Das "Neuköllner Modell"

Karl Mueller 26.08.2010 17:35 Themen: Repression
Vorabveröffentlichung aus dem Artikel "Tote leben länger. Kirsten Heisigs Buch eine (leider) wirkungsmächtige Schmähschrift mit braunen Wurzeln"
„Indem man das Recht des Staates über das seiner Angehörigen stellt, ist das Grauen potentiell gesetzt.“ (Adorno)

Als am 3.7.2010 bekannt wurde, dass die zuständige Richterin am Berliner Amtsgericht für Jugendstrafsachen in Nord-Neukölln, Kirsten Heisig, tot aufgefunden worden war, reagierte der Herder-Verlag blitzschnell und veröffentlichte am 26.7.2010 Heisigs Buch „Das Ende der Geduld – Konsequent gegen jugendliche Gewalttäter“. Ursprünglich sollte das Buch am 13. September 2010 herauskommen.

Das war ein kluger Schachzug, denn das mysteriöse Ableben der „Richterin Gnadenlos“ gab zu allerlei Spekulationen Anlass. Rechte Kräfte wie Elsässer und die NPD überboten sich in Verschwörungstheorien. Auf diesem Resonanzboden wurde jeder diesbezügliche Pressebericht von der Bild-Zeitung (7.7.2010 „Das Vermächtnis der toten Richterin“)  über die Jungle World (5.8.2010, „Eine Studie“!) bis zur Jungen Welt (23.8.2010 „Ein Plädoyer für ganzheitliche Lösungen“) zur Laudatio für Heisigs Buch. Zögerliche Kritik formulierte nur das Neue Deutschland: „Jugendrichterin Kirsten Heisig hat eine problematische »Streitschrift« hinterlassen.“ (21.7.2010)

Am 19.8.2010 meldete der Berliner Tagesspiegel, dass Heisigs Buch bereits in 11 Auflagen 200.000 Mal verkauft worden sei. Der Herder-Verlag teilte mit, dass demnächst eine türkische Übersetzung erscheinen werde. Letzteres verwundert kaum, denn Heisig macht sich in ihrem Buch gängige Pauschalurteile der „integrierten Westtürken“ über die „Bergtürken“, d.h. über aus Ostanatolien stammende MigrantInnen einfach zu eigen:

„Mir ist der Unterschied zwischen Zuwanderern aus Ostanatolien, das als bildungsfern gilt, und denjenigen aus der Westtürkei geläufig, da ich es in meiner „Vorortarbeit" in Neukölln sehr häufig mit gebildeten türkischstämmigen Mitbürgern aus der westlichen Region des Landes zu tun habe, während „meine" Angeklagten einen kurdischen, ostanatolischen oder angeblich palästinensischen Migrationshintergrund aufweisen. Die integrierten Westtürken haben überhaupt kein Verständnis dafür, dass der deutsche Staat den Zuwanderern aus den östlichen Regionen nichts abverlangt. Sie sagen, viele dieser Menschen seien einfach strukturiert. Man müsse ihnen deutlich machen, was von ihnen erwartet wird.“ (S.85f)

Nun könnte jemand an dieser Stelle noch glauben, die Übernahme solcher dümmlichen Zuweisungen geschähe aus Naivität. Doch wer Heisigs Buch einigermaßen aufmerksam liest, muss sich schnell eines anderen belehren lassen.  Kirsten Heisig setzt mit ihren Buch auf das Ticket, dass seit dem 9.11. 2001 auch in der BRD ausgegeben wurde: Die Diffamierung der arabisch-muslimischen Community .......

Das „Neuköllner Modell“

Endlich auf S. 177 kommt Kirsten Heisig auf ihr eigentliches Anliegen zu sprechen: Das „Neuköllner Modell“, dessen berlinweite Einführung Heisig noch im Juni 2010 erleben durfte.  Was ist das „Neuköllner Modell“? Heisig definiert es als „die geschicktere Nutzung der §§ 76ff des Jugendgerichtsgesetzes (JGG).“ (S.179). Diese Paragrafen regeln Voraussetzungen und Durchführung des vereinfachten Jugendverfahrens und dienen den „verfahrensökonomischen Interessen der Verwaltung und Justizbehörden“ (Ulrich Eisenberg, Kommentar zum Jugendgerichtsgesetz, S.664). Im Gegensatz dazu behauptet Heisig, ihre Motive, die §§ 76 JGG „geschickter zu nutzen“, seien in erster Linie pädagogischer Natur.  

