Todesstrafe für Kinderschänder?

antifa gruppe 5 Marburg 28.09.2010 15:09
Was ist passiert, dass ein Marburger CDU-Politiker drei Personen gerne unter der Erde sehen würde und er dies auch noch öffentlich sagt und sagen kann? Das Thema Sicherungsverwahrung [Die Bezeichnung „Sicherheitsverwahrung“ (z.B. bei hart aber fair) ist falsch] ist so präsent in den Medien, wie es polarisiert.
Wir sehen uns als antifaschistische Gruppe dazu genötigt, hierzu Stellung zu beziehen und gegen die widerlichen Forderungen eines breiten Personenspektrums, welches von (konservativen) Bürger_innen bis zum wütenden Volksmob reicht, anzugehen.
Wir wollen zunächst klarstellen, was Sicherungsverwahrung bedeutet und was wir davon halten. Es handelt sich in der öffentlichen Debatte meist um entlassene Sexualstraftäter. Relevant ist dies für die antifaschistische Praxis insbesondere, wenn Nazis dieses Thema aufgreifen. Daher widmen wir uns der Frage, warum das Thema „Kinderschänder“ bei Neonazis so beliebt ist und warum bzw. ob sich „normale“ Bürger_innen in der Vergangenheit von ihnen instrumentalisieren ließen.

Die Sicherungsverwahrung

Sanktionen im deutschen Strafrecht sind nach zwei Gesichtspunkten unterteilt, der Schuld und der Gefährlichkeit. Das heißt, eine Strafe muss verbüßen, wer durch einen Gesetzesverstoß „Schuld auf sich geladen hat“. Wer darüber hinaus noch als gefährlich gilt, muss dazu in sogenannter Sicherungsverwahrung untergebracht werden. Es geht also - rein repressiv - um das Wegsperren einer Person zum Schutz der Allgemeinheit vor ihm_ihr.
Eingeführt wurde die Sicherungsverwahrung durch das NS-Regime mit dem Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung vom 24. November 1933. Die Alliierten hoben das Gesetz 1945 auf, es wurde jedoch 1953 im Westen wieder eingeführt.
Real besteht heute kaum ein Unterschied zwischen einem Gefängnisaufenthalt und einer solchen Unterbringung. Die Verhängung von Sicherungsverwahrung wird zunehmend maßlos angewendet, die Zahl der Verwahrten steigt seit Jahren. Dabei sprechen Studien (z.B. der Uni Bochum) dafür, dass ein Großteil zu Unrecht als „gefährlich“ eingestuft wird. Grund für die maßlose Anwendung ist vor allem die Ansicht der mangelnden Therapierbarkeit von Gewalttäter_innen und die Angst der Gutachter_innen, für die späteren Taten einer entlassenen Person verantwortlich gemacht zu werden. Diese Ansichten haben sich bis weit in die Spitze der Politik durchgesetzt. Gerhard Schröder behauptete beispielsweise 2001 in der BILD am Sonntag, dass Sexualstraftäter nicht therapierbar seien und erklärte im Spiegel daraufhin seine Schlussfolgerung: „Deswegen kann es da nur eine Lösung geben: wegschließen - und zwar für immer."
In Deutschland gibt es seit Ende des NS-Regimes den Grundsatz „Keine Strafe ohne Gesetz“. Das heißt eine Tat muss ausdrücklich vorher mit Strafe bedroht sein, um einen Menschen deswegen zu sanktionieren. Dieser Grundsatz erhielt in der BRD Verfassungsrang aufgrund des besonderen Umstandes, dass die NS-Justiz Menschen wegen Taten verurteilte, die zur Tatzeit noch nicht verboten waren. Dieser Grundsatz ist europaweit anerkannt und Grundlage für die aktuell diskutierte Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR). Der Bund hatte ein Gesetz eingeführt, dass eine nachträgliche Verhängung von Sicherungsverwahrung über mehr als 10 Jahre zulässt. Durch dieses Gesetz wurden Menschen nachträglich zu einer längeren Sicherungsverwahrung verurteilt, obwohl eine solche Dauer zur Tatzeit rechtlich noch nicht vorgesehen war. Das Bundesverfassungsgericht hatte vormals diese Praxis zynisch als legitim angesehen, da es in der Maßregel der Sicherungsverwahrung keine Strafe erkannte. Der EGMR hält das Verhalten von Deutschland für menschenrechtswidrig, vor allem weil Knast und Verwahrung sich zu ähnlich seien, da „keine substantiellen Unterschiede“ existieren und Verwahrung defacto einer Strafe gleichkommt. Als Konsequenz werden jetzt diejenigen Personen als freie Menschen entlassen, deren Verwahrung nur durch das neue Gesetz verlängert wurde, welches zum ursprünglichen Urteil nicht existierte (betroffen sind ca. 70 Personen).
Obwohl sich regelmäßig Kriminolog_innen, Ärzt_innen und Psycholog_innen gegen die Sicherungsverwahrung aussprechen, vor allem weil die teilweise unbegrenzte Unterbringung und damit fast aussichtslose Situation nicht gerade förderlich für die Psyche der Verwahrten sind, wurde 2008 eine Verhängung für Jugendliche ermöglicht.

