Deutschland wg. Polizeigewarsam verurteilt

daspolizeilichegegenüber 01.12.2011 14:37 Themen: G8 G8 Heiligendamm Repression
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat der Klage der Beschwerdeführer in fast vollem Umfang stattgeben und Deutschland wegen der fast sechstätigen Freiheitsentziehung verurteilt. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass der Polizeigewahrsam von der ersten bis zur letzten Minute durchgehend rechtswidrig war und das Recht auf Versammlungs- und Meinungsfreiheit verletzt worden ist. Damit reiht sich das Urteil ein in die offensichtliche Rechtswidrigkeit des polizeilichen Gewahrsams, wie es regelmäßig bei Groß-Demonstrationen, Protesten gegen Naziaufmärsche oder beim Castor-Transport zur Anwendung kommt.
Viereinhalb Jahre nach dem G8-Gipfel in Heiligendamm hat der Europäische Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg mit einem am heutigen Tag veröffentlichten Urteil die Freiheitsentziehung zweier Aktivisten für rechtswidrig erklärt. Der Gerichtshof hat festgestellt, dass die beiden Beschwerdeführer Sven S. und M.G. zu unrecht für die Dauer von fast sechs Tagen in polizeilichem Präventiv-Gewahrsam gehalten wurden, nachdem bei einer Fahrzeugüberprüfung Transparente mit den Aufschriften „Freedom for all prisoners“ und „Free all now“ bei ihnen gefunden worden waren.

Die deutschen Gerichte und die deutsche Bundesregierung hatten gemeint, dass die beiden damit zu „Gefangenenbefreiung“ aufrufen wollten und durch Wegsperren daran gehindert werden mussten. Für Sven und M. G. bedeutete der Aufenthalt im Gefängnis bereits vor und während des gesamten G8-Gipfels, dass sie weder Protest gegen (im Laufe der Woche über 1.000) widerrechtliche Freiheitsentziehungen durch die Polizei noch gegen die Politik der G8 äußern konnten. Die Freiheitsentziehung der beiden reihte sich damit ein in die Praxis deutscher Behörden, ohne Rücksicht auf Verhältnismäßigkeitserwägungen politischen Protesten auf der Straße wie aktuell beim Castor-Transport mit härtesten Mitteln wie der Freiheitsentziehung oder körperlicher Gewalt zu begegnen. Weitere Beispiele hierfür sind Gegenveranstaltungen zu Nazi-Aufmärschen oder Proteste gegen Großbauvorhaben wie Stuttgart 21.

Der Straßburger Gerichtshof hat nun festgestellt, dass diese Form der Freiheitsentziehung gegen die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) verstößt. Verletzt wurden nach dem Urteil vom 8. November 2011 das Freiheitsrecht aus Art. 5 sowie die Versammlungsfreiheit aus Art. 11 der Konvention. Der Gerichtshof prüfte eine Verletzung der Meinungsfreiheit nicht gesondert, da die Meinungsäußerung im Rahmen einer Versammlung geschehen sollte und insoweit insgesamt Art. 11 EMRK anzuwenden sei.

Rechtsanwältin Anna Luczak: „Gerade vor dem Hintergrund der polizeilichen Praxis, Freiheitsentziehungen als Abschreckungsmethode gegen politische Proteste einzusetzen, ist diese ausdrückliche Einbeziehung der Versammlungsfreiheit sehr zu begrüßen.“

Besonders wichtig ist die Begründung dafür, wieso der Gerichtshof Deutschland wegen der Freiheitsentziehung verurteilt hat. Denn dieser zufolge steht nun nach der Sicherungsverwahrung eine weitere Form der Freiheitsentziehung in Deutschland in Frage. Wie die Sicherungsverwahrung kann der Polizeigewahrsam nach deutschen Gesetzen angeordnet werden, wenn „Tatsachen die Annahme rechtfertigen“, dass eine Person in Freiheit Straftaten begehen würde.

