Marburg durch Kommunikationsguerillas verschönert

Ein paar SchülerInnen 28.10.2002 13:51
Letzte Woche kamen wir als Schulklasse nach Marburg, um dort verschiedene Sehenswürdigkeiten zu besuchen. Das war nicht besonders spannend, zumal Zwangsveranstaltungen grundsätzlich scheiße sind. Glücklicherweise fand dort zum gleichen Zeitpunkt eine Kommunikationsguerilla-Week statt ... verschiedene Veränderungen im Stadtbild erfreuten uns und über ein verstecktes Theater lernen wir dann sogar einige AktivistInnen kennen.
Interessant war das, was wir in der frei verfügbaren Zeit in und um Marburg sehen konnten: Auf Werbeplakaten in Nähe des Bahnhofs wurden Comicblasen mit Sprüchen gegen Castor und Atomkraft, Polizei- und Repression, Geschlechterrollen und Herrschaftsverhältnisse insgesamt angebracht. In Telefonzellen fanden wir verschiedene Anzeigen ("Warum glaubst du, ein Mann der eine Frau zu sein? Geschlecht ist konstruiert ..." und "Warum glaubst du, heterosexuell zu sein? Normalität ist bröckelig ..."). In einigen der älteren, gelben Telefonzellen bemerkten wir pinke Zettel mit Kritik an Schule und pädagogischer Zurichtung. Parkuhren, Zigarettenautomaten und Ampeln wurden mit radikal-ökologischen und herrschaftskritischen Aufklebis versehen ("Die Zeit für Autos ist abgelaufen ... die Stadt gehört uns!", "Abhängigkeiten überwinden ... nicht nur das Rauchen" usw.).

Auch in einigen Läden bemerkten wir ähnliche Aufklebis auf ganz unterschiedlichen Produkten - z.B. Fleisch (mit Bezug auf die Nahrungsmittelverschwendung), Schönheitsprodukte oder solche mit Bezug auf Geschlechterrollen, Zeitschriften, Kinderspielzeug oder Coca Cola ("Coca Cola läßt GewerkschafterInnen in Kloumbien ermodern"). Auf Büchern und anderen Produkten gab es weitere, die Verwertungslogik und Privateigentum angriffen und Alternativen andeuteten: "Ladendiebstahl lohnt sich doch - gesellschaftlicher Reichtum statt Privatbesitz!" oder "Dieses Produkt ist entwertet - für eine Welt, in der allen alles gehört". Gut fand ich, dass auch sexistische Zeitungen als solche markiert wurden und so auf die Diskriminierung und Herabwürdigung weiblicher Menschen, die Normierung von Beziehungen usw. hingewiesen wurde. In der Spielzeugabteilung gab es ebenfalls einige Veränderungen: Auf den Packungen von Barbie und weitere (Baby-)Puppen wurden Comicblasen mit Kritik an Sexismus, Geschlechterverhältnissen und frauenfeindlichen Rollenklischees angebracht. Jemand aus unserer Gruppe erzählte uns später, dass Umkleidekabinen in der Modeabteilung mit gelben Zetteln, die ein Zwitter-Zeichen trugen, beklebt waren.

An einer Kasse sahen wir zwei Menschen mit eine Kaffemaschine, die mit einem Entwertungs-Aufklebis bestückt war. Auf die offensiven Fragen, ob das jetzt umsonst und der Kapitalismus abgeschafft sei, reagierte die Verkauferin verunsichert, hielt es für möglich, dass die Kaffemaschine oder einzelne Teile davon gratis sei. Es kommt zu Diskussionen zwischen ihr und den zwei Personen. Aus der Warteschlange folgen dann Pöbelein in Richtung der Umsonst-MitnehmerInnen ... "Wenn ihr kein Geld habt, geht doch arbeiten", "Wir müssen doch alle bezahlen" usw. Daraufhin gab es Ansätze einer Debatte um verwertungsfreie Gesellschaft und kollektiven Reichtum, zwei Punks solidarisierten sich mit den Umsonst-MitnehmerInnen. Nach einiger Zeit klärt ein herbei gerufefener Vorgesetzter auf, dass das Produkt nicht gratis sei ... die Situation ist beendet. Von Beteiligten erfahren wir später, dass es sich um ein spontanes, verstecktes Theater zu Kapitalismuskritik handelte. Später unterhielten wir uns länger mit den AktivistInnen, die berichteteten, dass es leider nur sehr wenig Beteiligung an der Guerillaweek gab, u.a. weil eine Mobilisierung und Informieierung im Vorfeld komplett fehlte. Eigentlich waren in der gesamten Woche auch Workshops zu Kommunikationsguerilla, Direkte Aktion, Widerstand im Alltag und Trainings einzelner Aktionsformen geplant - Anlaufstelle war das besetzte Haus in der Wannkopfstraße 13 ( http://www.nichtwissen.de). Dass und vieles anderes könne aber besser werden, z.B. weitere und mehr offene Aktionen und direkter Kontakt mit Menschen, der über anonyme Flugblätter hinaus geht. Schön wäre, wenn mehr Menschen in die Debatten und praktischen Versuche um einen widerständigen Alltag und phantasievolle Aktionen einsteigen würden ... dann kommen wir sicher wieder nach Marburg!

