Leipzig: fehlende Auseinandersetzung mit Rassismus

Miriam Schleicher 02.12.2010 17:13 Themen: Antifa Antirassismus Medien
Wenige Wochen nach dem rassistischen Mord an Kamal K. vor dem Leipziger Hauptbahnhof zieht der „Initiativkreis Antirassismus“ ein negatives Fazit zur Aufarbeitung dieses Verbrechens.
„Wir sind schockiert, wie schnell in der Öffentlichkeit über den Fall hinweggegangen wird“, sagt Miriam Schleicher, Pressesprecherin des Initiativkreises. Ein Indiz dafür ist die nach wie vor intransparente Ermittlungsarbeit der Staatsanwaltschaft. „Die äußert sich gar nicht, abgesehen vom ständigen Wiederholen der offensichtlich falschen Behauptung, für ein rassistisches Mordmotiv gebe es keine Indizien.“

Dieser Argumentation hat sich umstandslos auch Sachsens Ausländerbeauftragter Martin Gillo (CDU) angeschlossen. Einer vom Initiativkreis veranstalteten Antirassismus-Demonstration am 4. November in Leipzig, an der sich bis zu 1200 Menschen beteiligt hatten (Berichte zur Demonstration: siehe 1 und 2), blieb Gillo mit der Begründung fern, man müsse erst die Ermittlungsergebnisse abwarten und dürfe den Fall nicht „politisieren“. In einem Interview mit dem Bürgerradio „Corax“ aus Halle (Link 3) hat Gillo am selben Tag stattdessen die Aufmerksamkeit auf die populistische Forderung nach „härteren Strafen“ gelenkt.

Im selben Interview hat Gillo zudem Thilo Sarrazins These verteidigt, MigrantInnen würden als „Trotz-Reaktion“ so genannte „Parallelgesellschaften“ aufbauen. „Durch solche unreflektierten Äußerungen wird das Verhältnis von Opfern und Tätern auf den Kopf gestellt“, sagt Schleicher. „Statt sich die Frage zu stellen, warum Kamal K. ermordet wurde, sollen sich nun MigrantInnen dafür rechtfertigen, dass und wie sie in Deutschland leben. Diese Denkweise ist ein Bestandteil rassistischer Stimmungsmache, die mit der laufenden ‚Integrationsdebatte‘ einhergeht.“ In diesem Sinne ist Gillo eine Fehlbesetzung für sein Amt: Er politisiert den Fall – von rechts.

Das Umfeld des Ermordeten – Angehörige und FreundInnen – ist nach wie vor erschüttert über die Tat und die feindlichen Reaktionen von Teilen der Leipziger Öffentlichkeit. Bereits beim Trauermarsch zu Kamals Beerdigung ist es zu rassistischen Pöbeleien durch Außenstehende gekommen, die von der zahlreich anwesenden Polizei nicht geahndet worden sind.

Auch ein Vorgehen gegen organisierte rassistische Gruppierungen ist bislang ausgeblieben. Die militante Neonazi-“Kameradschaft Aachener Land“ existiert legal weiter (Link 4), obwohl einer der beiden Mörder Kamals – der Leipziger Daniel K. – dort über Jahre aktiv gewesen ist und sein ideologisches Rüstzeug erhalten hat. „Und in Leipzig ist es nicht besser“, sagt Schleicher. „In der Neonazi-Kaderschmiede in der Lindenauer Odermannstraße (Link 5) werden seit mehr als zwei Jahren unbehelligt rassistische Schulungsveranstaltungen abgehalten.“ Abgesehen von wirkungslosen Absichtserklärungen hat die Stadt dagegen nichts unternommen.

