Aktionstag, Demo und Anschlag ... 14.9. in Gießen

Anarcho-Hoppel 15.09.2002 16:46
++ Antirassistischer Aktionstag in Gießen ++ Ab 12h bis zu 150 Menschen an bunt-lauter Demo gegen Rassismus und Fremdbestimmung beteiligt ++ Polizeiwillkür ohne Rechtsgrundlage ++ Ab 17h Kundgebung und Straßenparty vor dem Knast ++ Brand- und Sprühanschlag auf das Landgericht in der Nacht zuvor ++
Ab 12h kreative Demonstration durch Gießen
Der Start war eher schwach ... Polizeiwilkür ohne Ende: Personenkontrollen, ein schmucker Antiwahl-Performance-Wagen (mit Aktionsmateriaslien) samt Fahrrad und veränderten Wahlplakaten wurde ohne Rechtsgrundlage - wie die Bullen zugaben - beschlagnahmt, Transparente verboten - selbst Schafsmasken für eine Thaterpüerformance wurden mit dem Verweis auf das Vermummungsverbot untersagt. All das - bis auf Ausnahmen - ohne große Gegenwehr seitens der DemonstrantInnen, was wir sehr schade fanden, das wirkte irgendwie mehr "schafherdig" als selbstorganisiert. Auch kam die Frage auf, ob ein positiver Bezug auf das Demorecht noch Sinn macht, wenn dieses doch so eng beschnitten ist.

Als sich die Demo nach Auftaktkundgebung in Bewegung setze, wirkte das Ganze aber wesentlichj dynamischer & richtig cool: Sehr viele inhaltliche Transparente ("Herrschaft abwählen", "Offene Frenzen", "Für selbstbestimmtes Leben"), viele Musikinstrumente und Krachmacher (Trommeln, Tröten, Trillerpfeifen, Rasseln usw.), ein Lautiwagen mit bunt gemixter Musik für alle Geschmäcker und weitere Utensilien ("Deutschland-Klobürsten-Püschel", versch. Flugis & Zeitungen usw.) verliehen der Demonstration einen sehr lebhaften Charakter. Das zusammen produzierte gute Stimmung unter den DemonstrantInnen und erzeugte Aufmerksamkeit nach außen. Entgegen unserer Befürchtungen und der scheinbaren Alternativlosigkeit des Attac-Events in Köln beteiligten sich an der Demonstration bis zu 150 Leuten.

An zentralen Plätzen gab es verschiedene Redebeiträge, u.a. zu Knast, Repression und Herrschaft, staatlichem wie gesellschaftlichen Rassismus und antirassistischer Praxis. MigrantInnen berichteten über ihre Situation, ihre Wünsche und Erfahrungen mit deutschen Behörden, von denen sie sich als "Kriminelle" behandelt fühlen. Dazu einige Einzelperformances, die die Demonstration noch einmal bunter machten ... z.B. immer wieder Tänze und Gesänge von MigrantInnen, "no border - no nation - stop deportation"-Parolen oder ein einsamer Pink-Silver mit Trommel & Püschel, der offensiv das Gespräch mit PassantInnen suchte ("Wer hat hier noch deutsche Schuhe an?"). Witzig: Im Innenstadtbereich gab es massive Polizeiabsperrungen, um Wahlpropgagandastände der Parteien vor "Angriffen" zu schützen. Ähnlich erfreulich war es, entlang der Demoroute langen Reihen von Wahlplakaten zu begegnen, auf denen zahlreiche Verschönerungen zu erkennen waren - ganz zur Freude der TeilnehmerInnen (Grinsefressen, kleine Veränderungen und inhaltliche Sprüche als Überklebis ... siehe http://www.projektwerkstatt.de/hoppetosse/antiwahl/download.html#plakate). Ein, zwei mal verweilte die Demo zum Ärger der Bullen etwas länger auf Straßenkreuzungen ... beim zweiten Mal wurden wir "sanft" auf den Platz der angemeldeten Kundgebung geschoben. Nach einer Abschlusskundgebung am Kugelbrunnen wurde die Demo aufgelöst ... im wahrsten Sinne des Wortes: Nachdem von 10 runter gezählt wurde, rannte fast die gesamte Demo in die FußgängerInnenzone davon ... hihi

