Agenturöffnung in Lindau

BeobachterInnen 03.01.2005 23:57 Themen: Globalisierung Repression Soziale Kämpfe
Da das Projekt "Agenturschluß in Lindau (Bodensee)" an technischen und logistischen Unzulänglichkeiten gescheitert war, haben wir stattdessen die Agenturöffnung beobachtet.
Die Fernsehberichte über den "problemlosen Start von Hartz IV", die am Abend in den Nachrichten gesendet wurden, empfinden wir angesichts dessen, was wir am Morgen selbst mitbekommen haben, als dreiste Propaganda.

Lindau ist eine der Modellstädte, in denen nicht die Arbeitsagentur die Tätigkeit des Sozialamts übernimmt, sondern der umgekehrte Weg gegangen wird, daß Personal und Aufgaben der Arbeitsagentur ins Landratsamt verlagert werden, mit dem sie eine "Arge" (Arbeitsgemeinschaft) bildet. Diese Argen werden übrigens im Bericht des wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages über Hartz IV ausdrücklich erwähnt, und zwar als einer der Gründe für die Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des ganzen Vorhabens.

Die Arge belegt nun praktisch das gesamte Erdgeschoß des Lindauer Landratsamtes. Verschiedene alte Bekannte von Arbeits- und Sozialamt sowie einige neue Gesichter tummeln sich da und tragen jetzt klangvolle Namen wie "Fallmanager", "Bereichsleiter" oder "Geschäftsführer". Was sie da tun, ist ihnen aber offenbar selbst noch nicht ganz klar – zwar hielt sich der BesucherInnenansturm während unserer anderthalbstündigen Beobachtungen sehr in Grenzen (es war vielleicht ein Dutzend), reichte jedoch aus, die Behörde zu überfordern.

Die Ratsuchenden, die wir befragten, berichteten von langen Wartezeiten und wie sie mehrmals zwischen den verschiedenen Zimmern hin- und hergeschickt wurden, weil jedeR meinte, jemand anders sei zuständig. Eine Frau gab schließlich auf und verließ fluchend das Gebäude. Die Ankündigung, es gebe jetzt wegen des perfekten Managements keine Wartezeiten mehr, war wohl zumindest etwas voreilig.

Auch das Versprechen der Regierung, daß alle am Montag ihr Geld kriegen und diejenigen, die es wegen der angeblichen Computerpanne noch nicht auf dem Konto haben, sich einen Bar-Vorschuß abholen können, wurde in Lindau nicht eingehalten. Ein mutmaßliches Opfer dieser "Panne" haben wir getroffen – es wurde wieder nach Hause geschickt und auf Mittwoch vertröstet (war allerdings mit der Ankündigung, wenn dann noch nichts auf dem Konto sei, gebe es Bargeld, zufrieden).

[Anmerkung: Wir gehören zwar nicht zu den FreundInnen von 23 Verschwörungstheorien, aber daß ausgerechnet an dem Morgen, für den die Blockade der Arbeitsagenturen angekündigt war, massenhaft Leute mit dem Versprechen von Bargeld in ebendiese Gebäude gelockt werden, so daß die Aktion von vornherein ad absurdum geführt wurde, paßt einfach zu perfekt, als daß wir diese Panne ohne Anführungszeichen stehen lassen möchten.]

Die "Kompetenz" der BeraterInnen bekam schließlich eine Person demonstriert, die wissen wollte, wieviel Geld ihr von einem 400-Euro-Job bleibt bzw. was davon auf das "Arbeitslosengeld 2" angerechnet wird. Die Auskünfte lauteten, daß die Anrechnung gestaffelt erfolge, daß es da drei Stufen gebe, daß man das in den Computer eingeben müsse und daß sie verpflichtet sei, jede Arbeit anzunehmen. Die schlichte Frage, wieviel Geld sie diesen Monat denn nun ausgeben kann, konnte ihr jedoch nicht beantwortet werden.

Aus der Perspektive der Kundschaft hätte die Agentur also heute genausogut geschlossen bleiben können. Landrat Leifert (SPD) dagegen verspricht sich von den Hartz-Gesetzen einiges. Nur ein Beispiel: Zur Frage des angemessenen Wohnraumes äußerte er öffentlich, "Arbeitsunwilligen" sei durchaus der Umzug ins (billigere) Westallgäu zuzumuten. Das heißt: die "angemessene" Miete, die der Alg-2-Berechnung zugrundegelegt wird, wird sich am Preisniveau des Westallgäus orientieren, obwohl das Wohnen in Lindau und den Dörfern am See deutlich teurer ist, was letztlich zu einer sozialen Säuberung des Bodenseeufers führen soll.

Da die Berechnung individuell erfolgt, dürfen manche besonders fügsamen oder gut verwertbaren Betroffenen, eben die "Arbeitswilligen", vielleicht bleiben. Es ist offensichtlich, daß damit der Behördenwillkür Tür und Tor geöffnet werden. Ungeahnte Möglichkeiten ergeben sich beispielsweise im Zusammenspiel mit der Stadt Lindau, die sich seit einigen Jahren um eine "soziale Aufwertung" ihres alten Industrie- und ArbeiterInnenstadtteils Zech bemüht, wenn sozial Schwache nun auf diese Weise gezielt verdrängt werden können.
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Ergänzungen

kleiner Widerspruch

Zeitungsleser 04.01.2005 - 14:12
Laut Lindauer Zeitung von heute war im Zuständigkeitsbereich der Arge niemand von der Auszahlungspanne betroffen. Entweder ist das gelogen, oder die erwähnte Person ist von den Amtsfuzzis verarscht worden, die sie bloß loswerden wollten.

lob und jammer

leserin 05.01.2005 - 12:48
abgesehen davon, dass es natürlich schade ist, dass nichts zustande gekommen ist in lindau (was aber angesichts der anderen agenturschlussversuche mehr als verwunderlich gewesen wäre), ist das mal ein informativer und genauer bericht über die situation der "betroffenen" selbst, in deren namen ja protestiert wurde. wenn schon nichts anderes geht, ist so eine beobachtung wenigstens was - nötig angesichts der vielen falschmeldungen und medialen nachbetungen der pressesprecher der bundesregierung. keep up the good work!