Das Straßburger Inzest-Urteil und die Linke

Jemensch 12.04.2012 19:01
Die Motivation für den folgenden Text ist, dass er die Frage nach der (Un-)aktivität linker Strukturen in der "Inzestfrage" stellt - wieso Linke sich gerne bei Genderfragen engagieren, jedoch bei einem gesellschaftlichem Tabu, daß maßgeblich mit faschistischer Ideologie deckungsgleich ist, einfach nichts tun.
Der Anlaß ist das vor kurzem erfolgte Urteil des europäischen Gerichtshofes über die deutsche Regelung des Inzestphänomenes. Nachdem der Kläger, der mit seiner Schwester lebt und 4 Kinder hat, 2 davon behindert, 2008 vor dem Bundesverfassungsgericht gescheitert war, zog er vor den europäischen Gerichtshof, da er in der deutschen Inzestregelung einen Verstoß gegen die Europäische Menschrechtskonvention sah. Er selbst hatte wegen "inzestdelikten" mehrere Jahre im Gefängnis gesessen.

Nun entschied das Gericht also, dass der Inzest in Deutschland korrekt vom Staat sanktioniert wird - und bezieht sich dabei auf: nichts, außer "einer Zustandsbeschreibung - einerseits der unterschiedlichen Rechtslage in den 47 Ländern des Europarats, andererseits der eigenen Rolle. Die ist zunehmend von Zurückhaltung gegenüber den nationalen Gerichten und Rechtsordnungen geprägt, wozu die Kritik aus Deutschland und Großbritannien wesentlich beigetragen hat. Und wovon zuletzt insbesondere diese Länder profitiert haben." ( http://www.sueddeutsche.de/panorama/inzest-urteil-in-strassburg-warum-das-inzestverbot-widersinnig-ist-1.1331288)
Dabei ist die Rede von Inzesthandlungen, die zur Fortpflanzung führen können (vaginaler Geschlechtsverkehr zwischen Frau und Mann). Homosexuelle Inzesthandlungen stehen nicht unter Strafe.

Deutschlands Rolle als Kritiker des Gerichtshofes (und damit letztenendes etwa der liberalen Regelungen in z.B. Frankreich) wird besonders widerlich, sieht mensch sich das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes von 2008 an. ( http://www.bundesverfassungsgericht.de/entscheidungen/rs20080226_2bvr039207.html)

Dort wird als wichtigster Grund für die Ablehnung der Verfassungsbeschwerde genannt, dass "Die Strafvorschrift des § 173 Abs. 2 Satz 2 StGB, nach der leibliche Geschwister, die miteinander den Beischlaf vollziehen, mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft werden, (auf) einer kulturgeschichtlich überlieferten und international weit verbreiteten Verbotsnorm (beruht)", worauf die Geschichte der Verfolgung von Inzestbeziehungen folgt - Angefangen bei Hammurabi, über den deutschen Bund und die Nazis bis heute.

Und genau da wird es kritisch. Deutschlands Geschichte in diesem Bereich ist geprägt von Euthanasie, Hinrichtungen, Sterilisierungen/Kastrationen etc. 2Das Erbgut des deutschen Volkes" zu schützen war das Ziel - so wie auch heute noch. "Den unausgesprochen zentralen Grund sowohl des gesellschaftlichen Tabus als auch des daraus folgenden strafrechtlichen Inzest-Verbots - die möglichen Erbschäden - referiert Straßburg nur. Hinter der eugenischen Begründung steckt aber eine Absicht, die nicht nur in Deutschland mit seiner schrecklichen NS-Geschichte ethisch unhaltbar ist: Das erhöhte Risiko von Erbschäden rechtfertigt kein strafrechtliches Verbot." (Süddeutsche Zeitung)

Denn "mögliche Erbschäden" treten auch z.B. bei Kindern von Frauen über 40 auf. Natürlich ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass ein Inzestkind behindert geboren wird - rechtfertigt das aber ein Verbot, gerade vor dem Hintergund der nationalsozialistischen "Reinheit des Erbgutes" sowie der "Blutschande" aus Kaiserzeiten?

Eine Debatte in der Öffentlichkeit wird bereits geführt, jedoch fehlen (meines Wissens nach) Positionen und Kommentare von links. Ist Inzest ein weiteres sexuelles Tabu (wie es Homosexualität war), das gebrochen werden muss, oder steckt da mehr hinter? Ist dieses Tabu so verbreitet, dass selbst emanzipatorische Organe darüber nicht sprechen wollen aus Angst vor reaktionären Reflexen?