Ab 17h Kundgebung und Straßenparty vorm Knast
Um 17 Uhr trafen sich etwa 30-50 Menschen vor dem Knast in Gießen (Anti-Knast-Aktion ein paar Wochen zuvor: http://www.de.indymedia.org/2002/08/28095.shtml) ... dazu eine bizarre Bullenpräsenz (ca. 18 Einsatzfahrzeuge, darunter zahlreiche Wannen wurden gezählt), die sich aber recht friedlich verhielten und weitestgehend damit begnügten, die Einfahrtsstrassen abzusperren. Über den Lauti wurde die Kundgebung und der direkt dahinter liegende Knast mit druckvoller Musik beschallt ... dazwischen immer wieder Redebeiträge, die Knast als Zuspitzung von Herrschaft angriffen, und Grußworte an die inhaftierten Menschen. Schnell und dann kontinuierlich kam es zu Reaktionen in Form von Rufen aus dem Inneren des Knastes, die wir leider nicht richtig verstehen konnten. Außer der Parole "Die Mauer muß weg", welche sich immer wieder zu beidseitigen Sprechchören entwickelte. Das war schon irgendwie "rührend", auch wenn die Langeweile des Knast-Alltages damit nur für kurze Zeit durchbrochen werden konnte. Zeitweise war die Stimmung sehr ausgelassen ... Menschen tanzten auf der Straße, andere machten Lärm mit Trillerpfeifen und Trommeln, spielten mit Luftballons und zerdepperten die selbstgebastelten Deutschland-Wahlurnen. Die Einsatzleitung der Polizei, welche sich wiederholt beschwerte, dass eine Straßenparty nicht der angemeldeten Kundgebung entspreche, wurde ziemlich "dekonstruiert" ... einige tanzten um sie herum, andere gingen einfach weg ("Mit denen zu reden ist doch langweilig ... lass mal weiter tanzen") oder bewarfen die Bullen mit Papierschnippseln.

In der Nacht zuvor hatte es einen Brand- und Sprühanschlag auf das direkt anliegende Landgerichtsgebäude gegeben. Bis auf einige verbretterte Fenster war davon nichts mehr zu sehen. Rundfunk und Zeitungen berichteten jedoch, dass Brandsätze "auf die drei Fenster der unteren Etage links neben dem Eingang des Landgerichtsbebäudes geworfen"* wurden. "Auf das Gebäude der Gerichtskasse wurde mit roter Farbe die Parole »Feuer und Flamme für Knast/Justiz und Staat!« sowie ein »A« in einem Kreis dahinter gesprüht."* Dies wurde in den Redebeiträgen mitgeteilt, worauf die TeilnehmerInnen mit Jubel und Beifall reagierten - was die anwesenden OrdungshüterInnen wenig erfreute ... (*Zitate aus dem Sonntagmorgenmagazin für Gießen, 15.9.02, Titelseite)

Der Link unten führt zu einer Sonderseite ... dort gibt es mehr Bilder, eine ausführliche Chronologie, Redebeiträge und Links rund um den 14.9. in Gießen.

Herrschaft abwählen ... sofort anfangen! Leben ohne Rassismus, Nationen und Fremdbestimmung!

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Ergänzungen

Weiterer Bericht + Bilder

Politrockerin 15.09.2002 - 17:07
Hier ein weiter Bericht mit Bildern von der Demo, u.a. die Antiwahlanhänger-Beschlagnahmung und Aufnahmen des Demozuges dabei ... weitere Berichte zu 14.9. und Antiwahlaktionen gibt es übrigens unter  http://www.wahlquark.de.vu

Brief an Bullen

Anti-Wahlmobil-Fahri 15.09.2002 - 20:35
Hier das Fax an die Bullen wegen der Beschlagnahme des Anti-Wahl-Mobils (Bild der Beschlagnahme siehe Link):


An das Polizeipräsidium Gießen



Widerrechtliche Beschlagnahme von Fahrrad, Anhänger, Kleidung und mehr
am 14.9. ca. 12.15 Uhr auf dem Bahnhofsvorplatz Gießen


Sehr geehrte Damen und Herren,
seit der beschriebenen Beschlagnahme sind die genannten Utensilien verschollen. Für die Beschlagnahme wurde kein Grund genannt außer dem, daß es sein könnte, daß es zukünftig welche geben könnte – ein bemerkenswertes rechtliches Konstrukt.
Ich sollte mit einer pauschalisierten Beschlagnahmequittung abgespeist werden. Nachdem ich eine präzise Liste der beschlagnahmten Gegenständige einforderte, erhielt ich gar nichts mehr. Obwohl damit das ganze eher ein „bewaffneter Raubüberfall“ war (ohne Rechtsgrundlage und Quittung), habe ich bis heute keine Rückmeldung von den als Räuber auftretenden Polizeitruppen erhalten.