Situation in Marburg

Nach dem Urteil des EGMR vom 11. Mai 2010 leben nun drei Personen, die aus der Sicherungsverwahrung entlassen wurden, in Marburg. Gegen den Aufenthalt der Personen im „kinderreichen“ Ortsteil Stadtwald regt sich Protest der Anwohner_innen. Selbst die Stadtverwaltung und der Oberbürgermeister Egon Vaupel sehen sich gezwungen gegen das Recht auf freie Wahl des Wohnsitzes der Personen vorzugehen: Drei Personen auf 80.000 Einwohner seien eindeutig zu viel. Resistent gegen die Aufklärung über die rechtlichen Grundlagen diskutierten die Anwohner_innen hitzig über das weitere Vorgehen. Ein immer wieder aufkommender Vorschlag in dieser Diskussion war, die drei Personen an einem anderen Ort unterzubringen. Ein Höhepunkt der Diskussion stellten die Äußerungen eines CDU-Politikers dar: „Auf die Frage, welcher Ort für die Unterbringung der beiden […] Straftäter besser geeignet wäre, entgegnete Lars Küllmer (CDU): ‚Drei Meter unter der Erde.‘“ (OP, 19.08.10). In der Kommentarspalte der Oberhessischen Presse (OP) lassen sich einige aus, da sie meinen zu wissen, dass die Personen sich „nicht selber steuern können“ und deshalb hinter Verschluss gehören. Viele meinen „alleine gelassen“ zu sein und fordern „Taten wollen wir sehen – keine Worte“. Andere wissen genau, dass die „Kinderschänder“ rückfällig werden und fordern die OP auf, Fotos der Personen abzudrucken. (Rainer Wendt, Vorsitzender der Deutschen Polizeigewerkschaft, hatte auch schon die Veröffentlichung von Wohnort und Foto von entlassenen Straftätern im Internet gefordert.) Die OP-Kommentator_innen faseln weiter von einer fehlenden Unabhängigkeit der Justiz und fordern einen „intensiveren Bürgerprotest“. Am Ende des Artikels heißt es nur noch: „Dieser Artikel kann leider nicht mehr kommentiert werden, weil sich zu viele Kommentatoren hier deutlich im Ton vergriffen.“
In der Berichterstattung der OP von Anfang September wird auf die Situation der Bewohner_innen des Stadtwaldes eingegangen, die sich ihrer Freiheit beraubt sehen, was sich darin äußere, dass „[a]uf den ansonsten mit lebhaften Kindern gefüllten Spielstraßen […],tote Hose‘ [herrscht]“.