„Denkt man an seine eigenen Kinder, gelangt man zum einen auch bei mäßigem Fachwissen zu der Erkenntnis, dass ein Fernsehverbot drei Wochen nach dem verspäteten Nachhausekommen nichts mehr bringt. Das gilt im Prinzip auch für jugendliche Straftäter. Die Verfahrensdauer muss also verkürzt werden.“ (S. 177)

Die Verkürzung des §76er-Verfahrens soll dadurch möglich werden, dass als erstes ein entsprechend geschulter und mit „schriftlicher Handlungsanweisung“ (S.183) ausgestatteter Sachbearbeiter auf dem Polizeiabschnitt die zur Anzeige gelangte Straftat rechtlich prüft und nach eigenem Ermessen entscheidet, ob er einen bestimmten Staatsanwalt anruft, der speziell für §76er-Verfahren zuständig ist. Dem schlägt er die frist- und formlose Einleitung des Verfahrens vor. Übernimmt der Staatsanwalt die Ergebnisse des polizeilichen Vorcheckings, wendet er sich sofort an den ortszuständigen Jugendrichter und beantragt dort mündlich das §76er-Verfahren. (siehe S.181)

Sodann schaltet der Jugendrichter gemäß JGG unverzüglich die Jugendgerichtshilfe des Wohnbezirks der beschuldigten Jugendlichen ein. Dort gibt es nach diesem Modell einen(!) zuständigen Sozialarbeiter, der nur  sich um die Bearbeitung §76er-Verfahren kümmert. (S.182) Damit sind alle verfahrensnotwendigen Schritte für eine „Dreiviertelstunde Verhandlungsdauer“ (S.181) eingeleitet,

Interessanter Weise kommt der Jugendliche bei Heisigs Darstellung des „Neuköllner Modells“ nur als Objekt des §76er-Verfahrens aber nicht als Subjekt mit eigenen Rechten vor. Dies hat seinen guten Grund darin zu verschweigen, dass der beschuldigte Jugendliche gar nicht gezwungen werden kann, weder mit der Jugendgerichtshilfe zusammenzuarbeiten noch zu der §76er -Gerichtsverhandlung zu erscheinen, wo er nach Heisig „richterlich ermahnt und bis hin zum vierwöchigen Dauerarrest“ (S.181) bestraft werden wird. Im JGG-Kommentar heißt es dazu:

„Bleibt der Jugendliche dem Termin zur mündlichen Verhandlung ohne genügende Entschuldigung fern, so sind die freiheitsbeschränkenden Zwangsmittel des §230 Abs.2 StPo nicht anwendbar …. da die mündliche Verhandlung (nach §§76-78 – kamue) keine Hauptverhandlung im Sinne des §226 StPo darstellt …. Notfalls lässt sich in entsprechenden Fällen ein förmliches Verfahren – unter Einschluss der erwähnten Zwangsmittel (die Vorführung – kamue) durchführen, indem der Jugendstaatsanwalt seinen Antrag zurücknimmt und Anklage erhebt.“ (Ulrich Eisenberg, ebd. S. 668)

Es bedarf wohl keiner besonderen Phantasie sich auszumalen, dass dieser Sachverhalt den jugendlichen Beschuldigten weder von den vier am Verfahren beteiligten staatlichen Behörden (Polizei, Staatsanwaltschaft, Jugendgerichtshilfe und Jugendgericht) erläutert wird, noch von diesen Jugendlichen der obige Rechtskommentar gefunden und wenn, in seinen Rechtsfolgen verstanden wird.

Eine der möglichen Rechtsfolgen des Fernbleibens wäre in der Tat, dadurch die Einleitung eines form- und fristgemäßen Verfahrens mit einer Hauptverhandlung zu erzwingen. In dieser kann nicht wie im §76er-Verfahren von bestimmten Rechtsgrundsätzen (z.B. Verzicht auf Zeugenhörung, da die Aussage bei der Polizei in der Akte vorliegt) abgewichen werden. Außerdem hat der Jugendliche ausreichend Zeit sich anwaltlich zu beraten, sich unterstützen sowie über die Akten- und Beweislage informieren zu lassen.