Ich erwarten, daß Sie die beschlagnahmten Gegenstände vollständig und unverzüglich an mich zurückgeben. Als Übergabeort schlage ich die Projektwerkstatt in Reiskirchen-Saasen, Ludwigstr. 11 vor.


Mit freundlichen Grüßen

Vergiss dein Walmobil!

Ute 15.09.2002 - 23:57
Das ist schon längst Grün Weiss Umlackiert, und fungiert als Ständer für Fahndungs Flugis!

komisch

sandra 16.09.2002 - 01:00
der Bericht über die Demo und kreativen aktionen hören sich total gut an. Aber irgendwie löst der Bericht als ganzes ein Unbehagen bei mir aus.
Es klingt fast unglaublich, dass die Polizei nicht gleich die ganzen 150 Leute eingefahren hat. Der Anschlag in der Nacht davor, kommt zu einem schlechten Zeitpunkt....somit federt er die ganze Repression auf die Demo ab. Wenn die Leute dahinter stehen....okay, tun sie das ?
Einerseits ist es toll wenn sich die Leute nicht einschüchtern lassen, Repression sollte sich nie lähmend auswirken, aber dieser "frecher" Aspekt der hier im Bericht rüber kommt klingt zum Teil....naiv. Es hätte uns auch nicht wundern sollen wenn genau das gleiche Vorgehen zu einer breiten Verhaftung von Leute geführt hätte....dafür brauchen sich Verhältnisse echt nicht mehr viel verschärfen....aber vor der Wahl was das wohl noch hinnehmbar. Trotzdem.....irgendwie ein Spiel mit dem Feuer. Den Anschlag hätte man sich sparen sollen, oder auf die Farben beschränken sollen finde ich.

Trotz der kreativen Demo und Öffentlichkeitsarbeit, scheint das ganze ziemlich isoliert und auf die lokale Anarcho Szene reduziert, oder ?

Tolle Sache...wenn die Risiken gut abgeschätzt wurden.

Vermittlung Brandanschlag?!

ich 16.09.2002 - 02:52
Salut,

gab es zu dem Brandanschlag auch ein Bekennerschreiben oder sonstiges was einem das mehr vermittelt?
Bis jetzt ist mir nich ganz klar was das sagen soll, ausser dem Angriff gegen die Justiz.

Freu mich auf Antwort...

Ausgesessen bis zum Tod

giessener express 16.09.2002 - 17:37
Express Online: Thema der Woche | 7. März 2002

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"Ausgesessen bis zum Tod"
Am Morgen des 9. Februar wählte der 40-jährige Kurde Hüseyin Vurucu den Freitod. Seine
Persönlichkeitsstörung hatte sich zu einer posttraumatischen Depression ausgeweitet, seit er in der
Türkei politisch verfolgt und gefoltert worden war. Nicht einmal die psychiatrischen Gutachten, die ihm
seine Krankheit bescheinigten, bewirkten eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung
Mitte der 90er kam Hüseyin Vurucu mit Frau und Kindern nach Stadtallendorf. Er stammte aus der
ostanatolischen Stadt Urfa, wo er als Angestellter der Stadtverwaltung lebte. 1980 heiratete er seine
Frau Sultan; die ersten der insgesamt sechs Kinder ließen nicht lange auf sich warten. Was in den
folgenden Jahren geschah, weiß man nicht mit klarer Sicherheit: Vurucu hat bis zu seinem Tod kaum
davon geredet, zuletzt nur stockend davon erzählt. Sein Bruder war als Mitglied der kurdischen
Arbeiterbewegung PKK mit dem türkischen Staat in Konflikt gekommen. Hatte auch Hüseyin Vurucu die
verbotene Organisation untestützt? War er lediglich als Verwandter in die Verfolgung geraten?. Fest
steht, dass er gefoltert wurde. Fest steht laut psychatrischen Gutachten ebenfalls, dass diese Folter die
posttraumatische Störung hervorgerufen hat, die ihn in einen Teufelskreis manövrierte. Seine
Depressionen haben ihn nicht vor der Abschiebung bewahrt. Sie bewirkten stattdessen, dass er die
Folterungen, die er erlitten hat, nie beschreiben konnte. ,,Er hatte offenbar so Grauenhaftes erlebt, über
das er nicht sprechen konnte, dass er den Weg in die Krankheit suchen musste", wie sein Rechtsanwalt
Ludwig Müller-Volck aus Frankfurt es formuliert. Grotesk: Weil er gefoltert worden war, war er krank.
Weil er krank war, glaubte man ihm die Folter nicht.