Die Neonazis und die Kinderschänder

Kommen Menschen aus der Haft, die wegen sexuellem Missbrauch verurteilt wurden, entsteht oft eine hitzige Diskussion in der Öffentlichkeit, unabhängig ob sie aus der Haft oder der Sicherungsverwahrung entlassen wurden und ob sie noch als „gefährlich“ eingestuft werden. Oftmals kommt es zu Protesten von Anwohner_innen gegen ihre neuen Nachbarn, bei denen sich regelmäßig Nazis beteiligen.
2009 reichte eine Ermittlung gegen eine Person aus Gadebusch (Mecklenburg-Vorpommern) wegen des Verdachts des sexuellen Missbrauchs seiner Kinder dazu, dass ein wütender Mob vor seiner Tür stand. Die Polizei musste verhindern, dass der per Ketten-SMS mobilisierte Haufen gewalttätig ins Haus eindrang. Der Mob war stilecht mit Fackeln und Transparenten ausgerüstet. Dass Neonazis unter den Anwesenden waren und die Stimmung gezielt anheizten, spielte in der öffentlichen Debatte keine Rolle, obwohl sogar die Presse zwei NPD-Kreistagsmitglieder und ihre Anhänger identifizierte.
Ähnlich lief es in Leipzig bei dem sogenannten „Fall Michelle“ ab. Schon bei der Suche nach dem zunächst vermissten Kind engagierten sich Bürger_innen zusammen mit organisierten Neonazis. Nachdem Michelles Tod feststand, zogen 250 Neonazis durch die Stadt und forderten mit Fackeln in der Hand die Todesstrafe. Die Anwohner_innen schlossen sich ihnen an, obwohl Parolen und Optik der Neonazis offensichtlich waren. Beispielsweise waren auch Transpis mit „Nationaler Sozialismus jetzt“ zwischen den Bürger_innen. Auch die Parolen nach Todesstrafe für Kinderschänder wurden übernommen bzw. gemeinsam gerufen. Kommentare wie „für immer weg“, deutlicher Hass und Wut waren bei den Bürger_innen regelmäßig festzustellen. Durch den öffentlichen Druck sprachen hinterher alle von einer Instrumentalisierung durch Nazis. Vom wütenden Mob wurde aber nicht mehr als eine Distanzierung gefordert. Kritik oder Reflektion des eigenen Handelns - Fehlanzeige. Statt die offensichtlichen Gemeinsamkeiten zu thematisieren, wurde den Nazis unterstellt, sie würden im Gegensatz zu den Bürger_innen ihre Anteilnahme nur vortäuschen und eigentlich etwas ganz anderes wollen.

Der Volksmob für Gerechtigkeit

„Wir haben das Wort Mob zu einem Schimpfwort gemacht!“
Dr. Hibbert (Die Simpsons)

