, da gibts nen kino-hangar, die das vielleicht kurzfristig ins programm nehmen würden? es ist wichtig, solche dokus zu veröffentlichen!

video-hier posten!?

sc 23.06.2003 - 19:10
bez. video, hier posten, or!?

auf Deutschlandfunk wurde dafür geworben!

(S) 23.06.2003 - 20:44
letzte woche wurde die aktion von einem anrufer als kultur-event empfohlen. :)

Hintergrund

24.06.2003 - 19:10
zu situationellen Aktionsformen
 http://machno.hdm-stuttgart.de/~hk/si/konstru5.htm