Zwei verschiedene Psychiater bescheinigten ihm ausdrücklich eine Persönlichkeitsstörung, die durch die
posttraumatische Belastung verstärkt wurde. Für die behandelnden Mediziner gab es keinen Zweifel
daran, dass Hüseyin Vurucu Opfer von Folter geworden war - ebenso wenig wie für seinen Anwalt oder
für Mehmet Tanriverdi, den Ehrenvorsitzenden der Deutsch-Kurdischen Gesellschaft Gießen e.V., der
sich vehement für die Familie Vurucu einsetzte und es auch heute noch für Hüseyins Hinterbliebene tut.
Die Gutachten klingen eindeutig in ihrem Urteil: ,,Herr Vurucu fürchtet seine aggressiven Impulse, zieht
sich deswegen zurück, wobei die Gefahr besteht, dass sich die Impulse in Autoaggression umwandeln",
warnte das Gutachten bereits im April 1999. Der Gutachter schließt mit den Worten: ,,Aus
psychiatrischer Sicht halte ich es nicht für verantwortbar, Herrn Vurucu abzuschieben." Der Tenor des
zweiten Gutachtens aus jüngerer Zeit lautet gleich: ,,Diagnostisch liegt eine reaktive Depression bei [...]
posttraumatischer Belastungsstörung vor. [..] Bei weiterer Verschlechterung ist auch eine
stationär-psychiatrische Behandlung zu überdenken. Eine Rückkehr in die Türkei würde
höchstwahrscheinlich eine weitere drastische Verschlechterung der psychischen Verfassung nach sich
ziehen."

Diese Gutachten kannten die Gerichte. ,,Aussitzen bis zum Tod" benennt Vurucus Rechtsanwalt
Müller-Volck das Verhalten der zuständigen Behörden. Solange der Status Vurucus als Asylbewerber
nicht geklärt war, hing sein Aufenthalt in Deutschland lediglich von der Frage ,,Reisefähig oder nicht?"
ab. Von heute auf morgen hätte der Amtsarzt ihm Reisefähigkeit attestieren können - Vurucu wurde
intensiv behandelt, mit Sicherheit gab es Phasen, in denen es ihm besser ging als in anderen - und er
hätte abgeschoben werden können. Und das, obwohl ein Verfahren auf Neuprüfung der Sachlage vor
dem Verwaltungsgericht Gießen von Rechtsanwalt Müller-Volck beantragt war. Dieses ausstehende
Verfahren änderte nämlich überhaupt nichts an der drohenden Abschiebung: Hätte Hüseyin Vurucu
wohlbehalten ein neues Leben in der Türkei beginnen können, dann hätte man triumphieren können,
dass das Asyl nicht notwendig war. Wäre er erneut verfolgt worden - nun, dann hätte es sich eben um
einen Irrtum gehandelt.

Ich trauere um einen Mandanten und werfe mir vor, keinen Richter überzeugt zu haben", erklärt der
Jurist. ,,aber meine Trauer und auch mein Zorn über die Taubheit der Entscheidungsträger werden
verhallen. Das Schicksal meines Mandanten wird ein vergessener Unglücksfall im Räderwerk der
Asylverweigerung werden. Wir werden alle wieder zur Tagesordnung übergehen, wenn der Fall uns
jemals überhaupt betroffen gemacht hat." Hüseyin Vurucu wurde bis zu seinem Tode in Deutschland nur
geduldet, solange ihm der zuständige Amtsarzt Reiseunfähigkeit bescheinigte. Dass diese Duldung sich
auch auf seine Familie erstreckt, war keineswegs immer selbstverständlich: Lange Zeit liefen zwei
getrennte Asylverfahren um die Aufenthalte von Hüseyin und Sultan Vurucu. Für Gisela Tausch vom
Diakonischen Werk in Marburg ist diese Situation nichts Neues. Sie kennt die Familie seit 1997 und weiß
zu erzählen: ,,Ausländerbehörden gehen mehr und mehr dazu über, Familien zu trennen." Erst die
Einsicht, dass es ein Teil der Behandlung des psychisch kranken Mannes sein muss, seine Familie sicher
um sich zu wissen, verknüpfte Sultans Aufenthaltserlaubnis an die ihres Mannes. Diese Einsicht kam
jedoch zu spät für die beiden ältesten Söhne der Familie: Da sie nach der Einreise nach Deutschland
bereits volljährig waren, sollten sie abgeschoben werden. Aber vor dem Vollzug der Abschiebung
verschwanden sie und leben seitdem illegal - irgendwo. Niemand weiß oder wagt zu wissen, wo sich die
zwei aufhalten.