Kommt eine Ermittlung wegen eines grausamen Verbrechens in die Öffentlichkeit oder wird eine Person aus der Haft entlassen, die für eine Sexualstraftat verurteilt wurde, sind die Reflexe vom Großteil der Bevölkerung immer die gleichen.
Wider besseres Wissen werden härtere Strafen bis zu Todesstrafe gefordert und am liebsten sofort vollstreckt. Wenn nicht, wird nach dem Staat gerufen, ohne jedoch rechtsstaatliche oder gar menschenrechtliche Prinzipien anzuerkennen, die sonst von ihm erwartet werden. Diejenigen die sich nicht am Lynchmob beteiligen, haben immerhin Verständnis für die aufgebrachte Menge, so aus dem Bauch heraus zumindest.
Genauso beliebt ist die „Schwanz-ab“-Mentalität der Freizeit-Kriminologen und Hobby-Therapeutinnen. Dass die Praxis von Eugenik im Dritten Reich seine Hochzeit hatte, wird dabei schnell vergessen. Dass etwa 400.000 Personen zwischen 1934 und 1945 dieser zum Opfer fielen und Zwangssterilisation mal Realität waren, wird ignoriert. Gerade bestimmte Krankheitsbilder und „Asoziale“ oder Personen, denen „moralische Schwachsinnigkeit“ attestiert wurde, waren ein Großteil der Opfer.
Die Forderung nach Zwangssterilisation ist in Deutschland heute noch ein Tabu - nicht aber wenn es um das eigene Umfeld geht. Deutlich wurde dies in Leipzig, als plötzlich Konsens herrschte zwischen Nazis und Bürger_innen: Todesstrafe sei effektiver als Therapie und Resozialisierung durch „Kuschel-Pädagogen“. Selbst diejenigen, die sich von den Nazis abwanden (wie das Bündnis „Buntes Reudnitz“), riefen nach „härteren Strafen“ und verschwiegen die gemeinsamen Rufe nach „an die Wand stellen.“ Im Ruf nach dem starken Staat und einer weitreichenden Bestrafungskompetenz waren sich alle einig, bis weit in die Linkspartei oder Gruppen wie attac. Unabhängig von der Art der Strafe, ob nun Tod, Arbeitslager oder Kastration, war und ist das Bedürfnis nach Rache allgegenwärtig.
Auffallend ist dabei, dass die Forderungen jeder Empirie oder wissenschaftlichen Erkenntnis der Kriminologie entgegenstehen: Die Zahl der wegen Sexualdelikten an Kindern Verurteilten ist rückläufig. Ein Großteil dieser Verurteilten sind zudem keine Fremdtäter, sondern gehören zum familiären Umfeld. Auf der Straße spielende Kinder sind also sicherer als zu Hause. Untersuchungen der Uni Bochum stellen fest, dass eine erneute Straffälligkeit von als „gefährlich“ eingestuften Personen zum Einen sehr gering ist und zum Anderen meist nicht mit der ersten Tat im Zusammenhang steht. Gerade Sexualdelinquenz habe wenig Aussagekraft für die Qualität späterer Delinquenz. Strafverfolgung und Therapie sind zudem effektiv. Und selbst wenn es Verbesserungsbedarf gibt, warum fordert niemand mehr Mittel für unterfinanzierte Therapieeinrichtungen oder die Forschung? Wissenschaftlich wird dieses Phänomen als Punitivität bezeichnet, der Bereitschaft und dem Wunsch, Normabweichungen zu bestrafen und Lust dabei zu empfinden. Eine Steigerung dieser Bereitschaft lässt sich nicht nur bei den Zuschauer_innen von Gerichtsshows feststellen, sondern auch bei zukünftigen Richter_innen [http://www.zeit.de/2006/22/Strafe_xml].
Diese Ablehnung von jeglichen Resozialisierungsbemühungen ist regelmäßig mit der Angst um das eigene Kind verbunden. Dies spielt bei der Meinungsbildung zu entlassenen Strafgefangenen eine entscheidende Rolle, sollte aber nicht Maßstab sein für Normsetzung. Gesetze müssen, damit sie für alle gleich und nachvollziehbar sind, nach dem Maßstab der Rationalität entstehen und angewendet werden. Auch die öffentliche Debatte in Marburg wird von Emotionen und Irrationalität bestimmt. So wird der Stadtwald spontan zum kinderreichsten Stadtteil Marburgs erklärt und damit begründet, dass dort keine Unterbringung für Sexualstraftäter möglich sei.  Es geht bei dieser Argumentation nur darum, den Straftäter nicht vor der eigenen Haustür zu haben. Es wird nicht erwähnt, dass es natürlich keinen Stadtteil ohne Kinder gibt, so dass ein Zwangsumzug der Straftäter die Diskussion nur verlagern würde und deswegen überhaupt nicht funktionieren kann. Die logische Konsequenz dieser irrationalen Argumentationsmuster wäre somit nur der dauerhafte Verbleib in Sicherungsverwahrung oder „drei Meter unter der Erde“.