Sexismus und Homophobie eine kleben - Herrschaft angreifen und Alternativen entwickeln!
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Ergänzungen

sp12 28.10.2002 - 16:26
Ist ja langweilig ... jedes Mal, wenn die Norm von Zweierbeziehung kritisiert wird (und nicht etwa, dass Menschen damit glüclich) leben, wird direkt konstruiert, mensch wolle, dass alle mit allen Sex haben - das ist BILD-Zeitungsnivea und denuziert alle Versuche, jenseits von familiären Logiken zu leben. Es geht mir zumindest darum, bestimmte Normen zu hinterfragen und zu zeigen, dass auch andere Lebensweisen denkbar sind - der Angriff richtet sich gegen gesellschaftliche Diskurse, die Menschen unter Druck setzen, sich normgerecht zu verhalten. Und das die Mehrheit aller Menschen in Zweierbeziehungen lebt (obwohl damit so viel Scheiße verbunden ist), ist m.E. kein Zufall und hängt schon mit bestimmten Rollenbildern und Konstruktionen zusammen, ohne das das von außen aufgezwungen wird. Wie Menschen unter herrschaftsfreien Bedingungen zusammen leben würden, kann mensch nicht wissen - aber es wird sicher viele verschiedene Lebensformen neben einander gegen ... also keine Angst, die geliewbte Zweierkiste kann's auch weiter geben, aber dann ohne die gesellschaftlichen Privilegien usw.

Reisen bildet

saul 28.10.2002 - 17:06
Wieso glaubst du das du ein Mann bist? +fg+ Wieso glauben die Kleber, das sie die Wahrheit kennen? Zwangsheterosexualität ist heilbar? Wer zwingt euch denn? Werdet ihr neuerdings zwangsverheiratet? +sfg+ Solche Kulturen gibts ja. Geschlecht ist ein Konstrukt? Diese irre Aktion ist eher ein Fehlkonstrukt.
Wollen mal wieder die Welt auf den Kopf stellen und glauben die letzte und einzige Wahrheit gepachtet zu haben. Typisch Sektenlinke.

Kommentar leider zensiert

sp12 28.10.2002 - 17:58
Tja, der Kommentar, auf den ich mich bezog, ist von den Indys leider zensiert worden - da es nicht einmal Hinweise auf die Zensur gibt, ist jetzt natürlich alles unverständlich ... na ja, um das zu klären: Da stand, dass 'wir' sie nicht mehr alle hätten und es für revolutionär hielten, wenn alle "wild durcheinander vögeln" usw. An dieser Stelle schon mal vorweg der Hinweis, dass dieser Bericht sich auf eine tatsächliche Aktion bezieht. Notwendig ist dieser Hinweis, weil in letzter Zeit mehrere gefakte Berichte auf Indy zu Aktionen in Gießen und Umgebung auftauchten (wohl mit dem Hintergrund, ProjektwerkstättlerInnen zu diffamieren). Nun, alle Aktiosberichte, die authentisch sind, werden von
 http://www.projektwerkstatt.de/aktuell.html aus verlinkt - sozusagen mit "Echtheits-Siegel" ;-)

@saul

28.10.2002 - 18:15
Nö, wo steht denn, dass sie davon ausgehen die Wahrheit zu kennen - aber das in Frage stellen ist doch legitim, oder? Für den Vorwurf, dass es sich um Sektenlinke handelt, fehlt mir bisher die Argumentation ... WahrheitsfanatikerInnen sind eher die, welche ständig behaupten, Mann und Frau seien natürlich und die einzigen Geschlechter und die Existenz von Hermaphroditen und Menschen, die sich nicht weiblich oder männlich verorten wollen, leugnen.

