Die jüngste Revolte in der Pariser Banlieue

Robert Castel / Gewerkschaftsforum Hannover 17.12.2007 22:54 Themen: Repression Weltweit
Aus Anlass der Unruhen Ende November 2007 in Villiers-le-Bel und anderen Teilen der Pariser Banlieue versucht der linke Soziologe Robert Castel in einem Interview für die unabhängige linksradikale italienische Tageszeitung „il manifesto“ vom 1.12.2007 eine Analyse dieser wiederkehrenden Revolten. Dabei geht er auch der Frage nach, welche Veränderungen in den letzten Jahren stattgefunden haben, welche Perspektiven und welche Möglichkeiten der Politisierung und Organisierung existieren.
Der Tod zweier junger afrikanischer Migranten, die auf ihrem Motorrad von einem Polizeiwagen erfasst wurden, das ohne Blaulicht und Sirene unterwegs war und dessen Insassen, Augenzeugenberichten zufolge, den Opfern keinerlei erste Hilfe leisteten, führte in der Nacht zum Montag, den 26.November 2007, in Villiers-le-Bel (einer 30.ooo Einwohner zählenden Schlafstadt im Norden von Paris) zu schweren Ausschreitungen aufgebrachter Jugendlicher, die teilweise auf Nachbargemeinden übergriffen und von den sog. Ordnungshütern erst nach sechs Stunden unter Kontrolle gebracht werden konnten. Am Montag fand ein Schweigemarsch zum Gedenken an den 16jährigen Lakhami und den 15jährigen Mouhsin statt. In der folgenden Nacht kam es zu weiteren Straßenschlachten mit den Vertretern der Staatsmacht.

Die grüne „tageszeitung“ berichtete am 28.11.2007 darüber: „In der zweiten Krawallnacht, die auf ihren Tod folgte, haben sich die Unruhen auf fünf weitere Gemeinden im Norden von Paris ausgedehnt. Offiziellen Angaben zufolge wurden dabei 82 Polizisten verletzt. Laut einem Notfallarzt haben die meisten Schussverletzungen. Aber kein einziger verletzter Jugendlicher sei im Krankenhaus. In der Nacht auf Dienstag kämpfen kleine und mobile Gruppen von vermummten Jugendlichen mit Schusswaffen, Molotowcocktails und hasserfüllten Parolen fünf Stunden lang gegen insgesamt 1.600 Polizisten. Diese setzen Tränengas und Flashballs, also Weichgummmigeschosse, ein. Immer wieder zieht sich die Polizei zurück und überlässt sie den Jugendlichen das Schlachtfeld. Aus den Fenstern schreien Anwohner. Abendliche Spätheimkehrer lassen sich von der Polizei in ihre Häuser eskortieren.“ Insgesamt handelte sich um die heftigsten Riots seit den Unruhen in der Pariser Banlieue (und anderen französischen Vorstädten) im Oktober und November 2005.

In einem ausführlichen Interview für die unabhängige linksradikale italienische Tageszeitung „il manifesto“ vom 1.12.2007 versucht der französische Soziologe Robert Castel eine Analyse dieser wiederkehrenden Revolten in den Banlieues. Dabei geht er auch der Frage nach, welche Veränderungen in den letzten Jahren stattgefunden haben, welche Perspektiven und welche Möglichkeiten der Politisierung und Organisierung existieren. Unseres Erachtens macht er dabei interessante Aussagen, auch wenn man nicht in allen Punkten seiner Meinung sein muss. Einen wichtigen Beitrag zur Reflektion über die neu-alten Formen sozialen Widerstands gegen die herrschenden Verhältnisse liefert er allemal.

Zur Person: Der 74jährige Robert Castel ist einer der bekanntesten französischen Soziologen und wurde stark von Pierre Bourdieu und Michel Foucault beeinflusst. Er ist Forschungsdirektor an der École des Hautes Études en Sciences Sociales. In den 60er und 70er Jahren befasste er sich zunächst hauptsächlich mit Fragen der Psychoanalyse und der Psychatrie. Seit Mitte / Ende der 80er Jahre verlagerte sich sein Arbeits- und Forschungsschwerpunkt zunehmend auf das Thema „Lohnarbeit und prekäre Beschäftigung“. Zu diesem Themenfeld erschien von ihm in deutscher Sprache u.a. „Die Metamorphosen der sozialen Frage“ (frz.: 1995; dt.: UVK, Konstanz 2000, 416 Seiten, 34,77 Euro) und „Die Stärkung des Sozialen“ (Hamburg 2005, 136 Seiten, 12 Euro).

