"Libyens fallender Tyrann" (Hintergrundtext)

H. Eckel 05.03.2011 17:42 Themen: Medien Netactivism Repression Soziale Kämpfe Weltweit
Warum ist der Funke der Bewegungen für soziale und demokratische Rechte - nach Tunesien und Ägypten - ausgerechnet auf Libyen übergesprungen? Der folgende Artikel gibt Antworten darauf.
(Zuvor jedoch noch eine Anmerkung: während die USA mittlerweile ihre Geldströme nach Libyen gestoppt haben, fließt europäisches und asiatisches Geld bis zur Stunde ungehindert an die libysche Staatsbank - im Austausch für immer noch exportiertes Öl bzw. weiterhin vergossenes libysches Blut. Wen kümmert es schon, dass Gaddafi damit z.B. Söldner aus Mali einkaufen kann, um "sein" Volk abzuschlachten?)

Hier jetzt aber der Text (im Anhang auch noch einmal in Druckfassung):

Libyens fallender Tyrann

von Dr. Larbi Sadiki*

Gaddafi erntet, was er während seiner vier Jahrzehnte langen Herrschaft gesät hat: Terror, Vetternwirtschaft, Stammespolitik und Machtmissbrauch.

Libyen kann der Ansteckung durch den demokratisch-revolutionären Wind nicht entkommen, der durch den Nahen Osten und Nordafrika weht. Wenn der Langzeit-Führer Muammar Gaddafi fällt, wird das ein süßer Sieg für das Erbe Omar al-Mokhtars sein, des legendären antifaschistischen und antikolonialen Helden. Aber eine Menge Blut wird fließen, bevor der libysche Colonel das Schiff verlässt.

Nach Iraks Saddam Hussein und Tunesiens Ben Ali ist Gaddafi der schlimmste der überlebenden illegitimen arabischen Führer. Er erntet jetzt, was er gesät hat: Terror, Vetternwirtschaft, Stammes-Politik und Machtmissbrauch.

In Gaddafis Libyen mussten der sogenannte Volkskongress, Universitäten und andere regimeverbundene Organisationen der offiziellen Linie folgen: Verehrung des "Bruders und Führers", sein grünes Buch lesen und das Konzept des Panafrikanismus vertreten, an das niemand außer Gaddafi und seine Anhänger glaubte.

Als ich das Land mit einer Gruppe von Studenten der Universität von Exeter besuchte, füllten die hohlen Slogans von Gaddafis "Großer Revolution" sämtlichen öffentlichen Raum aus. "Partner, nicht (bezahlte) Angestellte" hieß einer. Ein anderer deklarierte: "Volksmacht" (sultat al-sha’ab). Nichts könnte weiter von der Wahrheit entfernt sein.

Gaddafi regierte das Land mit der Wahnvorstellung von der Erhabenheit eines Mannes, der im Putsch von 1969 mit ziemlich annehmbaren politischen Idealen an die Macht kam, die jedoch korrumpiert und aufgegeben wurden. Gaddafis vielgerühmter Sozialismus wurde zu einem Verteilungsprozess unter den Mitgliedern seines Clans.


Innerer Kreis

Ein innerer Kreis von Gaddafis Vertrauten und engen Verwandten beschloss und exekutierte die Hinrichtungen in den 1970er Jahren, wobei sie sich auf die gefürchteten und mörderischen "Revolutionskomitees" stützten.

Keine Beteiligung des Volkes gab es, als Beschlüsse über Kriege wie im Tschad oder anderswo in Afrika gefasst und ausgeführt wurden. Die Menschen konnten sich nicht öffentlich über das in Verfolgung von Gaddafis Auslandsabenteuern verschwenderisch gezahlte Geld - einschließlich der Unterstützung terroristischer Organisationen - beschweren.

Gaddafis Regime stand in Verbindung mit der Schwarzer-September-Ermordung israelischer Athleten in Deutschland 1972, dem Verschwinden des schiitischen Imams Musa al-Sadr 1978, der Ermordung der britischen Polizeioffizierin Yvonne Fletcher 1984, der Bombardierung der Berliner Diskothek La Belle 1986, dem Waffen-Transportschiff, welches 1987 für die Irisch-republikanische Armee bestimmt war, mit dem Kidnapping des PanAm-Flugs 73 im Jahre 1986 und dem Bombenanschlag auf den PanAm-Flug 103 im Jahr 1988. Diese Auflistung ist jedoch noch nicht einmal vollständig.

Die Bombardierung von Tripolis und Benghazi durch die USA 1986 oder die großen Geldsummen, die Gaddafi als Kompensation aller Arten von Klagen gegen Libyen zahlte, waren ein Teil des Preises, den die Libyer für die Fehlkalkulationen ihres Führers zahlen mussten.

Die Sanktionen und der Paria-Status wurden lediglich in den letzten 10 Jahren etwas abgemildert. Den grünen libyschen Pass zu besitzen machte die Bewohner Libyens zu unerwünschten Personen ("persona non grata") in vielen Teilen der Welt.

Gaddafis Narzissmus war derart, dass sehr wenige seiner Waffenbrüder aus der ursprünglichen Gruppe der Freien Offiziere, die den Putsch von 1969 gegen König Idris durchführten, seine Brutalität überlebten.

Einige staben unter mysteriösen Umständen (Omar Limheshi; Imhammad al-Muqrif). Andere zogen sich freiwillig aus der Öffentlichkeit zurück (Abd al-Salam Jelloud).


