Deutsche Realitäten angreifen!

[AAE] Marburg 23.03.2004 23:20
Jetzt wird abmontiert! Nazizentrum Kirtorf dichtmachen!
Antifaschistische Demonstration 17.04.04 11:30 h Kirtorf


Das wiedervereinigte Deutschland hat anscheinend mit seiner nationalsozialistischen Vergangenheit aufgeräumt und verspürt so wieder einen globalen Betätigungsdrang. Sei es der Aufstand der Anständigen, das Holocaustmahnmal oder die Verhinderung einer Wiederauflage von Auschwitz im Kosovo: Im kollektiven Gedächtnis soll die deutsche Barbarei keine Relevanz mehr haben. Dies bietet denjenigen einen wunderbaren Nährboden, die das deutsche Wesen ohne Abstriche artikulieren. Zwar schreiten auch nach wie vor staatliche Behörden ein, wenn jemand nicht nur das Bild seines Opas im Zwirn des Frontsoldaten auf dem heimischen Schreibtisch stehen hat (was kein Strafdelikt darstellt, denn selbst der Bundeskanzler geht damit hausieren), sondern wenn dieser jemand es seinem Opa in Symbolik und Gestus gleichtun möchte.
Auch schüttelt die linksliberale Öffentlichkeit, der Symphatisantensumpf der rot-grünen Regierung, etwas verunsichert den Kopf, wenn irgendein Hinterbänkler des Bundestages offen 'die Juden' als Tätervolk bezeichnet. Dennoch fühlen sich alle der Aufgezählten irgendwie einem deutschen Kollektiv verbunden, die barbarische Potenz bleibt so bei allen erhalten, auch wenn die einen noch eine gewisse bürgerliche Form zur Schau stellen möchten. Schreien sie nun auch gemeinsam nach Frieden, so halten die einen wenigstens noch eine Randspalte für die Leiden der Opfer des Nationalsozialismus in ihren Geschichtsbüchern bereit. Gemeinsam wähnen sie sich aber in ihrem kollektiven Gedächtnis als Opfer des Bombenterrors der Alliierten, während die anderen noch die jüdische Weltverschwörung darüber stülpen. Doch so sehr die einen auch noch die Aufarbeitung ihrer Geschichte hochhalten, jeder Jubel für den Anschlusstreffer der deutschen Nationalmannschaft, jedeR weitere stationierte SoldatIn in fernen Landen zwingt auch sie in die immer offener werdende Parteinahme für den 'opfervollen' Stand des Landsers im Schützengraben an der Ostfront. Und wenn die deutsche Ideologie nun immer ungenierter zu Tage tritt, dann werden auch die immer selbstbewusster, die mensch im Kalten Krieg lieber im Keller oder auf dem Dachboden verstaute, wenn ein Präsident der Siegermächte mal zur Visite das Land bereiste. Denn diese faselten schon damals von der Schmach und der Schande, die die Alliierten brachten. Auch wenn sie ein Standortproblem bleiben, im Hinterland der deutschen Provinz sind sie toleriert, akzeptiert, integriert. Dort bauen sie munter ihre Zentren und lassen am deutschen Wesen mit dem Kopfnicken oder dem zustimmenden Schweigen des übrigen Volkes ganz gewaltförmig die übrige Dorfgemeinde 'genesen';. Wenn sich nun einmal das Deutsche artikuliert, dann doch nur in Herrschaft, Verwertung und letztlich Vernichtung. Existenzielle Notwendigkeit stellt daher der Angriff gegen jede Form der deutschen Ideologie für emanzipatorische Menschen dar, gerade wenn sie sich in bestimmten Ortschaften ohne jegliche Zähmung oder Bekämpfung in ihrer reinsten Form ausbreitet. Kirtorf kann daher als einer der deutscheren Orte in diesem grässlichen Land nicht länger hingenommen werden.