Interview:

Castel: „Banlieues – immer gewaltsamere Ghettos“

Das Problem existiert auch außerhalb Frankreichs. In Europa nimmt der Umfang der an den Rand gedrängten Bevölkerung, die keine Verbindung mehr zum Rest der Gesellschaft hat, zu. Leute, die als Abschaum betrachtet und militärisch unterdrückt werden.

Anna Maria Merlo – Paris

Eine prekäre Ruhe, die vor allem auf die starke Polizeipräsenz zurückzuführen ist, herrscht in Val d’Oise, dem Departement, auf das sich die zwei Nächte dauernde Revolte ausgedehnt hatte, die nach dem Tod von zwei Jugendlichen bei einem Zusammenstoß mit einem Polizeiwagen in Villiers-le-Bel ausgebrochen war. Wir fragten den Soziologen Robert Castel nach den Perspektiven, der Bedeutung und den Charakteristika dieser neuen Explosion der schwierigen Vorstädte, zwei Jahre nach dem Aufflammen im Jahr 2005. Castel ist Experte für die Arbeitswelt (u.a. ist er Autor von „Die Metamorphosen der sozialen Frage – Eine Chronik der Lohnarbeit“, erschienen bei Gallimard und von „Die soziale Unsicherheit“, bei Seuil) und hat soeben bei Seuil einen Essay über die Banlieues veröffentlicht: „La discrimination négative“ (eine Rezension erschien in „il manifesto“ vom 12.Oktober 2007).

Nach 2005 ging der Aufruhr 2006 weiter, mehr oder weniger begleitet von allgemeiner Gleichgültigkeit (45.588 verbrannte Autos 2005, inklusive der dreiwöchigen Unruhen, und 44.157 im Jahr 2006). Sind die beiden Gewaltnächte von Villiers-le-Bel nur ein neues Kapitel oder hat sich etwas geändert?

„Es gibt eine Art endemischen Zustand in den Banlieues, der hin und wieder ausbrechen kann. Das Phänomen begann Anfang der 80er Jahre und setzte sich mit einem mehr oder weniger intensiven Rhythmus fort. Das heißt hin und wieder kommt es zum Ausbruch, der in seiner Dynamik immer wieder von einem identischen Anlass ausgelöst wird: einen Zusammenstoß mit der Polizei. Also Beständigkeit und Eintönigkeit. Gleichzeitig ist eine Radikalisierung festzustellen: Die letzte Episode in Villiers-le-Bel war weniger ausgedehnt als 2005, aber gewaltsamer. Das zeigt die Radikalisierung eines relativ begrenzten Teils der Banlieue-Jugendlichen, die sich immer mehr in einer totalen Opposition befinden, um nicht zu sagen einen regelrechten Hass vor allem auf die Polizei, aber auch auf die Symbole der Kultur und des Staates haben.“

Hat sich seit 2005 im Verhalten der Regierung etwas verändert?

„Nach 2005 wurden viele Erklärungen abgegeben, die scheinbar ein zunehmendes Erkenntnis der Tatsache zeigten, wie gravierend das Problem ist, auch wenn dann auf der konkreten Ebene wenig oder nichts getan wurde. Heute radikalisiert sich auch die Regierung. Sarkozys Verhalten ist das Spiegelbild der Radikalisierung der Jugendlichen. Sarkozy sagt, dass das einzige Problem darin bestehe, die Ordnung gegen die Rowdybanden aufrechtzuerhalten und dass es sich nicht um ein soziales Problem handele. Sicher, es gibt auch ein Ordnungsproblem, aber nur das zu sehen und die Revolte auf eine polizeiliche Angelegenheit zu reduzieren, ist mehr als einseitig.“

Gewaltausbrüche haben auch in anderen Ländern stattgefunden. Ist das ein europäisches Problem? Folgen wir dem Weg der USA?