Die Belastung, unter der Hüseyin zuletzt stand, war immens: Er litt unter seiner Krankheit. Aber anstatt
auf seine Heilung hoffen und hinarbeiten zu können, quälte ihn die Gewissheit, dass er und seine Familie
mit dem Ende seiner Leiden abgeschoben würden. Dieser Druck war wahrscheinlich nicht weniger groß
als seine ständigen Kopfschmerzen, seine Magenschmerzen, seine Schlafstörungen und Alpträume,
seine Bilder im Wachen und im Schlaf von Waffen, Gewalt und Kämpfen.

Vielleicht ist die Frage nach dem letztlichen Auslöser des Freitodes weniger wichtig als die Einsicht, dass
man Hüseyin Vurucu lange vor dem 9. Februar hätte helfen müssen. ,,Wäre er in eine Folgebehandlung
für Folteropfer gekommen, wäre er wahrscheinlich noch am Leben", sagt Mehmet Tanriverdi ernst.
Solange seine Folter angezweifelt wurde, machte keine Behörde Anstalten, sich um einen der raren
Plätze ihn Deutschland für ihn zu kümmern ,,Sein Selbstmord war sicher eine Verzweiflungstat - aber es
gab eine Reihe von Gründen. Hüseyin war körperlich gesund, doch man erlaubte ihm nicht zu arbeiten.
Er hatte keine körperliche Beschäftigung. Arbeitsverbote sind menschenunwürdig."

Zwei deutliche Hilferufe des Verstorbenen gingen seiner Verzweiflungstat Anfang Februar voraus:
Letzten Sommer schluckte er 50 Tabletten und wurde gerade rechtzeitig vom Bruder seiner Frau,
Ibrahim Aksoy, gefunden - oder besser, ließ sich finden: Am Morgen dieses Selbstmordversuches hatte
er sich mit einem Schwager telefonisch verabredet. Der zweite Hilferuf sandte er nur wenige Tage vor
seinem Suizid aus, als er die Polizeiwache in Stadtallendorf aufsuchte mit den Worten, es gehe ihm
nicht gut, er wolle ins Krankenhaus gebracht werden. Er stieß auf Unverständnis und wurde nach Hause
geschickt.

Seit dem 9. Februar kümmert sich Aksoy um die Familie, so gut es geht. ,,Meine Familie, sie steht unter
Schock", sagt er. ,,Ich bin seit diesem Samstag die meiste Zeit hier, ich kümmere mich um sie. ich
mache mir Sorgen um meine Schwester, sie ist zuckerkrank. Unsere Hoffnung ist, dass man uns hilft."

Dass Hüseyin Vurucu in der Türkei bereits in Abwesenheit - das heißt, nachdem er mit seiner Familie
nach Deutschland ausgereist worden war - verurteilt worden war, hatten die zuständigen Beamten im
Verwaltungsgericht Gießen schlichtweg nicht berücksichtigt, als sie im Mai 1998 den Asylantrag
erstmalig ablehnten. Solange er lebte und nachweislich krank war, mussten die Behörden die Familie
dulden. Nun, nach seinem Tod ist die Familie der Abschiebung einen großen Schritt näher gerückt. Was
erwartet sie, falls sie tatsächlich in die Türkei zurückkehren müssen? Mehmet Tanriverdi kennt einen
Teil der Antwort: Der älteste Sohn Ferdi würde sofort zum Militär eingezogen werden, da er bereits
über 18 Jahre alt ist. Ludwig Müller-Volck kann die Antwort ergänzen: ,,Eine alleinstehende Frau mit
nicht erwerbsfähigen Kindern hat keine Chance, eine Existenz aufzubauen."

Julia Dombrowski

Aktualisierte Infos

HoppeNase aus Saasen 17.09.2002 - 19:30
Aktualisiert am Dienstag, 18.30 Uhr:
- Bericht des Ganzen:  http://www.projektwerkstatt.de/giessen/14_9bericht.html

- Sammlung von Pressetexten (gescannt):  http://www.projektwerkstatt.de/giessen/14_9presse.html