Reportage aus Kolumbien (vor der Wahl)

Karl-Ludolf Hübener 28.05.2002 18:55
Vielleicht ist der Konflikt in Kolumbien nicht so gut als Projektionsfläche für bestimmte Deutsche geeignet, aber auf jeden Fall lässt sich dort in der aktuellen Situation viel lernen.
Am Ufer des Magdalenen-Stroms in Barrancabermeja, einer Stadt mit 400.000 Einwohnern, 45 Flugminuten entfernt von Bogotá, der Hauptstadt Kolumbiens. Der Fluss war über Jahrhunderte hinweg die wichtigste Verbindung zwischen Küste und Binnenland. Kleine Boote fahren auf den Strom hinaus. Fast eine tropische Idylle. Doch am Ufer reihen sich neben "restaurantes", die teilweise eher Bruchbuden ähneln, Hütten aus Brettern und Blech auf. Die Menschen sind einfach gekleidet: Gummisandalen, Hemd oder T-Shirt über den Shorts, teilweise verschlissen und verblichen. Germán Osman von der Gewerkschaft der Erdölarbeiter in Barrancabermeja:
"Elendsviertel durchziehen die ganze Stadt. Ergebnis der Flucht aus anderen Regionen; Menschen, die vor Gewalt und Krieg geflüchtet sind. Dazu kommt eine Arbeitslosigkeit, die allein hier im Stadtgebiet von Barranca 30 Prozent übersteigt. Außerdem gibt es informelle Arbeit - aber was heißt schon 'informell' - besser hieße es: Unterbeschäftigung einer Bevölkerung, die hauptsächlich davon lebt, was sie aus dem Magdalenen-Strom herauszieht: Fisch als Frühstück, Fisch als Mittagessen. Fisch als einzige Nahrung."
Vom Ufer wie vom Sitz der Gewerkschaft aus gut sichtbar eine schwarze Rauchwolke, Rauch aus der wichtigsten Raffinerie Kolumbiens, Eigentum der staatlichen Erdölgesellschaft "Ecopetrol". Kolumbien ist der drittgrößte lateinamerikanische Erdölexporteur, nach Mexiko und Venezuela. Hauptabnehmer sind die USA. Der Sitz der Erdöl-Gewerkschaft, ein Kastenbau, ist scharf bewacht. Immer häufiger dringen Paramilitärs in Viertel Barrancabermejas ein. Völlig unbehelligt und am helllichten Tag. Sie erklären Personen zu "militärischen Zielen", was nichts anderes als Todesdrohungen sind.
"In den letzten zehn Jahren sind über 3200 Gewerkschaftler ermordet worden. Diese waren politisch links eingestellt, woraus sich folgern lässt, dass es sich um einen Mordplan der extremen Rechten handelt."
So der Gewerkschaftsexperte Miguel Cardenas. Nicht wegen eines einzigen Mordes an Gewerkschaftlern ist bisher eine Strafe verhängt worden. Nicht von ungefähr waren und sind Gewerkschaftler Zielscheibe. Ihre Forderungen sind mächtigen Kreisen in Kolumbien mehr als unbequem. Zuletzt hatten führende Gewerkschaftler den neoliberalen Kurs der letzten Regierungen heftig kritisiert. German Osman:
"Aus einem Land, das vor allem landwirtschaftlich geprägt ist und bis dahin einige Nahrungsmittel exportierte, ist ein Land geworden, das nun Lebensmittel im Ausland einkaufen muss. Früher wurden nur 700 000 Tonnen Nahrungsmittel importiert, heute sind es dagegen sieben Millionen Tonnen. Es handelt sich vor allem um Produkte, die wir traditionell anbauten: Mais, Kartoffeln und Bohnen werden nun eingeführt. Der Reisanbau ist zusammengebrochen. Der Reis kommt nun aus Indien und China - zum halben Preis."
Das neoliberale Modell sieht vor allem Privatisierung von Staatsunternehmen, einen harten Sparkurs im Haushalt und eine bedingungslose Marktöffnung vor. Das bedeutet auch den Wegfall von Subventionen und günstigen Krediten für Kleinbauern. Der Konkurrenz billiger Nahrungsimporte waren viele kolumbianische Bauern nicht gewachsen.