Ich finde den Begriff Zwangsheterosexualität auch unscharf, aber richtig ist, dass Sexualität selbst das Ergebnis von gesellschaftlicher Zurichtung, Normen und Erziehung ist ... und die blendet wie viele Medien, Zeitschriften usw. nicht-heterosexuelle Lebensweisen aus und stützt einen Diskurs, in dem Heterosexualität die Norm ist. Von daher ist es kein Zufall oder freie Wahl, dass sich die Mehrheit als heterosexuell begreifen. Normierung ist auch eine Form von Herrschaft, die zwar nicht zwingt, aber eben die Köpfe regiert und sich so subtil auf das Verhalten von Menschen auswirkt.

Spielverderber

saul 28.10.2002 - 19:00
Normiert und zugerichtet wird bei diesn Haufen nicht weniger. Sorry, ist nun mal so, schreien ihre Parolen in die Welt und verkünden sie als letzte und unantastbare Wahrheit. Dieses Verhalten hat Tradition. Dann sollten wenigstens mal einige den Mund aufmachen und klar sagen, das die echt einen an der Klatsche haben. Wenn niemand widerspricht, glauben sie sogar noch, der Rest wär mit ihren Spinnereien einverstanden. Gut, die werden auch älter und beruhigen sich noch solang werd ich nicht warten, ich hab jetzt keinen Bock mir diese Schwachsinnsparolen anzuhören.

Mit Tausendundeinem Thema!

Lena 28.10.2002 - 20:53
Massenhaft Dreck auf Andere schmeissen!
um vom Eigenen Riesen Bockmist ab zu lenken!

blah

elfboi 28.10.2002 - 21:16
Seit Jahren versuche ich meinen Eltern klarzumachen, daß Geschlecht nur ein Konstrukt ist. Ob ich das jemals schaffe? Ich weiß es nicht. Vielleicht sollte ich es mal riskieren, übernächstes Wochenende, wenn ich sie besuche, so aufzutauchen, wie ich jetzt gerade am PC sitze, also geschminkt...

Schreien ihre Parolen in die Welt?

wer 29.10.2002 - 01:46
Verkünden sie als die letzte Wahrheit?
Heimlich Aufkleber anzubringen und eine Kassiererin auf nette und legale Art und Weise aus der Ruhe zu bringen (sie hätte es echt geglaubt...) ist für mich genau das Gegenteil davon, noch dazu gab es - wie berichtet - überhaupt keine Mobilisierung für die Aktion (von wegen in die Welt schreien).Dass hier jemand auf irgendeiner Wahrheit besteht, wird auch nicht ersichtlich.
Es ist heutzutage einfach wichtig, alles in Frage zu stellen, u.a. deshalb, weil viele Menschen gar nicht auf den Gedanken kämen dieses selbst zu tun.
Und sowas geht halt gut mit der Sex- und Geschlechterfrage, auch wenn hierbei die Gefahr besteht, dass das einige Vekrustete 100prozentig ernst nehmen und sich angewidert/angegriffen fühlen müssen...

Schreihälse

saul 29.10.2002 - 02:33
Da schwappt mal wieder der Dreck aus Unizirkeln ins Netz. Ham se sich fein ausgedacht, das Geschlecht ist nur ein Konstrukt und Männer und Frauen gibts gar nicht. Bielefeld existiert auch nicht wie der Netzuser mittlerweile erfahren hat. Seltsam, schwanger geworden bin ich noch nicht, hab ich irgendwas falsch gemacht?
Genauso wütend wie einige Deppen der Welt klarmachen wollen, das es keine Völker
gibt, versuchen diese Spinner es mit dem Geschlecht. Mal sehn was sie sich noch so ausdenken. Das Internet ist nur ein Konstrukt, Indy eh. Na dann seid mal konsequent und haut ab, dann nervt ihr wenigstens hier nicht mehr. Ey Leut, seit wann geht das so? Wann hat denn das angefangen? Wollen wir mal drüber reden? Könnt sein, das wir das heilen können.

