Proteste an der Uni Leipzig

moi 10.05.2009 04:38 Themen: Bildung
Die Universität feiert, doch es gibt nichts zu feiern.
Diese Ansicht wurde heute vor und während der Eröffnungsfeier zum 600jährigen Jubiläum im Gewandhaus vehement vertreten: Zur Zeit des Einlasses der durchweg fein gekleideten Gesellschaft wurde in einer Kundgebung auf die Probleme und Missstände an der Universität aufmerksam gemacht, wie auch auf die Lächerlichkeit zwar Eintrittskarten zu verlosen, doch kaum Studierende, als größtes Organ der Universität, zur Feier „einzuladen“ - nebenbei: Wer darf denn alles einladen?
Im Gewandhaus lobpreisten dann nacheinander Rektor Häuser, Ministerpräsident Tillich und Oberbürgermeister Jung 600 Jahre durchgängigen Lehrbetrieb (das Nazi-Regime war kein Grund zur Unterbrechung!), ließen sich in ihren Reden über die Wichtigkeit des zukunftsgewandten Blickwinkels aus, dankten BMW und anderen Sponsoren für ihre finanzielle Unterstützung und priesen die Universität als wichtigen Standortfaktor voller innovativer Möglichkeiten im weltweiten Wettbewerb – kurzum: an Verlogenheiten, falschen Darstellungen und Werbung wurde nicht gespart (es wird gebeten, die Polemik zu entschuldigen).

Als ein aufgehängtes Transparent („Wo der Standort trompetet, geht die Bildung flöten“) von Sicherheitskräften entfernt wurde, war die Zeit gekommen, von Seiten der Protestierenden das Wort zu ergreifen: Unter Zu- und Gegenstimmen wurde Oberbürgermeister Jung in seinem Gespräch unterbrochen und der offene Brief an das Rektorat der Universität verlesen. Unruhe erfasste den Raum, die Moderation war merklich überfordert, Jung verdutzt
– gezeigt werden sollte und gezeigt wurde, dass Kritik unbequem ist, den Schein nicht bewahren will und in die Öffentlichkeit getragen werden muss!

Offener Brief an das Rektorat

Rektorat Prof. Dr. iur. Franz Häuser
Ritterstraße 26
1. Obergeschoss, Zimmer 108
04109 Leipzig

Besetzung
Universitätsstraße 1
04109 Leipzig

Leipzig, 8. Mai 2009

An die Mitglieder des Rektorats,

mit diesem offenen Brief fordern wir die Absage der Jubiläumsveranstaltungen zur 600-Jahr-Feier der Universität Leipzig.
Es gibt angesichts der herrschenden Bedingungen nichts zu feiern. Durch die Studienreform wurde die Hochschullandschaft verändert, ohne dass eine kritische Grundsatzdiskussion über Universität und ihre gesellschaftliche Rolle geführt wurde. Unter anderem ist der freie Zugang zu Bildung und adäquate Selbstbestimmung im Studium durch die Einführung der Bachelor- und Masterstudiengänge in noch weitere Ferne gerückt als zuvor. Die bestehenden problematischen Verhältnisse lassen sich jedoch nicht allein auf den so genannten „Bologna-Prozess“ reduzieren, sondern sind das Ergebnis einer andauernden gesamtgesellschaftlichen Entwicklung, die Bildung in zunehmenden Maße an wirtschaftlicher Verwertbarkeit orientiert und die Menschen kapitalistischen Zwängen unterwirft. Bildung sollte die Mitglieder einer Gesellschaft befähigen, diese zu verbessern. Dieses Ideal hat die Universität vollständig aus den Augen verloren.

Mit dem unreflektierten Begehen des Jubiläums versucht die Universität ein identitätsstiftendes Moment zu schaffen, ohne eine Auseinandersetzung über ihre Rolle in Vergangenheit und Gegenwart zu führen. Der Jahrestag wird genutzt, um aus der Vergangenheit schöpfend ein Bewusstsein von Tradition und Prestige zu konstruieren. Zukunftsgewandte Lösungen für die derzeitige inakzeptable Lage zu erarbeiten wird dabei leider stark vernachlässigt.