Ein Akt öffentlicher Nichtanerkennung

Wie in Ägypten stellte der Aufstand in Libyen einen Akt öffentlicher Nichtanerkennung eines bestehenden Regimes dar. Dabei handelt es sich um Länder, die militärische Revolutionen hatten und heute zivile Revolutionen durchleben.

Wie Tunesien, aber in schlimmerer Weise, hat Libyen sehr wenig in den Aufbau von Sozialfonds oder zivilgesellschaftlichen Kapazitäten investiert. Alle Organisationen sind Gaddafis Großer Revolution verpflichtet und angegliedert. In Wirklichkeit handelt es sich aber um Zellen, die die Menschen ausspionieren, oder um zur Verteidigung des Regimes gekaufte Milizen. Wenn Kundgebungsteilnehmer Fahnen schwenken und Pro-Gaddafi- oder antiwestliche Parolen rufen, dann machen sie das auf Befehle des Regimes hin.

Dessen ungeachtet waren die Libyer nicht passiv. Beispielsweise haben die Libysche Liga für Menschenrechte, die Nationalkonferenz der Libyschen Opposition (NCLO) und die verbannten Islamisten allesamt das Internet genutzt, um ihrem Verdruss Ausdruck zu verleihen. In einigen Fällen nutzten libysche Dissidenten das Internet als politisches Instrument noch vor den Aktivisten in anderen Teilen des Nahen Ostens. Die NCLO traf sich 2006 in London und könnte eine Rolle bei der Neugestaltung des Nach-Gaddafi-Libyen spielen.

Versuche, Gaddafi von der Macht zu entfernen, begannen in der Mitte der achtziger Jahre. Der bedeutendste war der Umsturzversuch in der Bab Al-Aziziya-Kaserne im Mai 1984, bei dem die Nationale Front zur Rettung Libyens, die von militärischen und zivilen Dissidenten gebildet wurde, eine führende Rolle spielte.

Die ernsthafteste Kampfansage an die Herrschaft Gaddafis kam von Libyens bevölkerungsreichstem und mächtigstem Stamm, den Warfallah, im Oktober 1993. Der Aufstand führte 1995 zu Schauprozessen. Viele Stammesangehörige wurden 1997 hingerichtet.

Die östliche Region, Benghazi, war immer ein Ausgangspunkt von Widerstand gegen das Regime. Dutzende starben bei Protesten im Jahr 2006. Der Hintergrund des gegenwärtigen Aufstands ist sowohl stammesbezogen als auch regional. Zwei Stämme haben Gaddafis Regime die Gefolgschaft entzogen, womit sie auch alte Rechnungen beglichen haben. Gaddafi zahlt jetzt den Preis für die Demütigung des Stammes der Wirfallah, den er seit Mitte der 1990er Jahre aus seinen Begünstigungen ausgeschlossen hat. In ähnlicher Weise erlitt der Stamm der Tabu im Südosten fürchterliche Diskriminierung.

Die Elendsgürtel Libyens führen jetzt die Rebellion an. Städte wie Al Baida, Dema, Ijdadia sind alle an den Rand gedrängt und Gaddafi nicht verbunden, weil sie von seiner Herrschaft nicht gewonnen haben. Die ärmsten Vorstädte von Tripolis, Zintan und Zawiya, die unter heftigen Beschuss gekommen sind, führen den Aufstand in der Hauptstadt an.

Warum erweist sich die Revolution, die Tunesiens Ben Ali vertrieben hat, als ansteckend? Die Gründe können in folgenden Faktoren zusammengefasst werden: der Anwesenheit eines Herrschers vom Typ Ben Alis; dynastischer und vetternwirtschaftlicher Verrottung; monarchischem Republikanismus; zügelloser Korruption; der Marginalisierung junger Menschen; Menschenrechtsverletzungen; Informationskontrolle in Verbindung mit einem Polizeistaat.

Alle diese Bedingungen sind in Libyen vorhanden. Das einzige Gute in Gaddafis Libyen ist die Abwesenheit von Wahlen, was Gaddafis Revolutionskomitees das Vergehen erspart, sie zu manipulieren.

Zusätzlich zu diesen Faktoren wurde die östliche Region, vor allem Benghazi, der Petroleum-Dividenden beraubt. In einem Land mit einem der längsten Küstenstreifen und einer hohen Ölproduktion sollten Einkommen und Chancen allen Einwohnern zur Verfügung stehen. Aber das war nicht der Fall. Jetzt erntet Gaddafi, was er gesät hat.


Quelle: Al Jazeera (english)  http://english.aljazeera.net/indepth/opinion/2011/02/201122120055942895.html

* Dr. Larbi Sadiki ist Professor für Politik des Nahen Ostens an der Universität von Exeter und Autor von: Arab Democratisation: Elections without Democracy (Oxford University Press, 2009) und The Search for Arab Democracy: Discourses and Counter-Discourses (Columbia University Press, 2004), forthcoming Hamas and the Political Process (2011).

Übersetzung: H. Eckel (mit herzlichem Dank an den Autor für die freundliche Genehmigung der Weiterveröffentlichung).


Weitere Informationen:

- ständige Liveberichterstattung auf Al Jazeera:  http://english.aljazeera.net/watch_now

- Söldnerankauf in Mali (Einkaufspreis 10 000 $, Tagesgage 1000 $):  http://www.bbc.co.uk/news/world-12647115



Sämtliche Fotos: Bernd Kudanek  http://www.carookee.com/forum/freies-politikforum/2/27531903#27531903
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