„Immer wenn ich Wagner höre, muss ich Polen überfallen!“ (W. Allen)
Offene nazistische Gewalt findet seit der Aufhebung der Teilung Deutschlands immer wieder eruptive Höhepunkte. Dann brechen all die Dämme, die einst durch die notwendige, physische Gewaltsamkeit der Alliierten und ihre Anwesenheit seit 1945 aufgebaut worden waren. Entsprechend eines bestimmten Verhältnisses treten hier die Formen der deutschen Ideologie in Synergie: Als die PolitikerInnen aller Parteien von einer ‚Asylantenschwämme’ faselten und ‚Das Boot ist voll!’ schrieen, griffen die völkischsten Teile des Volkes im vorauseilenden Gehorsam, ohne Marschbefehl oder große, manipulative Rhetorik, zu den Brandsätzen und Baseballschlägern. Dann war das Entsetzen groß und zur Entschuldigung all dessen bannte mensch den Volkszorn in Gesetzesform und verschärfte das Asylrecht. Auch durften Lichterketten und bedrückte Gesichter nicht fehlen, schließlich beäugten die ehemaligen Siegermächte noch etwas skeptisch das, was nun zusammenwuchs.
Als nun eine Handgranate auf eine Gruppe Jüdinnen und Juden geworfen wurde, kamen ganze Horden in Berlin im Jahre 2000 zusammen. Dass dort viel gefallene ‚Nie wieder!’ sollte einen ‚Aufstand’ begleiten, war wohl aber eher ein ‚So nicht!’ oder ‚Noch nicht!’, da die Deutschen es nicht lassen können, die alten Feindbilder zu pflegen. Wenn sich die Krise verschärft und der Drang zur Weltmacht größer wird, werden die Deutschen unweigerlich auf den Kern ihrer Ideologie gestoßen. Wenn mit breitem Grinsen der Israel Defense Force mal wieder ein Massaker unterstellt wird oder ein Herr Blüm einen „Vernichtungskrieg gegen die Palästinenser“ herbeihalluziniert, dann ist dies nur die Begleitmusik zu Umfrageergebnissen, in denen 65% der Deutschen behaupten, Israel, der Staat der Jüdinnen und Juden, sei das größte Gefahrenpotential für den Weltfrieden oder 40% angeben, ‚die Juden’ hätten zu viel Einfluss. Diese 40% sind ja nur der kleine Anteil derjenigen, die dies ganz unbekümmert äußern. Die Mehrheit hat das Kreuz auf dem Umfragebogen auf eine andere Stelle gesetzt, da mensch die „Moralkeule“ (M. Walser) der ‚Amerikaner und Juden’ noch ganz im Wahne bei sich spürt. Bei solchen Ergebnissen rauscht es durch den deutschen Blätterwald: Nein, antisemitisch sei die Mehrheit der Deutschen bestimmt nicht, ihre besten Freunde seien doch ‚Juden’. Aber irgendwann müsse ja auch einmal Schluss sein, mit dieser „Dauerpräsenz der Schuld“ (M. Walser) und der „Raffgier“(O. Graf von Lambsdorff) derjenigen, die diese ‚Gutgläubigkeit’ der Deutschen ausnutzen würden, und so bricht all das wieder hervor, was Guido Knopp mit seinen gebetsmühlenartigen Formulierungen verdecken wollte: Wenn Jüdinnen oder Juden umgebracht werden, weil sie Jüdinnen oder Juden sind, dann spricht der gute Deutsche immer noch von Freiheitskämpfern und dem Recht auf Heimat. Kern des Deutschen bleibt nun mal der Antisemitismus. Die gesellschaftliche Mobilisierung für das ‚geläuterte’ Deutschland, was nun wieder wer sein will in der Welt, kommt auch musikalisch zur Geltung: Der couragierte Deutsche hört seine schwarz-rot-goldene Lieblingsband Mia, die wieder „frische Spuren in den weißen Sand“ zeichnen möchte. Die Vernichtung von Millionen ist Vergangenheit, mensch müsse schließlich auch ‚mal vielleicht nicht ganz vergessen’, aber wenigstens ‚normalisieren’ können. In avantgardistischer Manier sind da die ProvinzlerInnen, und nicht nur die aus Kirtorf, weiter: Fröhlich wippen sie zu Melodien, in denen sich schon mal auf den Kampf gegen das ‚Zionist Occupied Gouvernement’ vorbereitet wird.

„Du, ich habe ein Essay geschrieben, gegen den Antisemitismus…“
Opa plaudert wieder munter drauf los. Doch jetzt nicht nur am Stammtisch oder beim Sonntagsausflug des Kegelvereins, nein, seine Erlebnis- und Leidensgeschichte in den Weiten der russischen Steppe oder im heißen Saharasand werden dank der gewachsenen Bedeutung der oral history auch Gegenstand der neuesten Debatten. Was die National Zeitung seit ihrem Bestehen lauthals verkündet, spricht nun offen mit Jörg Friedrichs ‚Brand’ aus der Seele gerade der Kriegsgeneration: Der Terror der Alliierten hätte „die deutschen Bunker in Krematorien“ verwandelt. Offen Aussprechen möchte er es nicht, aber die Metapher reicht schon aus: Die Bombardierungen waren ebenso schrecklich wie die Verbrechen der Nazis. Und nun eilen den Deutschen offenbar auch noch die Umstände zur Hilfe: Dresden entdeckt mensch auch in Bagdad wieder und ganz schnell pinseln ganz gewissenhaft die SchülerInnen irgendeiner Realschule ‚Bush = Hitler’ auf ihre Transparente. Gewiss: So etwas würde kein Nazi tragen, denn Bush stellt in dessen wahnhaften Weltbild immer noch diejenige Seite dar, die das deutsche Volk in seiner Existenz bedroht. Doch diese Relativierung bedeutet, dass die deutsche Barbarei zu einer unter vielen wird. In dieser Relativierung schwingt dieses ‚früher war alles gar nicht so schlimm’ mit und da muss Opa gar nicht Souffleur spielen. Und nun taucht noch die örtliche Sektion der ‚Freien Kameradschaft’ auf der nächsten Friedensdemo auf und kaum eineN stört die neue Einigkeit im Volke.