Zahlreiche Bauern in Kolumbien, einem der führenden Kaffeeproduzenten in der Welt, waren bereits 1989 verzweifelt, als das Internationale Kaffeeabkommen gekündigt wurde und die Preise daraufhin rapide sanken. Bis dahin war die Exportquote der Mitgliedsländer der jährlichen Nachfrage in den Verbraucherländern angepasst worden. Über Jahrzehnte hinweg blieb der Preis für Rohkaffee relativ stabil.
Die Kleinbauern, die mit Kaffeekirschen ihr Überleben gesichert hatten, nahmen Kredite auf, um die vermeintliche Durststrecke zu überwinden. Aber die Preise erholten sich nicht mehr. Vielmehr vernichtete die weltweite Kaffeeschwemme viele bäuerliche Existenzen. Etwa eine Million Kolumbianer haben im letzten Jahrzehnt ihren Job auf dem Lande verloren. Viele haben ihr Heil in der Drogenwirtschaft gesucht. Sie pflanzen Coca-Sträucher und Schlafmohn an.
Bauern sind in Kolumbien immer wieder von ihren bescheidenen Äckern vertrieben worden. Eine Landreform, die den Namen verdient, hat Kolumbien nie erlebt. Das Vorstandsmitglied des gewerkschaftlichen Dachverbandes CUT, Alfonso Velasquez:
"Der anbaufähige Boden ist hier in den Händen einiger weniger Personen. Diese haben im Land stets das Sagen gehabt. Es sind dieselben, die über Banken und Industrie verfügen. Es handelt sich um eine Oligarchie, die aber zu keinem Zugeständnis bereit war und ist, wenn es um die Umverteilung des Reichtums und soziale Investitionen geht."
Kolumbien wetteifert mit Brasilien um den ersten Rang bei der ungleichen Verteilung der Einkommen in Lateinamerika. Das hat auch mit einer Demokratie zu tun, die die Privilegien einer Minderheit immer wieder abgesichert hat, wie der exliierte Essayist und Soziologe Alfredo Molano erklärt:
"Ich glaube, in Kolumbien gibt es eine Demokratie, allerdings eine sehr eingeschränkte Demokratie. Für die Sektoren, die immer dominiert haben, gibt es sicherlich eine funktionierende Demokratie: für die Herren des Kapitals, für Bankenbesitzer, für Geschäftsleute. Aber es ist eben eine Demokratie, in der nicht alle Äußerungen berücksichtigt werden: beispielsweise die der Bauern, der Arbeiter, der Indianer, der Mittelklasse."
Kolumbien erfüllt alle formalen Merkmale einer parlamentarischen Demokratie. Theoretisch, aber praktisch sieht es anders aus.
"Seit der Gründung der Republik haben zwei Parteien das Land regiert. In keinem anderen Land Lateinamerikas ist ähnliches passiert. Die Konservative und die Liberale Partei regieren dieses Land seit 1850. Das heißt, dass jede Form von Opposition ausgeschlossen wurde und noch heute ausgeschlossen wird."
So gut wie alle Präsidenten Kolumbiens, aus den Reihen der Liberalen und Konservativen, waren Vertreter starker wirtschaftlicher Interessen und Mitglieder bekannter familiärer Dynastien. Auch der bisherige Präsident Andrés Pastrana zählt dazu. Opposition und abweichende Meinungen hatten nur wenig Chancen. Die Methoden der Liberalen und Konservativen, um politische Gegner auszuschalten, beschreibt Orlando Fals Borda:
"Regelmäßig sahen sich die beiden traditionellen Parteien von dritten Kräften herausgefordert. Wenn ihnen diese zu gefährlich erschienen, haben sie die Führer dieser dritten Kräfte umgarnt, in die eigenen Reihen aufgenommen oder gekauft. Und wenn das nicht gelang, haben sie diese ermordet."
Orlando Fals Borda, ein renommierter Beobachter der politischen Geschichte Kolumbiens, hat sich schon früher in alternativen politischen Bewegungen engagiert. Heute unterstützt er einen neuen Versuch, das Zweiparteien-Kartell aufzubrechen: Im "Polo Democratico" sind Gewerkschaftler, Indianer, Unabhängige, Menschenrechtler, Homosexuelle und ehemalige Guerilleros organisiert. Ihr Präsidentschaftskandidat heißt Luis Eduardo Garzon, der bis vor kurzem CUT-Vorsitzender war. Im November vergangenen Jahres entkam er nur knapp einem Anschlag.
