Eine afghanische Sichtweise (uebers.)

Tamim Ansary 22.09.2001 20:05
Uebersetzung von "AN AFGHAN POINT OF VIEW"
Ich habe viel Gerede darueber gehoert, dass "Afghanistan in die Steinzeit
zurueckgebombt" werden solle. Im Radiosender KGO raeumte Ronn Owens heute
ein, dass dies das Toeten unschuldiger Menschen bedeuten wuerde, von
Menschen, die nichts mit den Angriffen zu tun hatten, aber "wir sind im
Krieg, wir muessen Kollateralschaeden akzeptieren. Etwas anderes bleibt uns
nicht uebrig." Nur Minuten spaeter hoerte ich eine Fernsehgroesse sich darueber
verbreiten, ob wir denn "die Statur dafuer haben zu tun, was getan werden
muss".

Ich habe ueber dieses Thema besonders gruendlich nachgedacht, weil ich aus
Afghanistan bin, und obwohl ich seit 35 Jahren hier lebe, habe ich immer
Kontakt gehalten. Daher moechte ich jetzt allen, die bereit sind zuzuhoeren,
sagen, wie die Sache sich fuer mich darstellt.

Ich spreche als jemand, der die Taliban und Osama Bin Laden hasst. Ich habe
keinen Zweifel daran, dass diese Leute fuer den Anschlag in New York
verantwortlich sind. Ich stimme zu, dass etwas gegen diese Monstren
unternommen werden muss.

Aber die Taliban und Bin Laden sind nicht Afghanistan. Sie sind noch nicht
einmal die Regierung von Afghanistan. Die Taliban sind ein Kult von
ignoranten Psychotikern, die 1997 Afghanistan eroebert haben. Bin Laden
ist ein politischer Verbrecher mit Absichten. Wenn Sie an die Taliban
denken, sehen Sie sie wie die Nazis an. Wenn Sie an Bin Laden denken,
sehen Sie ihn wie Hitler an. Und die Menschen in Afghanistan sind in einer
aehnlichen Lage wie die Juden in den Konzentrationslagern.

Die afghanische Bevoelkerung hatte nicht nur nichts mit dem Anschlag zu
tun. Sie ist vielmehr das erste Opfer der Verbrecher. Sie wuerden jubeln,
wenn jemand kaeme und mit dem Rattennest von internationalen Verbrechern in
ihrem Land aufraeumen wuerde.

Einige fragen, warum die Afghanen denn nicht selbst aufstehen und die
Taliban stuerzen. Die Antwort lautet: sie sind am Verhungern, sie sind
erschoepft, ohnmaechtig, sie leiden. Vor einigen Jahren schaetzte die UNO,
dass es 500.000 verkrueppelte Waisenkinder in Afghanistan gaebe - in einem
Land ohne Wirtschaft, ohne Nahrung. Es gibt Millionen von Witwen. Und die
Taliban haben diese Witwen lebendig in Massengraebern begraben. Der Boden
ist mit Minen uebersaet, die Bauernhoefe wurden alle von den Sowjets
zerstoert. Dies sind nur einige der Gruende, warum die Afghanen die Taliban
nicht davongejagt haben.

Nun zum Thema, Afghanistan in die Steinzeit zu bomben. Das Problem dabei
ist: das ist schon erledigt. Das haben bereits die Sowjets besorgt. Die
Afghanen leiden lassen? Sie leiden doch schon. Ihre Haeuser platt machen?
Schon erledigt. Ihre Schulen in Truemmer legen? Schon erledigt. Ihre
Krankenhaeuser in Schutt und Asche legen? Schon erledigt. Ihre
Infrastruktur zerstoeren? Schon erledigt. Ihnen die medizinische Versorgung
nehmen? Schon erledigt. Zu spaet. Das ist alles schon abgehakt.

Neuerliche Bomben koennen nur den Schutt aufwirbeln, den die frueheren
Bomben hinterlassen haben. Wuerden sie ueberhaupt die Taliban treffen? Das
ist unwahrscheinlich. Im heutigen Afghanistan haben nur die Taliban zu
essen, haben nur die Taliban Transportmittel. Sie koennen entkommen und
sich verstecken. Vielleicht treffen die Bomben ein paar der verkrueppelten
Waisenkinder, sie koennen sich naemlich nicht schnell bewegen, sie haben ja
noch nicht mal Rollstuehle. Aber ueber Kabul hinwegzufliegen und Bomben
abwerfen waere kein Schlag gegen die Verbrecher, die diesen fuerchterlichen
Anschlag begangen haben. Ein solches Vorgehen wuerde tatsaechlich bedeuten,
mit den Taliban gemeinsame Sache zu machen - und auf die bereits von denen
geschlagene Bevoelkerung nochmals einzupruegeln.