Die Medien und die Politik

Die Medien haben regelmäßig auch Verständnis für den „Volkszorn“. Am Beispiel Leipzig wird dies besonders deutlich: RTL wusste schon von einer Vergewaltigung, bevor die Polizei überhaupt eine Aussage getätigt hatte. Im Fernsehen waren unkommentiert Nazi-Transparente zu sehen und auch „Mut gegen rechte Gewalt“ konnte nur einige braune „Trittbrettfahrer“ ausmachen. RTL übertrumpfte jedoch alle an Widerlichkeit und zeigte im extra-Bericht die Möglichkeiten der Kastration von Pädophilen auf.
Der bundesweite Trend zum Infotainment, der Vermischung von Informationen mit niveauloser Unterhaltung, beeinflusst die Menschen ebenso, wie die ständige Generalisierung von einzelnen Gewalttaten als allgemeinen Trend. Die Einschätzung von Kriminalität durch die Bevölkerung ist diametral zu realen Zahlen und Entwicklungen. In der Presse wurde dementsprechend das Urteil zur Sicherungsverwahrung selten korrekt dargestellt: Regelmäßig wurde zumindest suggeriert, dass es für den Großteil der Sicherungsverwahrten gelte.
Auch für die Politik ein gefundenes Fressen: Strafverschärfung ist der neue Wahlkampfhit. Populismus mit Law-and-Order-Politik fruchtet immer. Auch der Marburger Oberbürgermeister Egon Vaupel stellt sich sofort auf Volkes Seite gegen den Rechtsstaat, aber der unterstützt ja auch homophobe Evangelikale, wenn sie Wähler_innenstimmen einbringen…

Was steckt dahinter

„[…] wer im Gefängnis landet, wird als böse stigmatisiert. Damit können wir anderen, die wir draußen bleiben, uns selbst als umso besser, umso ungefährlicher betrachten.“
Thomas Mathiesen in „Gefängnislogik“

Dass die Todesstrafe nicht nur aus humanitären Gründen abzulehnen ist, liegt vor allem in ihrer präventiven Nutzlosigkeit. Verbrechen dieser Art sind seit Jahren rückläufig. Öffentliche Bestrafungsakte oder Verfolgungen sind weder präventiv sinnvoll, noch hilfreich für die Opfer. Eine abschreckende Wirkung ist nicht belegbar, vor allem weil Mordtaten in den seltensten Fällen geplant und geistesgegenwärtig vollbracht werden. Es stellt sich also die Frage, warum sie dennoch so häufig gefordert wird, und warum es anscheinend so leicht ist, nach der Todesstrafe zu rufen, und warum das bei Nazis was ganz anderes sein soll.
Auffallend ist, dass der Lynchmob stets ein kollektives Wir begründet. Der Schuldige wird zum Aussätzigen, der nichts mit Uns zu tun hat. Die „perversen Täter“ werden aus der Gemeinschaft ausgegrenzt.
Dies widerspricht aber jeglichen empirischen Studien, so werden schätzungsweise 90% aller sexuellen Gewalttaten von Männern gegen Kinder begangen, die meist zur Familie oder dem näheren Bekanntenkreis gehören. Grund dafür ist meist das Bedürfnis nach Ausübung von Macht und Gewalt, was zur Normalität in der patriarchalen Gesellschaft gehört. Eine tiefergehende Forschung dazu wurde noch nie auf einer Demonstration gegen Sexualstraftäter gefordert.
Die Forderung nach dem Schutz der eigenen Kinder ist anschlussfähig an das Nazi-Weltbild, das Schutz von Familie und Volk stets vorne an stellt. Dass der Mord an Kindern also nur Bürger_innen erschüttert und Nazis dies instrumentalisieren ist abwegig, sie sind erst recht davon betroffen, wenn die Zukunft der Volksgemeinschaft bedroht ist. Die Reinigungstodesstrafe für Sittlichkeitsverbrechen von 1941, die bei dem Vorwurf der Minderwertigkeit des Täters die Todesstrafe zugelassen hatte, steht in eindeutiger Tradition dazu. Dass die „normalen“ Bürger_innen ohne Begriffe wie Volksgemeinschaft auskommen, lässt noch lange keine Differenz begründen, solange nur für irgendein totes Kind in der Art getrauert wird und nicht für ertrunkene Flüchtlinge oder Opfer von rechter Gewalt.
Es lässt sich also festhalten, dass die Forderung nach Todesstrafe aus Motiven resultiert, die alles andere als einen emanzipatorischen Gehalt aufweisen. Die Forderung ist hingegen für konservative Kräfte und Nazis koalitionsfähig. Trotz aller Unterschiede zwischen „normalen“ Bürger_innen und Neonazis sind gefühlte Zugehörigkeit zum kollektiven Wir und geteilte Überzeugungen nicht von der Hand zu weisen. Es liegt auch keine Instrumentalisierung vor, sondern es existieren Anknüpfungspunkte in der Argumentation. Schließlich sollte diskutiert werden, warum das Bündnis in Leipzig so gut funktioniert hat, bis die lästige Presse es öffentlich machte und ein Lippenbekenntnis von Nöten war.