Allen Alternativen steht als warnendes Beispiel die Linksbewegung "Union Patriotica" vor Augen: Diese hatte sich Ende der 80er Jahre als chancenreiche politische Alternative zu den Altparteien aufgebaut und tiefgreifende Reformen versprochen. Doch dann wurden mehrere Tausende ihrer führenden Köpfe umgebracht, darunter zwei Präsidentschaftskandidaten.
"Der Mord an Gewerkschaftlern war Teil der Mordwelle gegen die 'Union Patriotica' – jener politischen Bewegung, die sich aus der Kommunistischen Partei und anderen Linksparteien zusammensetzte. In der 'Union' hatten sich viele verschiedene politische Tendenzen zusammengetan. Darunter waren auch viele Gewerkschafter, die ebenfalls umgebracht wurden. In letzter Zeit werden wieder verstärkt Gewerkschafter verfolgt."
Allein im vergangenen Jahr sind weit über einhundert Gewerkschafter in dem Andenstaat umgebracht worden. Von Killern der Paramiliärs, die mit Massakern landesweit Terror verbreiten. Es ist ein offenes Geheimnis und wurde von "Amnesty International" mehrfach angeprangert, dass Armee und Paramilitärs unter einer Decke stecken. Wer die tödlichen Machenschaften aufdeckt, gerät schnell in die Schusslinie. Rechtsanwalt Guillermo Pérez:
"Sie haben uns ganz offen gesagt: - Eure Menschenrechtsarbeit fügt uns sehr viel Schaden zu. Eure Anzeigen richten viel mehr Schaden an als hundert Gefechte mit der Guerilla. Sie betrachten uns als Feinde."
Guillermo Pérez verteidigt politische Gefangene und vertritt Familienangehörige von "Verschwundenen" und Ermordeten. Menschenrechtler sind in Kolumbien extrem gefährdet. Vor allem durch Paramilitärs: Die sogenannten "Vereinigten Selbstverteidigungskräfte", ein Zusammenschluss verschiedener Todesschwadrone, sind inzwischen zu einer kleinen Armee von rund 8000 Söldnern angewachsen. Der Politologe Orlando Fals Borda:
"Das weiß doch alle Welt: Führende Großgrundbesitzer und Unternehmer finanzieren mit ihren Dollar die paramilitärischen Gruppen."
Drogenhändler und Politiker tragen ebenfalls ihr Scherflein zum rechten Terror bei. Sie alle fürchten, dass alternative Kräfte am sozialen Status Quo rütteln könnten. Gewerkschaftsführer Alfonso Velasquez:
"Die soziale Ungleichheit ist unser Grundproblem. In diesem Land mit seinen 40,5 Millionen Einwohnern leben 58 Prozent der Bevölkerung unter der Armutsgrenze. Das heißt ihre Grundbedürfnisse werden nicht befriedigt. Ein wenig mehr als zwanzig Prozent leben zudem in absoluter Misere."
Die scharfen sozialen Gegensätze haben selbst die Sprache geprägt: In besseren Kreisen Bogotas werden Straßenkinder und Bettler "desechables", "Wegwerfbare" genannt. Der bekannte kolumbianische Publizist Antonio Caballero schrieb kürzlich:
"Die Verteidigung der Armen kann ebenso individuell wie hart sein. Da ist der hungernde, drogenabhängige 'desechable', der mit einer Eisenstange die Frontscheibe eines Autos vor einer Ampel zertrümmert und einer Dame aus besseren Kreisen die Perlenkette entreißt. Die Verteidigung kann auch ausgefeilter, kollektiver und indirekter sein: da ist die Guerilla, die einen Menschen, der reich zu sein scheint, entführt und mit dem Lösegeld Waffen kauft, um sich damit gegen den Regierungsapparat der Reichen zu wehren. Der bewaffnete Kampf, ob individuell oder kollektiv, ist die einzige Verteidigung, die wir Reichen den Armen belassen haben. Die einzige, in der nicht nur sie, sondern auch wir die Opfer stellen."