Ich muss zugeben, auch ich selbst finde es schwer, darüber zu schreiben. Ich bin weder Jurist_in noch Genderexpert_in, denke aber, dass Tabus zu brechen die Aufgabe emanzipatorischer Kräfte ist, und hoffe, dass es in Zukunft eine linke Debatte zu dem Thema geben wird.
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Ergänzungen

Inzestfall ist zuerst Anlass zur Medienkritik

Me-Ti 13.04.2012 - 16:27
Dieser Inzestfall und seine gerichtliche Aufarbeitung hätte hier in Indymedia vor allem zur Medienkritik getaugt. Im aktuellen Fall geht es um ein Geschwisterpaar, die getrennt bei verschiedenen Pflegefamilien aufgewachsen sind und keinen Kontakt untereinander hatten. Als sie als Liebespaar zusammenkamen und ihre Kinder zeugten, hatten sie noch keine Ahnung davon, dass sie Geschwister sind. Dies stellte sich erst später heraus, worauf ihnen unter behördlicher Strafandrohung die Fortführung ihrer Beziehung verboten wurde. Daran hielten sie sich nicht, worauf der Bruder zur Haftstrafe verurteilt wurde. Dieses Urteil war dann der Grund für die Verfassungsklage und die Menschenrechtsklage, die jetzt für mediale Aufmerksamkeit sorgte.

Jetzt wäre es selbstverständlich angebracht gewesen, Medienkritik zu üben, denn es wurde zwar über das Urteil berichtet und auch der Kläger in Bild der Öffentlichkeit präsentiert, aber der Hintergrund dieses Inszestfalls verschwiegen. Dies hätte dann nämlich zu der zu vermittelnden Paradoxie geführt, dass zwar ein biologisch-verwandtschaftlicher Inszest aber kein emotional-sozialer vorlag. Insofern war die Fragestellung im verlinkten SZ-Artikel schon richtig, ob allein das Risiko von behinderten Nachwuchs den Inszestparagraphen rechtfertigt - und insofern ist auch der Verweis auf den Nationalsozialismus gerechtfertigt.

Unabhängig davon ist das Inszestverbot - neben dem Mordverbot - ein universelles gesellschaftliches Tabu, selbst im Verhalten (insb. sozialer) Tiere lässt sich die Vermeidung des Inszest beobachten (Tiere in Gefangenschaft sind dabei ausgenommen, da sie sich nicht natürlich verhalten). Grundlage des Inszestverbots ist die biologische Funktion der Sexualität des gesunden Nachwuchses - und die Natur kennt keine Moral. Daneben lässt sich in menschlichen Gesellschaften zwar durchaus ein ritueller Inszest beobachten (als Initiierungsritus oder zum herrschaftlichen dynastischen Machterhalts), aber dies verstößt nicht gegen die sittliche Gültigkeit des Inszestverbots. Nach der Weberschen Rechtsoziologie ist die Übernahme von Sitten in kodifiziertes Recht plausibel - eine "Nazi-Justiz" liegt bei der Strafbarkeit des Inszest nicht vor.

Ob sich in der modernen Gesellschaft aber das Inszestverbot noch rechtfertigen lässt, ist dabei aber eine andere Frage. Zumindest muss dahingestellt werden, ob das Risiko behinderten Nachwuchses noch ausreichend ist bei Bekanntheit anderer Risikofaktoren und bei dem zur verfügstehenden gesellschaftlichen Ressourcen zur Betreuung und Pflege von behinderten Menschen. Ansonsten sind die im SZ-Artikel aufgeführten Gründe des Gerichts zum strafrelevanten Verbot von Inszest selbstverständlich nur vorgeschoben und zeugen von Erklärungsnot: Die Strafrechtsnorm sexueller Missbrauch verhindert bereits hinreichend die sexuelle Ausnutzung des verwandtschaftliche Machtgefälles. Insofern ist der Inszestparagraph anachronistisch und gehört abgeschafft.

Natursperre

Thema des Artikels 14.04.2012 - 14:16
Nicht die Gesetze sind das Problem, Fakt is nu ma, das es eine natürliche evolutionäre Sperre gibt. Geschwister finden sich in der Regel nicht erotisch anziehend. Warum? Die Evolution selbst hat hier eine Sperre errichtet weil Gene eben durchmischt werden müssen. Andernfalls ist die Überlebensaussicht des Nachwuchs zu gering um das Verhalten weiterzugeben. Ist auch mit anderen Verhaltensweisen wie Kanibalismus so. Generationen die kanibalistisch leben, sind anfälliger für spezielle Bakterien und deren Aussicht das Fortflanzungsalter zu erreichen ist nidriger, als Generationen, die es lassen. Somit können die Generationen, die derartige Infektionen vermeiden, ihr Verhalten weitergeben und das geht bis zum Affen zurück.
Die entsprechenden Gesetze sind nur der kulturelle Ausdruck davon. Es hat also nichts mit Tabubruch zu tun, die Evolution da zu akzeptieren, wo sie eben schlauer als der Mensch ist. Oder wollen wir klüger sein als ein Prinzip, das sich über eine Millionen Jahre (oder mehr) herausgebildet hat?
Das hat mal nix mit Nazi und Eugenik zu tun, im Gegenteil. Gerade die Nazis propagierten ja das reine Erbgut. Wissenschaftlich gesehen ist reines Erbgut eben nicht von Vorteil. Die indigenen Völker Südamerikas waren weit reinrassiger als die Europäer. Und anfälliger gegen die eingeschleppten Erreger.
Es ist ein Irrglaube, wenn Linke meinen, alles was Gesetz ist, aus Prinzip abschaffen zu müssen. Oder es sei schon revolutionär alle Normen zu berechen, nur um sie zu brechen. Den Verstand darf man dabei immer noch benutzen.

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fortschritt — schreiter