Rufe nach besserer finanzieller Ausstattung der Universität sind angesichts der 6,4 Millionen teuren Jubelfeierlichkeiten – gut die Hälfte der Kosten trägt das Land, das ansonsten für die Finanzierung der Universität keine Gelder zu haben vorgibt – kaum mehr fadenscheinig. Die von vielen Seiten bemängelte finanzielle Ausstattung der Hochschulen zu beheben, wäre zwar ein erster Schritt, allerdings nicht die Lösung der Gesamtproblematik. Trotzdem werden mit Stellenstreichungen und Kürzungen von Finanzmitteln weder Reform, noch Revision oder eine Alternative zum Bachelor/Master durchzuführen sein. Sie, Herr Häuser, haben in ihren Äußerungen zum studentischen Protest an der Uni Leipzig auf „die Politik“ verwiesen, in der Hoffnung, dieser könnte dort etwas bewirken. Eine Absage des Jubiläums wäre deshalb ein deutliches Zeichen dafür, dass im Rektorat die Probleme erkannt wurden und der Wille besteht, Druck auf „die Politik“ auszuüben.

Die Absage des Jubiläums soll aber nicht dazu führen, Geld, Zeit und Raum ungenutzt zu lassen. Eine Debatte um die momentane Situation und die Zukunft der Hochschulen in ihrem gesellschaftlichen und politischen Kontext ist dringend notwendig. Dabei könnte mit den nun freigewordenen Mitteln eine Diskussion angeregt werden, die unter der Beteiligung der Studierenden, Lehrenden und sonstigen Bildungsinteressierten stattfindet. Begriffe wie Selbstbestimmung und Wahlfreiheit, aber auch Aufgabe und Stellung der Hochschule in der Gesellschaft sowie der oft zur Phrase verkommende Begriff der Bildung müssen dann inhaltlich gefüllt und kritisch diskutiert werden.

Im Zentrum unseres Protestes steht die Reflexion und Diskussion der zu kritisierenden Zustände an den Hochschulen, vor allem in ihren gesamtgesellschaftlichen Zusammenhängen. Die Forderung nach der Absage der Jubiläumsfeierlichkeiten ist logische Konsequenz unserer Überlegungen.

Mit erwartungsvollen Grüßen,
die Protestierenden.
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Ergänzungen

Und im Juni Bildungsstreik!!!

Peter 10.05.2009 - 14:17
Nächstes Vernetzungsstreffen des Bundesweiten Bildungsstreiks
Fr. 22.- 24 Mai in Hamburg an der HAW (Berliner Tor)

Mehr unter www.Bildungsstreik2009.de

Neues Mobi-Video:  http://www.youtube.com/watch?v=F3o5EOAZqck

Franz Häuser umarmt Euch

medienguerilla 10.05.2009 - 19:19
Uni-Rektor Franz Häuser hat am Tag drauf, dem Sonntag, bei der Vorstellung der Leipziger Blätter zum Uni-Jubiläum ( http://www.leipzigerblaetter.de) auch die Proteste erwähnt, und zwar - anders als der unsägliche Möchtegern-Olympionike Burkhard Jung, faktisch leider Oberbürgermeister - durchaus bejahend.

Häuser sagte zur Feier im Gewandhaus: "Es gab studentischen Protest. Irgendetwas hätte nicht gestimmt, wen das nicht gewesen wäre." Er wies darauf hin, dass in manchen Punkten kein Dissens bestünde, insbesondere bei den Studienbedingungen, der Zahl der Studierenden und dem Bolognaprozess. Wer aber von der Uni die Beseitigung allen Übels erwarte, klage an der falschen Adresse. Die Uni sei "zuständig für Lehre und Forschung, nicht fürs Leiden der Welt".

Demo vor dem Gewandhaus

dein Name?! 11.05.2009 - 12:29
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Beiträge die keine inhaltliche Ergänzung darstellen

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Mitmischen statt absagen — Je est un autre