In Kolumbien operieren seit Jahrzehnten Guerilla-Trupps. Die älteste Guerilla ist die FARC. Die "Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens" sind 1966 aus Bauern- und Selbstschutzorganisationen der Landbevölkerung hervorgegangen. Als Schutz vor Großgrundbesitzern, dem Terror von Militärs und Todesschwadronen. Die FARC-Rebellen werden heute auf mehr als 16 000 Mann geschätzt.
Die älteste und stärkste Guerilla Lateinamerikas sieht sich heftiger Kritik ausgesetzt: Sie verübten kriminelle Anschläge und entführten Zivilpersonen, um Lösegelder für die Kriegskasse zu erpressen. Die militärische Komponente stehe im Vordergrund, die sozialen Forderungen dagegen seien in den Hintergrund gerückt. Frieden sei aber nur möglich, verteidigt sich Raul Reyes, einer der Kommandanten der FARC.:
"Wenn es unter den Kolumbianern keinen Hunger mehr gibt, wenn es Freiheiten gibt, wenn eine Agrarreform durchgeführt wird, wenn es überall Straßen und Wege gibt, wenn der Analphabetismus beseitigt wird, wenn die Leute endlich menschenwürdig leben können, wenn die nationale Souveränität verteidigt wird, wenn es wahre Unabhängigkeit gibt und die Reichtümer gerecht verteilt werden."
Frieden soll auch der "Plan Colombia", der "Kolumbien-Plan", bringen. So jedenfalls die offizielle Lesart. Im Zentrum des Plans steht die Bekämpfung des Drogenanbaus im Süden Kolumbiens. Kolumbien ist Hauptlieferant von Kokain und Heroin in die USA. Mit steigender Nachfrage haben sich Coca- und Schlafmohn-Pflanzungen immer weiter ausgebreitet.
Der Staat hat die Kleinbauern, darunter auch zahlreiche Indianer, immer wieder im Stich gelassen. Sie mussten ihre Ernte bislang auf eigene Kosten bis zu den entfernten Märkten schleppen. Über Pfade und holprige Wege. Das konnte Stunden, aber auch Tage dauern. Die Drogenpflanzen erschienen da wie ein rettender Strohhalm. Jaime Zuluaga, Ökonomie-Professor an der Zentraluniversität Bogota:
"Man glaubt den Drogenhandel vernichten zu können, indem man die Pflanzungen armer Bauern und Siedler besprüht. Diesen bleibt doch keine andere Alternative, als mit diesen Pflanzungen in den kolumbianischen Regenwäldern zu überleben. Die Drogenhändler kommen bis zu ihnen, um ihre Ernte aufzukaufen."
Den Kern des "Plan Colombia" bildet ein Hilfspaket der USA in Höhe von 1,3 Milliarden US Dollar. Allerdings fließen 80 Prozent davon als Militärhilfe. Und es ginge, so meinten schon bald mehrere Kritiker, weniger um Drogen als um "counterinsurgency", um klassische Aufstandsbekämpfung. Sie sollten Recht behalten, wie sich inzwischen herausgestellt hat.
FARC und ELN wurden von der US-Regierung Bush jüngst als Terrororganisationen gebrandmarkt. Das sei der falsche Weg, meint der Kandidat des "Polo Democratico", Luis Garzon, wie auch der Gewerkschafter Alfonso Velasquez:
"Wenn man mich fragen würde, wie man denn das Problem der Guerilla lösen könne, dann hieße meine Antwort: mit einigen dringenden tiefgreifenden Reformen des kolumbianischen Staates."
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Ergänzungen

28.05.2002 - 19:36
"Die FARC-Rebellen werden heute auf mehr als 16 000 Mann geschätzt." auf 9.ooo Männer und 7.ooo Frauen, um genau zu sein

ein echt guter beitrag!!

kolumbienreisender 03.06.2002 - 07:51
hab dazu gerade nicht mehr zu sagen

Kolumbien

katrin 20.06.2002 - 13:11
Gibt es eigentlich starke rassistische Gegensätze und Verfolgungen in Kolumbien?
WIe ist die Situation der Schwarzen?