„…So? Wie schön! Ich bevorzuge Baseballschläger!“ (W. Allen)
Diese Sektionen pfeifen auf die bürgerliche Form des bestehenden Deutschlands und zelebrieren ihren barbarischen Kern. Besonders dort wo die einstmals vorrückenden Verbände der Alliierten das Landschaftsbild mittels Militanz nicht entsprechend verzierten, konnten sich solche Biotope halten, in denen der Blockwart insgeheim Blockwart blieb und ‚die Juden unser aller Unglück’. Dieses braune Hinterland erstreckt sich durch ganz Deutschland und konnte selbst durch Re-education und Blue Jeans nicht ausgemerzt werden. Dort schwärmt Opa ganz unbekümmert neben dem Kriegerdenkmal auf dem Marktplatz von der Kameradschaft der Frontsoldaten und erntet dabei Anerkennung von den mehr oder weniger kahl geschorenen ‚Lausbuben’, die zur klammheimlichen Freude der ganzen Dorfgemeinde die Bushaltestelle und die ausladende Fußgängerzone ‚negerfrei’ halten. Kirtorf ist genau eines dieser Biotope, das aber ganz besondere Bedingungen aufweist.

Kirtorf – Naziidylle am Fuße des Vogelsbergs
Dieses kleine Kaff mit seinen 3.796 EinwohnerInnen liegt sanft eingebettet in den grünen Hügeln Hessens. So sanft und verschlafen ist ein deutsches Stillleben allerdings nie: Seit Anfang der 80er sind offen auftretende Neonazis prägendes Element der Landschaft. Nahezu zeitgleich zu den großen Feierlichkeiten, als der ‚antifaschistische Schutzwall’ fiel, konnte mensch eine Militarisierung der örtlichen Szenerie feststellen, die sich nicht nur in Wehrsportübungen mit scharfer Munition erschöpfte, sondern im April 1994 in einem Angriff auf das dortige AsylbewerberInnenheim mündete. Schnell bildete sich eine örtliche ‚Kameradschaft’ heraus, die wie etwa über einen ihrer führenden Kader, Sascha Graf, Kontakte zur ‚Freiheitlichen Arbeiterpartei’ oder der ‚Nationalistischen Front’ herstellte. Besonders widerwärtig sticht noch heraus, dass hier die Feiern zu Hitlers Geburtstag eine biologische Legitimation erhalten, denn ein weiterer Akteur der ‚Kameradschaft’, Glenn Engelbrecht, erblickte genau an diesem Tage leider das Licht der Welt. So treffen sich hier also alljährlich etwa 50 Volksgenossen, wo anderen Orts die Staatsmacht ihre ‚antifaschistischen’ Ambitionen mal zur Schau stellen kann. Ende der 90er gelang dann auch die Errichtung eines Zentrums, was gemäß der provinziellen Gepflogenheiten sich nun in einer ausgebauten Scheune auf dem ‚Anwesen’ des Kaders Bertram Köhler schön im Ortskern in der Marburger Straße 42 befindet.

