Interview zur Revolte in Griechenland

Vassilis Vassilikos + ROSSO 09.12.2008 21:03 Themen: Weltweit
Die dem FIAT-Konzern gehörende, redaktionell aber relativ unabhängige, linksliberale Tageszeitung „La Stampa“ brachte in ihrer Ausgabe vom 9.12.2008 ein interessantes Interview mit dem linken Schriftsteller Vassilis Vassilikos zu den anhaltenden, militanten Massenprotesten gegen den Polizeimord an dem 15jährigen Alexandros Grigoropoulos in ganz Griechenland.
Der 74jährige Vassilikos wurde durch seinen 1966 verfassten dokumentarischen Roman „Z – Die Orgie der Macht“ berühmt, der die staatlich gedeckte Ermordung des progressiven Parlamentsabgeordneten Grigoris Lambrakis am 22. Mai 1963 nach einer Friedenskundgebung in Saloniki durch zwei Faschisten behandelt und später von dem Regisseur Costa-Gavras verfilmt wurde. Vassilikos war lange Zeit Vorsitzender des griechischen Schriftstellerverbandes und von 1996 – 2005 Botschafter bei der UNESCO.

Interessantes Detail am Rande: Der gegenwärtige Ministerpräsident und Parteichef der rechten Nea Demokratia, Kostas Karamanlis, ist ein Neffe des für den damaligen Mord zumindest mitverantwortlichen Regierungschefs Kostatinos Karamanlis.


„Wir haben auf die Gelegenheit gewartet, um zu explodieren.“

Interview mit Vassilis Vassilikos

Vassilis Vassilikos, vor 30 Jahren haben sie in dem Roman „Z – Orgie der Macht“ beschrieben, wie es, ausgehend von einem Mord, zu einem Staatsstreich kommen konnte ((aus dem das reaktionäre Obristenregime von 1967 bis 1974 hervorging)). Auch heute ist ein Mord der Funke. Wohin wird er führen?

„Sie sehen es. Es ist ein ganzer Baum, der brennt. Jedes Feuer beginnt mit einem Funken und der Auslöser ist heute der Tod von Alexis Grigoropoulos. Das, was die Jugendlichen – und nicht nur seine 15jährigen Altersgenossen – mobilisiert, ist all das, was in den letzten Jahren geschehen ist und ein negatives Klima in der Gesellschaft geschaffen hat.“

Also nicht nur die Finanzkrise?

„Die zählt mit Sicherheit auch zu den Ursachen, aber davor kommt noch der Immobilienskandal, in den das Kloster Vatopedi auf dem Berg Athos verwickelt ist. Und die gefälschten Prozesse, mit Richtern, die ihre Entscheidungen entsprechend den politischen Spielen ändern. Und der versuchte Selbstmord des dreisten Generaldirektors des Kultusministeriums, der die EU-Subventionen verwaltet und die Grundstücke in der Nähe der archäologischen Stätten zu Schleuderpreisen verscherbelt hat. Dann das Rentengesetz und der Beschluss der Regierung, 28 Milliarden Euro an Hilfsgeldern für die Banken bereitzustellen und nicht für die Menschen, die Probleme haben, sich Lebensmittel zu kaufen.“

Ist das also das Unterholz, das für den Brand bereit ist?

„Ja, die Griechen hatten seit langem die Neigung, sich zu erheben, aber es fehlte der Auslöser. Als sie ihn fanden, haben alle trockenen Zweige Feuer gefangen.“

Sehen Sie Analogien zur Pariser Banlieue, in der es nach zwei Morden brannte?

„Nein, hier gibt es kein Einwandererproblem. Das ist eine innere Angelegenheit der griechischen Gesellschaft. Niemand hatte erwartet, dass die Revolte solche Ausmaße annimmt.“

Und die Anarchisten?

„Die profitieren von der Gelegenheit, um zu zerstören, aber sie sind nicht der Motor.“

Und der Staat? Warum reagiert er nicht?

„Der ist paralysiert. Er hat Angst vor einem weiteren Zwischenfall, vor einem weiteren Toten. Deshalb gehen die Polizisten zu den Demonstrationen auf Distanz.“

Gibt es Parolen?

„Eine gibt es: ‚Alexis lebt, Alexis führt uns!’ Im Augenblick existiert keine politische Führung, die die Linie vorgibt. Es protestieren die Jugendlichen aller Schulen, egal ob sie links, rechts oder Mitte sind. Das ist eine spontane Revolution gegen das System im Allgemeinen und vielleicht auch gegen Bush.“

Fordert niemand den Sturz der Mitte-Rechts-Regierung von Costas Karamanlis?