Was bleibt also noch? Was kann noch unternommen werden? Ich spreche nun
mit ehrlicher Angst. Die einzige Moeglichkeit, Bin Laden zu kriegen, ist
mit Bodentruppen hineingehen. Wenn Leute davon sprechen, ob wir "den Mut
haben, dass zu tun, was getan werden muss", dann geht es ihnen darum, ob der
Mut vorhanden ist, so viele Menschen wie noetig zu toeten. Aber da muessen
wir die Koepfe wieder aus dem Sand ziehen. Amerikaner sind bereits
gestorben, und wenn sie einmarschieren und sich bis zu Bin Ladens Versteck
durchkaempfen, werden weitere Amerikaner sterben. Aber da ist noch viel
mehr dran. Denn um Truppen nach Afghanistan zu bekommen, muessen wir durch
Pakistan durch. Lassen die uns durch? Unwahrscheinlich. Also muessen wir
zuerst Pakisten erobern. Werden da andere islamische Nationen einfach
zusehen? Sie sehen, worauf ich hinauswill und wo das hinfuehrt. Wir flirten
mit einem Weltkrieg zwischen dem Islam und dem Westen.

Und wissen Sie was: genau das ist Bin Ladens Absicht. Das ist genau das,
was er erreichen will. Darum hat er die Anschlaege gemacht. Lesen Sie seine
Reden und Erklaerungen, da ist all das drin. Er glaubt wirklich, der Islam
werde den Westen schlagen. Das mag laecherlich scheinen, aber er meint,
wenn er die Welt, den Islam und den Westen, genuegend polarisieren kann,
haette er eine Milliarde Soldaten. Wenn der Westen in diesen Laendern die
Hoelle losbrechen laesst, dann haette er eine Milliarde Menschen, die nichts
mehr zu verlieren haben, und von Bin Ladens Standpunkt aus haelt er das
seiner Sache fuer sehr dienlich. Vielleicht hat er Unrecht, am Ende wird
wohl der Westen gewinnen, unter welchen Kosten auch immer, aber dieser
Krieg wuerde Jahre dauern und Millionen wuerden sterben, nicht nur auf
deren, sondern auch auf unserer Seite. Wer hat den Mut dazu? Bin Laden auf
jeden Fall. Wer noch?

Tamim Ansary
Indymedia ist eine Veröffentlichungsplattform, auf der jede und jeder selbstverfasste Berichte publizieren kann. Eine Überprüfung der Inhalte und eine redaktionelle Bearbeitung der Beiträge finden nicht statt. Bei Anregungen und Fragen zu diesem Artikel wenden sie sich bitte direkt an die Verfasserin oder den Verfasser.
(Moderationskriterien von Indymedia Deutschland)

Ergänzungen

Man sollte sich nicht täuschen

Nina 22.09.2001 - 22:04
ich bin auch der Meinung, das die Freie Welt Endlich und Schnell über Amerika siegen würde, aber der Preis den Bin Ladens Handlungsweise fordert ist Viel zu Hoch, was mit Viel Blut erobert wird, wird auch mit Viel Blut wieder verloren, Endlich aus der Vergangenheit lernen, und Ein Gewaltfreies Aus für Alle Kriegsgewinnler, und Geldraffer.

Ein Blutiger Sieg über Amerika wäre wie

Freggel 22.09.2001 - 22:11
ein geerbtes Vermögen, die Menschen hätten gar keine Wertschätzung dafür, sie wüssten gar nicht warum die Vielen Menschen dafür gestorben wären, und würden ihre Freiheit Leichtfertig wieder aufs Spiel setzen.

Es geht ja nicht nur um Afghanistan

Freggel 22.09.2001 - 22:45
so ein Wenig will Amerika ja auch seine Kubas vor den Grenzen der Grossmächte und Wirtschaftsmächte in Aller Welt, und auf Allen Kontinenten installieren, der Dritte Weltkrieg lacht aus Allen Fugen, wenn sie auch noch so Solidarität heucheln.

Ein Gewaltsamer Sieg über Amerika

Jef 22.09.2001 - 23:07
und seine Sateliten, hätte zur Folge, das man innerhalb Kürzester Zeit ein Neues Amerika irgenndewo auf der Welt vor der Nase hätte, ein Endgültiger Sieg über Amerika, ist Ein Wirklicher Sieg wenn er in den Köpfen statt gefunden hat.