„Von dem Zeitpunkt an, in dem die Sache sich im vereinfachten Jugendverfahren befindet, praktisch vor allem bei Durchführung der mündlichen Verhandlung, sind ggf.  Abweichungen von dem allgemeinen Jugendstrafverfahrensrecht zulässig. Sie finden ihre Grenzen in der Wahrheitsermittlungspflicht (§ 78 Abs. 3. S 1). Dabei liegt es im erheblichen Maße im pflichtgemäßen Ermessen des Jugendrichters, zu entscheiden, ob ein Absehen von einer förmlichen Verfahrensvorschrift zu Lasten der Wahrheitsermittlung gehen könnte.“  (Ulrich Eisenberg, ebd.)

Was Heisig unter dem im Eisenberg-Kommentar angesprochenen „pflichtgemäßen Ermessen“ versteht, illustriert sie eindringlich mit folgender Fallschilderung, worin sie aus der mündlichen Verhandlung eine „Hauptverhandlung“ macht, die es im §76er-Verfahren gar nicht gibt.

„Der Schüler beleidigt seinen Lehrer mit den Worten „Hurensohn, ich ficke die ganze Schule". Drei Wochen später treffen sich beide vor Gericht. Der Schüler hat noch nicht die Lehranstalt gewechselt, man begegnet einander täglich. In diesen Situationen hat bereits die Hauptverhandlung einen erzieherischen Effekt. Wenn sich in der Verhandlung abgesehen von der Straftat zeigt, dass der Jugendliche Unregelmäßigkeiten im Schulbesuch aufweist, verhänge ich oft eine Schulbesuchsweisung. Der Angeklagte, der zwar ohnehin der Schulpflicht unterliegt, aber diese geflissentlich ignoriert, wird damit zum Schulbesuch verurteilt. Das hat eine interessante Folgewirkung: Ich rufe die Klassenlehrer an und teile mit, dass Steven - so nennen wir ihn hier einmal - in der Schule zu erscheinen hat. Wenn er nicht da ist, will ich sofort informiert werden. Dann kann ich einen Anhörungstermin ansetzen und einen Beugearrest bis zu vier Wochen verhängen. (S.183)

Der Arrest und seine braunen Wurzeln

Die breite Akzeptanz, die das „Neuköllner Modell“ in den Amtsstuben des Berliner Senats erfahren hat, dürfte weniger von der Sorge um die heranwachsende Generation bestimmt gewesen sein als von der Aussicht auf zukünftig ressourcen- und kostensparende Behördenabläufe. Dass mit diesem Modell der Polizeibeamte zum „Quasi-Richter vor Ort“ ermächtigt wird und freiheitsentziehende Maßnahmen wie der Arrest im Schnellverfahren auf dem Felde der Jugenddelinquenz Standard werden, wird übrigens dem starken Staat nicht zum Nachteil gereichen. Letzteres und die von Heisig bereits vor Erscheinen ihres Buches gebetsmühlenartig erhobene Forderung nach umfassender Anwendung des Arrests sind Grund genug, der Frage nachzugehen, seit wann in der deutschen Rechtsprechung der Jugendarrest als Sanktionsmittel angewendet wird.

Das 1923 in Kraft getretene Jugendgerichtsgesetz fußte auf dem Grundverständnis, dass Erziehungsmaßregeln Vorrang gegenüber der Freiheitsstrafe haben müssen. Ein dazwischen geschalteter Arrest als „Zuchtmittel“ war nicht enthalten. Nach 1933 wurde der Arrest  durch die Nazis zum Erziehungsmittel uminterpretiert, als Zuchtmittel gelabelt und schließlich 1940 auf dem Verordnungswege in das Jugendstrafrecht eingeführt, das 1943 in noch einmal verschärfend überarbeitet wurde. Insbesondere in Sachen Arrest kam nun der so genannte „Ungehorsamsarrest“ hinzu. Hauptpromoter des Jugendarrests war der berüchtigte Nazi-Verbrecher, Staatssekretär im Reichsjustizministerium, Roland Freisler - ab 1942 Volksgerichtshofspräsident (siehe Petra Götte, Jugendstrafvollzug im III.Reich, 2003, S.43ff)