find's lustig

Blumenkind 29.10.2002 - 09:32
gute Aktion! Ob Mann&Frau nun konstrukt sind oder was, ich glaub ein paar Kommentatoren hier koennten mal ne Prise Humor gut vertragen.... jedenfalls sind die toten Gewerkschafter in Kolumbien ein hoechst reales Konstrukt unserer Lebensform, und das genau den Leuten mitzuteilen, die das Produkt grad am Kaufen sind, extrem korrekt. Immer weiter so!

Seltsame Strategie

Herr Rossi 29.10.2002 - 10:46
In Deutschland Aufkleber auf Englisch zu verkleben, ist - gelinde gesagt - nicht sehr schlau. Oder wollt Ihr nur die Bildungs-Elite ansprechen? Dann versucht es mal mit Französisch. Die hat noch mehr das Image, Intellektuellen-Sprache zu sein, und wird von noch weniger Menschen in Deutschland verstanden.

Ein ähnlicher Verdacht kommt mir, wenn es um den Destruktivismus in der Geschlechter-Debatte geht, ohne den Menschen jemals erklärt zu haben, daß es hier um "gender" geht, also das soziale Geschlecht, und nicht um "sex", das natürliche Geschlecht. So eine Diskussion führt man auch nicht auf Aufklebern in Telefonzellen. Jedenfalls dann nicht, wenn man noch von irgendjemandem ernst genommen werden möchte.

Saul räumt auf mit den linken Weicheiern die

BesserWessi 29.10.2002 - 11:14
Saul, in Telepolis ist gerade ein schöner Text über Dich:  http://www.heise.de/tp/deutsch/inhalt/glosse/13504/1.html

@Herr Rossi

any-one 29.10.2002 - 13:52
Ich hab mich mal in Marburg umgesehen - nur einer der geklebten Sprüche war englisch. Und ich denke, dass die Sprache wohl nicht wegen Bildungseliten, sondern Menschen gewählt wurde, die kein Deutsch sprechen. Und zum Thema Geschlecht: Richtig ist, dass einzelne Aufkleber nicht ausreichen, um komplexe Zusammenhänge zu thematisieren - da bräuchten wir schon andere Aktionsformen - aber den Versuch, auch an alltäglichen Orten Normalität zu hinterfragen, finde ich richtig ... das nächste Mal vielleicht mit etwas Text (z.B. für WC-Türen, da sitzt mensch ja ein Weilchen) oder mehr verstecktes Theater oder Aktionen, wo es Direktkontakt mit Leuten gibt. Soweit ich es mitbokommen habe, waren auf verschiedenen Aufklebern auch Internetseiten angegeben, die mehr Vermittlung ermöglichen.

sex oder gender?

Trans-Fee 29.10.2002 - 14:01
Also ich denke, dass die Trennung in sex (biologisch) und gender (soziales) nicht wirklich so sinnvoll ist. Es heisst so nett: sex ist die Projektion des genders auf den Koerper. Insofern kann auch einfach von Geschlecht gesprochen werden, ohne den Begriff 'gender' zu verwenden, der nicht allen menschen gelaeufig ist.
Das ist eigentlich nur sinnvoll, um auf die spezielle Problematik von Transsexen hinzuweisen, im Gegensatz zu anderen transgenders.

Sonst, Aktionen im Bereich von Feminismus und Geschlechterdekonstruktion sind zur Zeit so selten, wir sollten alle mal uns freuen, dass hier ein paar neue Ideen entwickelt werden.

Abbuzze!!!

saul 29.10.2002 - 16:34
Wieso Eier? Eier sind nur ein Konstrukt wie mir hier eingehämmert wird. Aufräumen muß man hier tatsächlich. Mit dem unkritischen Verhalten, den ideologischen Irrsinn der stets aus Linken Bleiwüsten hochschwappt, ernstzunehmen. Weil die Leut das für allgemeinverbindlich halten und dazugehören wollen, statt endlich zu raffen, das es von kleinen Minderheiten kommt die selbst in der Restlinken bedeutungslos sind. Ohne Internet wüßten die meisten nicht mal was von ihrer Existenz.