Im Fall Kamal enthielt sich Oberbürgermeister Jung bisher ganz einer Stellungnahme. Kein Handlungsbedarf sieht die Kommunalpolitik offenbar auch im Falle einer so genannten „Bürgerwehr“ im Stadtteil Volkmarsdorf (Link 6), die gegen Sinti und Roma vorgehen will. Nach Informationen des Initiativkreises stehen hinter einem entsprechenden anonymen Aufruf, der im August verbreitet worden ist, Anhänger und Sympathisanten der NPD. „Statt deren Stimmungsmache zurückzuweisen, wird sie für wahr hingenommen“, sagt Schleicher. So hat ein „Aktionsbündnis Sicherheit im Leipziger Osten“, dem verschiedene Behörden und Vereine angehören, eine „Arbeitsgruppe Roma“ eingerichtet. Allerdings sind in dieser Arbeitsgruppe keine Roma vertreten.

In einem „Anwohnerschreiben“ werden Roma dagegen verdächtigt, für „Lärm, Verschmutzung usw.“ verantwortlich zu sein. Deutsche BürgerInnen werden aufgefordert, gegen Nicht-Deutsche, in diesem Falle Roma, gezielt die Polizei einzuschalten – oder selbst durch „beherzte Ansprache“ einzugreifen. Die „AG Roma“ will ihr Treiben gar als „Zivilcourage“ verstanden wissen. „Der Idee einer Bürgerwehr stehen solche Ansätze in nichts nach“, sagt Schleicher. „Sie sind ein Hohn für die Menschen, die dadurch gezielt und in aller Öffentlichkeit gebrandmarkt und ausgegrenzt werden sollen.“ Wohlgemerkt hat selbst die Leipziger Polizeidirektion die Behauptung, Sinti und Roma würden in Volkmarsdorf „auffallen“, als unwahr bezeichnet.

Der Initiativkreis Antirassismus Leipzig kündigt an, selbst Wege zu finden, um gegen die bezeichneten rassistischen Zustände in Leipzig einzuschreiten. Schleicher: „Vor kurzem ist ein Mensch deswegen ermordet worden. Wir wissen nicht, was noch passieren muss, bis den Verantwortlichen mehr einfällt als Schweigen und Wegschauen. Sollte tatsächlich irgendwo eine rassistische ‚Bürgerwehr‘ auftauchen, werden wir ihren Beteiligten auch physischen Widerstand leisten. Aufs Diskutieren haben es diese Leute sowieso nicht abgesehen.“


Berichte zur antirassistischen Demonstration in Leipzig:

1  http://de.indymedia.org/2010/11/293706.shtml

2  http://de.indymedia.org/2010/11/293897.shtml

Interview mit Radio Corax:

3  http://www.freie-radios.net/portal/content.php?id=37051

Presseartikel:

4  http://www.neues-deutschland.de/artikel/185347.linke-fordert-kameradschaftsverbot.html

Bericht 2 Jahre Nazizentrum in Leipzig:

5  http://de.indymedia.org/2010/11/294162.shtml

Bericht zur Bürgerwehr in Volkmarsdorf:

6  http://de.indymedia.org/2010/11/295479.shtml


Ausführlicher Bericht zum Mord an Kamal K. bei Chronikle:

 http://www.chronikle.org/ereignis/junger-leipziger-stirbt-messerattacke


Zu den Mordfällen in Leipzig seit 1990 gibt es auch einen Artikel in der neuen Broschüre von ChronikLe, zu finden auf der Startseite:

 http://www.chronikle.org/
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Ergänzungen