Als wesentlichen Grund für die Einführung des Arrests als Zuchtmittel durch die Nazis nennt Miriam Kretschmer die Durchsetzung der 1939 eingeführten Jugenddienstpflicht gegen sich verweigernde Jugendliche und Eindämmung der Arbeitsbummelei. Ganz allgemein diente der Arrest als Mittel zur Aufrechterhaltung der Disziplin im Krieg an der „Heimatfront“. (Miriam Kretschmer, Der Jugendarrest. Ursprünge, heutige Handhabung und Sinnhaftigkeit, 2001, S 2ff). Nach Kretschmer galt jedoch für die Nazis der Jugendarrest als ungeeignet für „hoffnungslose Kriminelle“ und „fremdvölkische Jugendliche“. Für die „Gutartigen“ war der Jugendarrest eine „kurze aber harte Erziehungsstrafe“ und für Freisler ein „Ordnungsruf mit abschreckender Schockwirkung.“ (ebd.)    

Übrigens ähnlich argumentiert auch Kirsten Heisig: „Die Verfahren, die wir auf diese Weise erledigen, sind allerdings nicht geeignet, auf Intensivtäter einzuwirken, da bei diesen bereits Jugendstrafen im Raum stehen. Aber ein Element zur Verhinderung von Intensivtäterkarrieren ist darin durchaus zu sehen.“ (S.185)

1953 wurde in der BRD das Jugendgerichtsgesetz in seiner faschistischen Fassung durch eine nach FDGO-Grundsätzen überarbeitete Fassung ersetzt. Enthalten im JGG blieb der Arrest als Straf- und Zuchtmittel zur Durchsetzung richterlicher Weisungen. Im JGG §11 und 15 ist zwar nur schlicht vom Jugendarrest die Rede, während in der kommentierenden Literatur begrifflich differenziert wird. Da gibt es den Beugearrest, dann ist mal vom Ungehorsamsarrest die Rede. Beliebte Formulierungen sind auch Zwangs-, Nichtbefolgungs- oder Beschlussarrest.  (Kretschmer S.6)

DER ARTIKEL ERSCHEINT IN DER SEPTEMBER-AUSGABE
der TREND - onlinezeitung
 http://www.trend.infopartisan.net

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Kirsten Heisig: Das Ende der Geduld. Konsequent gegen jugendliche Gewalttäter. Herder Verlag, Freiburg 2010. 208 Seiten, 14,95 Euro.
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Ergänzungen

Diskriminierung / Intoleranz / Dummheit

Ghettokid 27.08.2010 - 17:29
So siehts aus. Aus der Sicht von homosexuellen Menschen ist das nochmal n ganz anderes Kaliber. Aber mal ganz ehrlich: Wir halten uns für aufgeklärt, dabei steht die dumme, intolerante deutsche Dorfjugend in Punkto Diskriminierung von Anderdenkenden- und lebenden den Neuköllner Kids in nichts nach.

Zu sehen auch in der Doku "Du schwule Sau - Der neue Hass auf Homosexuelle":
 http://www.youtube.com/watch?v=C7Xq0UAXYgE
 http://www.youtube.com/watch?v=7blk_lrtPBg
 http://www.youtube.com/watch?v=fqoj-6fxwMU
 http://www.youtube.com/watch?v=fV9AlHjWzG4
 http://www.youtube.com/watch?v=xoSPnCVlToQ

Ich will und werde für diese fundamentalistisch-unaufgeklärten Bevölkerungsgruppen, ob christlich, jüdisch, katholisch oder muslimisch keine Lanze brechen - Integration und soziales Miteinander muss genauso gelehrt werden, wie Mathematik oder Rechtschreibung.

Insbesondere in einer Gesellschaft, wie der Unseren. Aufklärung gibts hier doch nur auf dem Papier ...

Beiträge die keine inhaltliche Ergänzung darstellen

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Jugendgewalt — Ghettokid

@ Ghettokind — Leser