Im nun vom Gerichtshof entschiedenen Fall des Polizeigewahrsams gründete sich die Prognose auf die angebliche Gefährlichkeit der Aufschrift „Freedom for all prisoners“. Keine der deutsche Behörden, auch die Bundesregierung in ihren Stellungnahmen nicht, würdigte richtig, was nun der Gerichtshof eindeutig festhielt: Der Slogan „Freiheit für Gefangene“ hat viele Bedeutungen und kann auf keinen Fall nur als Aufforderung zu einer Straftat gelesen werden. Der Gerichtshof hat deshalb schon allein wegen der fehlerhaften Deutung der politischen Äußerung der Beschwerdeführer die Freiheitsentziehung als konventionswidrig eingestuft. Weitere Verfahren werden zeigen, ob es überhaupt eine denkbare Konstellation gibt, in der die „sichere Prognose einer unmittelbar bevorstehenden Straftat“ einen Polizeigewahrsam nach der Konvention zulassen kann.

Rechtsanwältin Anna Luczak: „Die deutschen Behörden – Polizei und Justiz – müssen nach diesem Urteil ihre Praxis der Freiheitsentziehung auf den Prüfstand stellen. Der Gerichtshof hat ausdrücklich festgehalten, dass der Polizeigewahrsam der Beschwerdeführer keine der fünf in Art. 5 Abs. 1 EMRK abschließend benannten Formen zulässiger Freiheitsentziehung war. Solange keine konkret zu erwartende und zu ahndende Tat oder Pflichtverstoß zu benennen ist, darf das Freiheitsrecht nicht beschränkt werden.“

Sven zeigt sich nach dem Urteil erleichtert: „Es ist schon seltsam, dass deutsche Gerichte, denen die Sache insgesamt sieben Mal zur Entscheidung vorlag, nicht eingesehen haben, was nun auf internationaler Ebene ganz klar gesagt wurde: Es gab überhaupt keinen Grund, uns fast sechs Tage ins Gefängnis zu sperren. Es gab keinen Grund, uns in der Zelle unsere Lebenszeit vergeuden zu lassen. Das Urteil aus Straßburg kann das nicht ungeschehen machen. Aber Polizei und Justiz müssen nun reagieren und dafür sorgen, dass die Polizei nicht mehr Protestierende einfach mitnehmen, einkesseln oder für Stunden oder gar Tage wegsperren darf.“
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Ergänzungen

München: Polizei misshandelt Dolmetscherin

Polizeigewalt München 01.12.2011 - 15:14
 http://www.amnesty-polizei.de/2011/10/verletzungen-einer-dolmetscherin-nach-besuch-auf-munchner-polizeiwache-2/

MÜNCHEN, OKTOBER 2011 – Am Rosenmontag, den 7. März 2011, hat eine 59-Jährige Dolmetscherin bei der Münchner Polizeiwache am Hauptbahnhof vielfältige, ärztlich dokumentierte Verletzungen erlitten.
Wie die Süddeutsche Zeitung berichtete, stellt die Verletzte fest, sie sei ohne Grund misshandelt und erniedrigt worden. Die Version der Beamten weicht von der Version der Dolmetscherin ab. Die Verletzte hat eine Anzeige gegen die Polizisten gestellt, die Ermittlungen gegen die Beamten wurden jedoch inzwischen eingestellt, ohne die in der Wache zu damaligen Zeitpunkt anwesenden rumänischen Zeugen zu vernehmen. Die Anwältin der Betroffenen hat gegen die Einstellung der Ermittlungen gegen die Polizisten Beschwerde eingelegt.
Währenddessen erhielt die Betroffene einen Strafbefehl: wegen versuchter Strafvereitelung, Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte, vorsätzlicher Körperverletzung, Beleidigung und falscher Verdächtigung. Diesen will sie, wie die Süddeutsche Zeitung berichten, nicht akzeptieren.