„Im Moment nicht. Das ist keine politische, sondern eine soziale Revolte. Auf der Straße ist die Generation derjenigen, die 700 Euro im Monat verdienen und diejenige, die weiß, dass sie nur noch gut 500 Euro haben wird.“

Sie haben in Ihrem Leben viele Dinge erlebt. Wie beurteilen Sie diesen Moment?

„Das ist ein schwerer Moment für Griechenland, auch weil noch nicht klar ist, wohin das führt. Alles ist neu, nichts ist so ähnlich wie vor 30 Jahren. Die Technologien haben alles verändert. Das hier ist keine virtuelle Revolution, aber es waren die E-Mails und die SMS, mit denen die Revolte so schnell ins ganze Land getragen und das Signal gegeben wurde: ‚Steht auf! Rebelliert!’ Und jetzt fragen wir uns alle, was in den kommenden Tagen passieren wird. Noch gibt es keine Köpfe, aber die werden – genau wie im Mai 68 – sehr schnell kommen.“

((Vorbemerkung, Übersetzung und Einfügung in doppelten Klammern: * Rosso))

Der Name * Rosso steht für ein Mitglied des Gewerkschaftsforums Hannover und der ehemaligen Antifa-AG der Uni Hannover, die sich nach mehr als 17jähriger Arbeit Ende Oktober 2006 aufgelöst hat.
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Ergänzungen

Messer zwischen den Knochen

Ananda 09.12.2008 - 23:51

Zum Interview mit Vassilikos passt die von Ritsos stammenden Texte und die Musik und der Gesang des KKE-Mitglieds Theodorakis bei seinem ersten Konzert in Athen nach Ende der Obristendiktatur 1974.

Diese Diktatur war eine Facette der allgemeinen bürgerlichen Herrschaft, wie die Demokratie, und mancher Ausdruck des Textes ist für die deutsche Provinz gewöhnungsbedüftig, aber das soll jetzt mal nicht in den Vordergrund gehoben werden – denn die Musik hat das gewisse etwas. Der deutsche Text läuft als Untertitel mit.

 http://de.youtube.com/watch?v=mPs1WGRMmJA&feature=related

Ananda

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Danke für den Artikel

Tim 09.12.2008 - 21:35
Danke!

Bürgerlicher Schwätzer

gelangweilt 09.12.2008 - 22:29
"Und die Anarchisten?

„Die profitieren von der Gelegenheit, um zu zerstören, aber sie sind nicht der Motor.“

bla,bla,bla: so ein Schwachsinn.
Immer schön unkritisch dem bürgerlichen Schema á la
"Anarchie=Zerstörung,Chaos=Irak" folgen, ne?

Unglaublich falsch und sehr unkreativ: Ich kann diese platte Diffamierung nicht mehr hören...
Vassilis Vassilikos ist ein Schwätzer!

Darüberhinaus ist die Analyse, die Anarchisten seien nicht der Motor auch nicht ohne Weiteres haltbar und zudem eine sehr fragwürdige Symbolik.

@gelangweilt

...... 09.12.2008 - 23:02
Die Anarchisten sind sicherlich nicht der Motor, der Motor sind die sozialen Misstände in dem Land sowie die Tatsache , dass viele Leute die Schnauze voll haben, ohne diese Menschen wären die Krawalle in solchem Ausmaß der Autonomen überhaupt nicht tragbar in der griechischen Gesellschaft, nach der Erschießung des Jungen war das Maß dann eben voll.

@gelangweilt

autonom 09.12.2008 - 23:18
Leider entspricht dies den Tatsachen. Die Autonomen machen momentan genau das, was von ihnen erwartet wird - zerstören. Das finde ich an sich nicht schlimm, aber es sollte doch so etwas wie ein Konzept für danach geben, oder nicht? Wenn schon die Innenstadt (fast) bullenfrei ist, könnte man einiges reissen. Ist zwar immer leicht gesagt, und wer weiß schon ob das nicht auch schon längst geschieht, aber so kommt es nun einmal an.

@gelangweilt

egal 09.12.2008 - 23:22
Keine Ahnung, ob Vassilis Vassilikos ein Schwätzer ist. Mit der Beurteilung wäre ich vorsichtig. Aber schau Dir die Artikel von ROSSO an, dann weißt Du was Du von dessen tendenziösen und orthodox-kommunistischen Positionen zu halten hast.

Unwesentlich!

AuO 11.12.2008 - 20:45
Er will eine Führung, und er meint, die Anarchisten würde nur zerstören, seien aber kein wesentlicher Motor der Bewegung.

Dies ist Desinformation in nuce.

Und das soll eine relevantes Interview sein?