Wenn Nazis sich ein Zentrum bauen…
Dies macht auch die große Bedeutung Kirtorfs für die hessische wie für die bundesweite Naziszene aus, denn hat sich hier einer der sichersten Orte für Rechtsrockkonzerte gebildet. Den Hütern des aus seiner Geschichte ‚lernenden’ Deutschlands sind hier die Hände angeblich gebunden, spielt sich doch hier die Pflege germanischen Brauchtums auf privatem Gelände ab. Dadurch werden hier wie am 23. Februar 2002 Treffen von etwa 100 Nazis aus dem gesamten Bundesgebiet abgehalten, im selbigen Jahr kam es zur Durchführung von drei Konzerten, die jeweils BesucherInnenzahlen von mehreren Hundert aufwiesen. Ausgesprochen widerlich verlief hier der 31. März im selbigen Jahr, in dem die ‚Borussenfront Dortmund’ ihr zwanzigjähriges Bestehen mit 600 Personen in gewohnt widerwärtiger, musikalischer Begleitung, diesmal in Gestalt der Naziband ‚Kategorie C’, betrauern konnte. Durch diese ‚subkulturelle’ Komponente nahmen auch die Aktivitäten der ‚Kameraden’ zu, dies führte sogar dazu, dass einige örtliche Nazis ihren Wahn musikalisch ausleben wollten und nun bundesweit bekannt als ‚Gegenschlag’ auftreten. Mittlerweile ist diese Hegemonie auch bei den Jugendlichen dieser Ortschaft klar erkennbar und die eher landwirtschaftlich funktionaleren Gummistiefel wurden mehr und mehr durch Springerstiefel ausgetauscht. Die Dorfgemeinschaft hat sich bis dato nicht an den Umtrieben gestört, stillschweigend toleriert mensch hier die Nazihorden von etwa 40 meist kahl Geschorenen, die sich hier wöchentlich (zumindest wenn die klimatischen Umstände die geliebte Lagerfeuerromantik erlauben) einfinden. Da mögen all die RentnerInnen schmunzeln, wenn dort die ‚Lieder’ ertönen, die bereits in ihrer Jugend ihre Herzen im Luftschutzbunker oder ihre Finger in der Häuserruine in Stalingrad erwärmten.

…dann Kessel dichtmachen!
Organisatorisch haben sich die Nazis mit anderen ‚Brüdern im Wahne’ durch das ‚Aktionsbüro Mittelhessen’ einen Dachverband gegeben, der meist auf den größeren ‚Events’ der Nazis vertreten ist, wie beispielsweise in Wunsiedel. Auch versuchten die Nazis, sich mit Hilfe von Aufmärschen weiter in die Öffentlichkeit zu drängen. Bei ihrem letzten Erlebnis am 21.2.2004 kam es aber nicht zu den üblichen antifaschistischen Ritualen hinter der Polizeikette. Mythisch umrahmt flirrt dieser Tag nun als die ‚Hölle von Gladenbach’ durch ihre Köpfe. Doch irgendwie können sie es nicht lassen: Bereits zum 17.04. haben sie ihren nächsten Aufmarsch wieder an derselben location angemeldet, wo sie schon ihr antifaschistisches ‚Erweckungserlebnis’ hatten. Nun gilt es aber nicht, den Nazis jedes Mal gemächlich hinterher zutrotten. Vielmehr muss es darum gehen, ihrer Kaderschmiede die Nestwärme zu nehmen und fürs Erste an diesem Tag ein Stückchen Zivilisation nach Kirtorf zu bringen. Ein tatsächlicher Antifaschismus kann solche Landstriche nicht hinnehmen, gerade wenn sie solch einen Knotenpunkt für die bundesweite Naziszene darstellen. Dennoch müsste ein solcher Antifaschismus auch einfordern, dass nicht nur ein solches Zentrum, sondern Deutschland an sich aufgelöst werden muss, da im Zentrum der deutschen Ideologie das Konstrukt eines Volkes steht, was in der Zuspitzung der Krise alle Reste von Individualität in sich aufhebt und zur Vernichtung all derjenigen strebt, die es vermeintlich bedrohen. Das Etappenziel mag zwar ein großer Kartoffelacker sein, wo einst Kirtorf stand, notwendig muss aber die Schließung des Nazizentrums Deutschlands sein, „damit Auschwitz sich nicht wiederhole“ (T. W. Adorno) und mit dem Verschwinden des Deutschen auch mal wieder ein Silberstreifen am Horizont der Geschichte der menschlichen Emanzipation erscheint.

Jetzt wird abmontiert!
Nazizentrum Deutschland dichtmachen!
Für die freie Assoziation der Individuen!

[AAE] Marburg März 2004

Nazizentrum Kirtorf dichtmachen!
Antifaschistische Demonstration
17.04.2004 11:30 Uhr Kirtorf
organisiert von antifaschistischen Gruppen aus Hessen

Danach: Naziaufmarsch in Marburg verhindern! Mit allen Mitteln!
Später: Veranstaltung und Solikonzert für die Antifaschistische Aktion Pirna
18 Uhr AK 44 Giessen, Alter Wetzlarerweg 44
Indymedia ist eine Veröffentlichungsplattform, auf der jede und jeder selbstverfasste Berichte publizieren kann. Eine Überprüfung der Inhalte und eine redaktionelle Bearbeitung der Beiträge finden nicht statt. Bei Anregungen und Fragen zu diesem Artikel wenden sie sich bitte direkt an die Verfasserin oder den Verfasser.
(Moderationskriterien von Indymedia Deutschland)

Ergänzungen

Beiträge die keine inhaltliche Ergänzung darstellen

Zeige die folgenden 2 Kommentare an

1.Mai Nazifrei — 2004 rocken wir

coole Aktion — antifa