Warum verteidigen linksextremistische Chaoten den Rechtsstaat?

„Wenn sie ein Bild von der Zukunft haben wollen, so stellen sie sich einen Stiefel vor, der auf ein Gesicht tritt. Unaufhörlich.“
George Orwell in „1984“

DIE ZEIT stellte in einem Artikel fest: „Wo die Mitte der Gesellschaft braun schillert, gilt als linksradikal, wer das Grundgesetz verteidigt.“ Doch wie weit ist es ernsthaft gekommen, wenn lokale Antifa-Gruppen die zivilisatorischen Mindeststandards gegen die CDU verteidigen müssen?
Eine radikale Linke muss den Spagat wagen zwischen einer progressiven Kritik an Staat und Strafrecht und der Verteidigung von erkämpften Rechten. Sie muss Ursachenforschung und eine humanistische Verhinderung von Gewalttaten fordern und sie muss Staat und Knastsystem stets offen kritisieren. Doch sie muss die bürgerliche Gesellschaft ebenso gegen reaktionäre Angriffe verteidigen. Wenn Personen wegen einer Gefährlichkeit und damit wegen möglicher zukünftiger Taten weggesperrt werden sollen, sind Science-Fiction-Szenarien von autoritären Überwachungsstaaten real. Eine radikale Linke muss sich gegen Law-and-Order-Bestrebungen zur Wehr setzen und manchmal in den sauren Apfel beißen und Straftäter_innen gegen den aufgebrachten Volksmob in Schutz nehmen.

 

Literaturempfehlungen:
Zu Gadebusch:    http://useless.blogsport.de/2009/10/29/volksmob-in-gadebusch/
Zu den Medien:   http://www.stefan-niggemeier.de/blog/die-tote-michelle-die-neonazis-und-rtl/
Besprechung des Urteils: http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-71261452.html
Die Situation in Leipzig und die Ideen zur Verknüpfung von Bürgis und Nazis sind entnommen von:
http://inex.blogsport.de/2008/09/24/gemeinschaftserlebnis-kindermord/
Zu psychiatrischen Einrichtungen: http://www.zeit.de/2008/51/DOS-Schlangengrube
Kritisches zur Sicherungsverwahrung:
http://www.strafvollzugsarchiv.de/index.php?action=archiv_beitrag&thema_id=&beitrag_id=339
http://www.dasdossier.de/magazin/medien/einfluss-inhalt/im-zweifel-fuer-die-sicherheit
http://www.zeit.de/2006/22/Strafe_xml  