„Das Problem existiert auch außerhalb Frankreichs, auch wenn es französische Besonderheiten gibt, wie die Tatsache, dass die Protagonisten die zweite oder dritte Generation mit Einwandererursprung bilden. Sie besitzen die französische Staatsbürgerschaft und werden diskriminiert. Man kann davon ausgehen, dass in den westlichen Staaten der Umfang der an den Rand gedrängten Bevölkerung, die keine Verbindung mehr zur Gesamtheit der Gesellschaft hat, zunimmt. In Deutschland findet seit langem eine ähnliche Debatte über eine neue Unterschicht statt, die dem Subproletariat des 19.Jahrhunderts ähnelt (auch wenn sie nicht dasselbe ist), die die Frage nach der Ansiedlung von Leuten an den Rändern der europäischen Staaten stellt, die nicht wirklich außen vor sind, sondern eher aus der Gesellschaft herausgedrängt und nicht mehr wie Staatsbürger (citoyens) behandelt, sondern mit Rowdys, mit dem Abschaum gleichgesetzt werden. Sie erfahren auf symmetrische Art eine repressive, polizeiliche Behandlung, die sich an der Grenze zum Militärischen bewegt. In Villiers-le-Bel hat die Polizei Hubschrauber eingesetzt. Es wird davon gesprochen, Dronen ((d.h. unbemannte Flugkörper, wie sie das Militär zur Aufklärung und Bombardierung einsetzt)) einzuführen, um die Banlieues zu kontrollieren. So als befänden wir uns im Krieg und als wären diese Leute Invasoren. Das ist eine Reaktion, die über die spezifische Ausübung polizeilicher Tätigkeiten, über die Repression gegen das Verbrechen hinausgeht. Das ist quasi ein Belagerungszustand. Ich habe immer gedacht, dass es in den USA Besonderheiten gäbe, die sich von Europa unterscheiden. Ich dachte, dass die Cités (Vorstädte) in Frankreich mit den Schwarzen-Ghettos in den USA oder in Südafrika während der Apartheid nicht vergleichbar wären. Aber jetzt muss ich sagen, dass wir vor einem Prozess stehen, der in diese Richtung geht. Wir können in Frankreich nicht präzise von Ghettos sprechen, aber es findet ein Prozess der Ghettoisierung, der Separation eines Teils der Bevölkerung statt, der noch nicht abgeschlossen ist.“

In diesem Jahr ist die Opposition und der Protest der Studenten sehr politisch. Hält die Politik in den Banlieues keinen Einzug?

„Die Studenten sind etwas Anderes. Sie haben politische Ziele. In der Banlieue haben die Revolten in dem Sinne eine politische Bedeutung, dass sie wichtige soziale und politische Fragen auf die öffentliche Bühne bringen. In ihrer Ausdrucksform – und auch in der Art und Weise, wie sie selbst darüber denken – befinden sich diese Jugendlichen nicht in der politischen Sphäre. Das ist eher eine spontane Bewegung, auch wenn sie in der Organisation ‚Fortschritte’ gemacht haben, um es mal nicht ganz ernst zu sagen. Sie funktionieren als Banden, als Guerilla. Die Ereignisse von 2005 verweisen genau wie das, was heute geschieht, eher auf die Manifestationen dessen, was in der vor-industriellen Gesellschaft der Ausdruck von ‚Volks- / Massenemotionen’ genannt wurde, die durch Ereignisse wie die Erhöhung des Brotpreises ausgelöst wurden, das heißt auf das spontane Aufbegehren desorganisierter Leute. In der Vergangenheit fand der Übergang zur Politik dann statt, wenn sich Teile der Bevölkerung in Parteien und Gewerkschaften organisierten, um in der offiziellen Politik mitzumischen. Für das Proletariat war das im 19.Jahrhundert der Fall. Aber in den Banlieues befinden wir uns nicht in diesem Stadium.“

Ist das das Ende einer Welt?