Quelle:
SÜDDEUTSCHE ZEITUNG: Verletzung nach Besuch auf Polizeiwache. Gewalt auf dem Revier – 17.06.2011
SÜDDEUTSCHE ZEITUNG: Verletzung nach Besuch auf Polizeiwache. Im Polizeigriff. – 19.10.2011

Straßburger Gericht verurteilt Deutschland

---- 01.12.2011 - 16:26
Erfolg für Gipfel-Gegner von Heiligendamm

Die Bundesregierung muss zwei jungen Deutschen je 3000 Euro zahlen, weil sie während des G8-Gipfels 2007 in Heiligendamm ungerechtfertigt fünfeinhalb Tage in Gewahrsam genommen wurden. Deutschland habe damit die Europäische Menschenrechtskonvention verletzt, befand der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig, beide Parteien können innerhalb von drei Monaten Berufung einlegen.

Von Michael Reissenberger, SWR


Erfolg in Straßburg für zwei G8-Gipfel-Gegner. Die Polizei hatte sie im Juni 2007 länger als fünf Tage in Gewahrsam genommen, um sie an Demonstrationen gegen das Treffen der Staats- und Regierungschefs in Heiligendamm zu hindern.

Die Polizei hatte die beiden bei einer Personenkontrolle auf einem Parkplatz vor einer Justizvollzugsanstalt aufgegriffen in Begleitung von sieben weiteren Kundgebungsteilnehmern. In ihrem Transporter stellte die Polizei Transparente mit der Aufschrift sicher: "Freedom for all prisoners. Free all now." (Freiheit für alle Gefangenen. Jetzt.)

Die Rostocker Richter werteten diese durchaus mehrdeutigen Parolen damals zu Lasten der Männer - als Aufruf zur im Zweifel gewaltsamen Befreiung von Häftlingen. Aus diesem Grunde könnten nach dem Landespolizeirecht die beiden Demonstranten in Gewahrsam genommen werden, bis das G8-Gipfel-Treffen vom 08. Juni beendet sei.

Europarichter: Deutsche Justiz urteilte überzogen

Die Europarichter betrachten diese Haltung der deutschen Justiz als überzogen. Der Straßburger Gerichtshof weist darauf hin, dass die beiden Demonstranten keinerlei Werkzeug oder gar Waffen mit sich geführt hatten, die zur gewaltsamen Befreiung von Häftlingen hätten dienen können. Die Parolen auf den Transparenten könnten ja auch durchaus harmloser verstanden werden, als Aufforderung an die Justiz, bereits inhaftierte Demonstranten frei zu lassen.

Der Europäische Gerichtshof sieht allerdings auch, dass die Sicherheit für die G8-Teilnehmer zu garantieren, eine erhebliche Herausforderung für die Behörden bedeutete. Und eine gewisse Nervosität sei angesichts einer erheblichen Anzahl gewaltbereiter Personen auch verständlich. Trotzdem hätte die Polizei hier bei der Abschreckung überzogen und damit das Recht auf Versammlungsfreiheit verletzt.

Die Straßburger Richter sprechen deshalb wie an diesem Gerichtshof üblich eine finanzielle Kompensation für den erlittenen Freiheitsentzug zu. 3000 Euro für jeden. Außerdem die Rechtsanwaltskosten.

Auch vor deutschen Gerichten läuft noch immer die juristische Aufarbeitung der damaligen Polizeieinsätze. Mehr als tausend Kundgebungsteilnehmer sind vor und während des G8-Gipfels in Rostock und Umgebung festgenommen worden. Auch deutsche Verwaltungsgerichte haben teilweise fehlende Gründe bzw. die Haftbedingungen der Ingewahrsamnahme kritisiert.

 http://www.tagesschau.de/inland/urteil138.html

....

.... 02.12.2011 - 10:27
das gericht hat doch eigentlich nur gesagt, dass die aufschrift "freiheit für die gefangenen" ungeeignet ist, das "unmittelbare bevorstehen von straftaten" zu verhindern? und die dahinterstehende logik nicht mal ansatzweise kritisiert. vorher hatten sie entschieden, wer zu chaostagen will, kann inhaftiert werden (2005).

Beiträge die keine inhaltliche Ergänzung darstellen

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das ist super! — endlich

nur angst — kein respekt

Konsequenzen — ...

seid nicht so naiv — christa wolf