Zum Thema Hintergrund von Tat und Tätern

ich2 02.12.2010 - 22:00
Schweigen um den Mord an Kamal K. brechen

Am frühen Morgen des 24.10.2010 wurde der 19-jährige Kamal K. in Leipzig ermordet. Er erlag den schweren Verletzungen, die ihm mit einem Messer zugefügt wurden. Nach kurzer öffentlicher Aufmerksamkeit ist es nun (zu) still geworden. Dabei lassen Tatumstände und Einstellung der mutmaßlichen Täter die Kategorisierung als politisch rechts motivierte Tat zu
Einer der beiden mutmaßlichen Täter, Daniel K., war bis vor Antritt einer 3-jährigen Gefängnisstrafe im Jahr 2007 fester Bestandteil der Neonaziszene in Nordrhein-Westfalen.Während seiner Haft in Waldheim wurde er von der neonazistischen „Hilfsorganisation für nationale politische Gefangene und deren Angehörige“ betreut. Im selben Gefängnis saß auch der mutmaßliche zweite Täter Marcus E. Bei diesem wurde das Messer gefunden, mit dem Kamal erstochen wurde.

Nachdem es kurz nach dem Vorfall eine öffentliche Debatte über Hintergründe und Motive gab, nachdem zahlreiche Menschen Anteil am Tod des aus dem Irak stammenden Kamal nahmen und eine Demonstration den rassistischen Alltag thematisierte, mit dem Menschen mit Migrationshintergrund konfrontiert sind, ist es still geworden. Zu still.

Staatsanwaltschaft und Polizei müssen die Ermittlungsergebnisse der Öffentlichkeit zügig zur Verfügung stellen - gerade weil es sich sehr wahrscheinlich um einen rassistisch motivierten Mord handelt. Politik und Zivilgesellschaft sind angehalten sich langfristig mit den Rahmenbedingungen auseinanderzusetzen, die eine Tat mit solch krasser Dimension zulassen. Um dies zu ermöglichen, muss das Schweigen gebrochen werden.

Seit 1990 gab in Deutschland laut Angaben des Opferfonds Cura und der Amadeu-Antonio-Stiftung 149 Todesopfer rechter Gewalt. Laut Bundesregierung waren es lediglich 47. Diese Diskrepanz kommt durch Bagatellisierung und Entpolitisierung von Motiven oder politischen Hintergründen der Täter zustande. Dies darf im Fall des ermordeten Kamal K. nicht wieder geschehen.

Die Definition „politisch motivierter Kriminalität“ des Bundesinnenministeriums bietet ganz klar die Handhabe den Fall als rechts motivierte Gewalttat einzuordnen. Nach dieser Definition werden Delikte erfasst, bei denen „die Umstände der Tat oder die Einstellung des Täters darauf schließen lassen, dass sie sich gegen eine Person aufgrund ihrer politischen Einstellung, Nationalität, Volkszugehörigkeit, Rasse, Hautfarbe, Religion, Weltanschauung, Herkunft, sexuellen Orientierung, Behinderung oder ihres äußeren Erscheinungsbildes bzw. ihres gesellschaftlichen Status richtet“.

Beim Mord an Kamal K. lassen die Umstände der Tat, mindestens aber die Einstellung der Täter auf rechte Gewalt schließen. Ein Neonazi und sein Begleiter wählten sich mit Kamal K. ein ihnen unbekanntes Opfer, das aufgrund seiner Hautfarbe in das rassistische Feindbild passte. Nicht zuletzt ist die „Kameradschaft Aachener Land“, in der Daniel K. organisiert war, für Gewalt gegen MigrantInnen und Linke bekannt. Es ist davon auszugehen,dass die Tat ohne dieses Feindbild auf Seiten der mutmaßlichen Täter nicht passiert wäre.

Hintergrundinfos:

- Zeit-Dossier Todesopfer rechter Gewalt 1990 – 2010
 http://www.zeit.de/themen/gesellschaft/todesopfer-rechter-gewalt/index

- Gewalttäter mit braunem Hintergrund (blick nach rechts)
 http://www.bnr.de/content/gewalttaeter-mit-braunem-hintergrund

- Initiativkreis Antirassismus Leipzig
 http://initiativkreis.blogsport.de/

Beiträge die keine inhaltliche Ergänzung darstellen

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differenzieren! — ...

@differenzieren — UweB

wozu differenzieren — Hellseher, ebenso angepisst

?? — XXX