„Es läuft Gefahr zum Ende der Lohnarbeitsgesellschaft zu werden. Das heißt eines Modells, das auf dem Weg der Verwirklichung zu sein schien und das, auch wenn es nicht das Ende der sozialen Ungleichheiten herbeiführen wollte, erlaubte es der Gesamtheit der Bevölkerung in Ländern wie Frankreich, Deutschland oder Großbritannien doch, über Ressourcen und eine Grundabsicherung zu verfügen, die die wirtschaftliche und soziale Unabhängigkeit sicherstellte. Ein Modell, das, auch wenn es noch nicht vollständig zerstört ist, so doch nicht mehr expandiert, sondern sich im Gegenteil zurückentwickelt. Ein Phänomen, das ganz Europa betrifft. Deshalb glaube ich, dass Sarkozys Position (‚Mehr arbeiten, um mehr zu verdienen!’) als eine weitere Provokation wahrgenommen wird. Was kann das dort bedeuten, wo die Arbeitslosigkeit 40% beträgt, wo das Prekariat herrscht und der Immigrant bei dem Versuch der Arbeitsaufnahme Diskriminierungen erleidet?“


((Vorbemerkung, Übersetzung und Einfügung in doppelten Klammern:
Gewerkschaftsforum Hannover))
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Ergänzungen

fehlende Objektivität?

Erinnerung gefällig? 19.12.2007 - 02:09
Es ist in Frankreich allgemein anerkannte Tastasche, dass die hochgerüstete Polizei gerne und häufig migrantische Jugendliche zwischen 10- 15 Jahren grundlos stoppt und durchsucht. Oft kommt es dann zu Gewaltanwendung und/oder an den Haaren herbeigezogenen Anklagen gegen die Jugendlichen.
Vergleichbar ist das mit der "stop and search - policy" der Londoner Metropolitan Police. Deren Praxis provozierte schon vor Jahren massive Proteste weiter Teile der Londoner Bevölkerung und wurde daraufhin vom Innenministerium zumindest offiziell als rassistisch und unzumutbar gebrandmarkt, unter Hand natürlich weiterbetrieben.
Auch in den USA gibt es solche Erfahrungen. "D.W.B.", eine Anspielung auf "driving under the influence of...", hier jedoch "driving while black", um auf die rassistische Grundhaltung vieler US amerikanischer Polizisten anzuspielen.

Die in der ersten Ergänzung erwähnten beiden erwähnten Jugendlichen, die 2005 ums Leben kamen waren auf der Flucht vor der Polzei.
Ihre überlebenden Freunde berichteten, dass sie alle zusammen auf dem Rückweg von einem Fussballspiel in einem Park von Polizisten verfolgt wurden und aus Angst vor Schlägen gerannt seien. Der damalige Innenminister und jetzige Staatspräsident Sarkozy musste damals öffentlich eingestehen, dass der Tod ursächlich mit der Anwesenheit von Polizisten zu tun hatte.

Eine weitere in Frankreich sehr bekannte Tatsache ist die Angewohnheut von Polizisten, verfolgte Fahrzeuge mit einem kleinen "Schubs" mit der Stosstange aus der Bahn zu bringen.
Gerade weil das so bekannt ist, gab es sofort viele Reaktionen darauf.
Nun macht der Autor des Artikels vielleicht den Fehler anzunehmen, dass das auch allen Leser_innen in Deutschland bekannt sei.
Fehlende Objektivität ist hier jedoch nicht die Ursache.

Es scheint in einigen westeuropäischen Ländern immer mehr verbreitet zu sein, soziale Probleme mit "harter Hand" zu deckeln. Mit geschürter "Terrorangst" werden entsprechende Gesetze verabschiedet. Diese richten sich ausschließlich nach innen, um entstehenden politischen Widerstand gegen die Ausgrenzung immer weiterer Teile der Bevölkerung zu isolieren und unwirksam zu machen.

Das einzig beruhigende an dieser Entwicklung ist, dass die sozialen Probleme sich irgendwann Bahn brechen und das gesammte Modell von der Tagesordnung fegen werden.

Beiträge die keine inhaltliche Ergänzung darstellen

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Lohnarbeit? — ?

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@plejboy — sandankoro