Heuchelei

renfield 23.09.2001 - 12:07
Mich ärgern diese dämlichen Spendenaufrufe für die Terror opfer von Amerika, welches immernoch das reichste Land der Welt ist . Wann fängt man endlich an, für Afghanistan zu sammeln, oder man schickt das bisher gesammelte Geld gleich
dorthin.Aber dann müßte man sich ja eingestehen,
daß man gerade dabei ist aus Gier und Ingnorance ein
ungeheuerliches Verbrechen an der afghanistanischen Bevölkerung vorzubereiten.
PS. Bei dem ganzen gehts es doch nicht um die Taliban oder
Terrorbekämpfung ,sondern nur um ÖL ,Öl,öl, wacht endlich
auf!

Das ist der bisher einzige Beitrag,

Kriegsgegner 23.09.2001 - 13:13
der wirklich den Dreh- und Angepunkt des ganzen anspricht. Die MOTIVE der Attentäter. Die Schadenfreude der "Linken" war leider so groß und rein ("Schadenfreude ist die reinste Freude"), daß sie völlig VERGESSEN haben, darüber nachzudenken, was die Attentäter noch wollten außer den USA die "längst verdiente" Demütigung zuzufügen, von der ja alle wußten, daß "das irgendwann kommen mußte". Diese "Supermacht" USA läßt sich, wie zu befürchten ist, von Bin Laden tatsächlich am Nasenring herumführen. Es geht darum, das stabile Kooperationsverhältnis der USA zu den Ölstaaten (Saudi-Arabien, Emirate, etc.) zu zerstören. Das könnte dann zu einem großen Krieg führen. Es könnte leider wirklich sein, daß sie Erfolg haben.

wann ist es zu spät?

frank 25.09.2001 - 06:08
interessanter artikel.
aber es bleibt die frage offen, ob ein einsatz
mit bodentruppen sinnvoll wäre.
es wird ein vergleich mit dem nazi-regime gestellt.
zur erinnerung: als das ns-regime in deutschland
an die macht reagierten die benachbarten länder
nicht. die nazis töteten tausende regimegegner in
deutschland, manifestierten ihre macht ...
und es hat keinen gekümmert. erst mit dem angriff
auf polen kapierten die anderen europäischen länder,
mit wem sie es hier zu tun haben.
die frage ist: wie würde sich das taliban-regime
entwickeln, wenn es weiter gedeihen kann. würde es auch weiter auf die benachbarten länder
übergreifen? würde es dann nicht viel mehr tote geben?
oder besteht irgendwie die aussicht, daß sich das
regime von alleine auflöst? ich glaube kaum.

Buenaventura 26.09.2001 - 00:53
der Punkt ist, denke ich, aus welchen Gruenden die Taliban angegriffen werden. die USA kuemmert sich mehr oder weniger nur um die eigenen Interessen. in anderen Gebieten unterstuetzen sie Terrorregieme. um was zu aendern muessten erstmal alle gewaltfreien Mittel ausgeschoepft werden, und ein Dialog mit der afghanischen Bevoelkerung hergestellt werden. was jetzt passiert ist, wir suchen uns die Infos raus, die uns passen, und hauen drauf, wenns uns passt.

Das ist der falsche Weg

Jessi 09.11.2001 - 11:04
Bei jedem Verbrechen und sei es auch noch so grausam wird auch nach dem Motiv gefragt. Die Wahrzeichen für Wirtschaftsmacht (Woldtradecenter) und Militärmacht (Pentagon) wurden für die Anschläge ausgewählt. Die zwei wesentlichsten Eigenschaften der Supermacht Amerika. Warum überlegt man nicht erst mal warum man Feinde hat? Nur indem man die Ursachen bekämpft kann man auch Terrorismus bekämpfen. Terroristen "entstehen" nicht einfach so. Man wird sich hüten auch nur einmal öffentlich Überlegungen über Motive und Hintergründe zu führen, denn man könnte ja feststellen daß tatsächlich weltwirtschaftliche Ungerechtigkeiten, politische Abhängigkeit und eine aggressive Aussenpolitik von dieser Supermacht ausgehen.

Unterstützung für afghanische Frauen

Eva 30.11.2001 - 17:19
Liebe Tamin,

ich war hocherfreut über deinen interessanten Beitrag. Ich glaube, dass wir uns austauschen sollten, da wir in dieselbe Richtung arbeiten. Wenn du also die afghanischen Frauen und die Organisation RAWA unterstützen möchtest, dann kontaktiere uns bitte.

Ich freue mich darauf,
Eva.

alles schwachsinn

linda 09.01.2002 - 15:46
hallo