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Ergänzungen

vor allem normale Gefangene

betroffen 28.09.2010 - 21:53
Bei dem Thema Sicherungsverwahrung darf nicht vergessen werden, dass die überwältigende Mehrheit der Sicherungsverwahrten KEINE SEXUALSTRAFTÄTER sind!
Sexualtäter müssen als Vorwand herhalten. Die SV ist jedoch NICHT speziell für Sexualtäter oder Mörder konzipiert.
Mit Thomas Meyer-Falk ist z.B. auch ein POLITISCHER Gefangener von SV betroffen.  http://www.freedom-for-thomas.de

UNBEGRENZT in Sicherungsverwahrung kann man bereits gesteckt werden, wenn man schon 2x zu mindestens 1 Jahr Knast verurteilt worden ist und erneut zu mindestens 2 Jahren Haft verurteilt wird. Vgl. § 66 StGB!!!
Also: 2 Verurteilungen von mindestens 1 Jahr (egal ob Widerstand, Leistungserschleichung, Bundeswehrgelöbnis sabotiert, Kriegsgerät mit Farbe attackiert, Brot geklaut, Einbruch, Steine auf Bulle, Aufruf zur Zerstörung von Abschiebebehörden) + 1 weitere Verurteilung zu mindestens 2 Jahren Knast.

Links zu dem Thema:

Hintergrundtext:
 http://de.indymedia.org/2010/09/290571.shtml

Aktuelles Beispiel (Einbrecher):
 http://de.indymedia.org/2010/08/288316.shtml

Wie mit SV und Kriminalitätsfurcht Politik gemacht wird:
 http://de.indymedia.org/2009/07/255814.shtml

Nix R4

Gießener 01.10.2010 - 09:01
der Kommentar ist nicht von der R4!

was also tun – in Marburg?

stadtwäldler 01.10.2012 - 21:30

Danke für den interessanten Artikel, allerdings habe ich ein paar Fragen aus Sicht eines Nachbarn mit kleinen Kindern. Wir sind erst vor wenigen Wochen nach Marburg in den Stadtwald gezogen, wohl wissend, dass in diesem Stadtteil noch ein ehemaliger Straftäter, der sich der Kindesmisshandlung schuldig gemacht hat, wohnt. Unser Gedanke war, dass es wohl recht ungefährlich wäre, eben weil die Person bekannt ist und unserer Meinung nach gerade dort keine Gefahr von ihr ausginge.

Nun mussten wir aber gehäuft von anderen Kindern, (die auch erst wenige Wochen hier wohnen und daher nicht vorbelastet sind) hören, dass diese sich nicht mehr morgens aus dem Haus trauen, weil sie von einem Mann auf der Straße über Zick-Zack-Wege durch den Ortsteil verfolgt wurden. Der Beschreibung nach passte dieser Verfolger auf den entlassenen Häftling. Auch andere Kinder berichten davon, dass Ihnen von der selben person immer wieder nachgestellt wird.

Für uns stellt sich nun die Situation so dar, dass wir unseren fünfjährigen Sohn, nicht mehr alleine auf den Spielplatz lassen (der in Sichtweite der Wohnung des ehemaligen Häftlings liegt).

Klar, ich fordere nun auch keine Sicherheitsverwahrung, darum geht es auch nicht. Mir geht es aber darum, was denn die Alternativen sind. Wenn es denn eine engmaschige Betreuung durch Bewährungshelfer u. a. gibt, wie kann es dann sein, dass die Person wiederholt Kinder auf der Straße belästigt? Was sind also die Möglichkeiten, wie man beides schützen kann: Recht auf freie Wohnortswahl der Straftäter, die ihre Strafe abgesessen haben und Sicherheit der Kinder, die von eben diesem Straftäter auf der Straße belästigt werden?

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