Deutsche Kolonialbewegung

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Gegen Ende der 1870er Jahre setzte die öffentliche Diskussion über die Notwendigkeit einer deutschen überseeischen Expansion und Kolonialpolitik ein. Es existieren drei Persönlichkeiten, die die kolonialagitatorische Argumentation vorformulierten und quasi systematisiert haben: Friedrich Fabri, Wilhelm Hübbe-Schleiden und Ernst von Weber.

Als „Vater der deutschen Kolonialbewegung“ gibt der Kolonial- und Sozialpolitiker Friedrich Fabri (1824-1891), von dessen Schriften wohl die stärkste kolonialpolitische Wirkung ausging. Nach seinem Theologiestudium  wurde Fabri 1857 Leitender Inspektor der Rheinischen Mission in Barmen. Im Jahre 1828 wurden die ersten Missionare naca geschickt. Es gab eine gute Zusammenarbeit mit den dortigen Missionsstationen der Londoner Mission. Ebenso gut war die Zusammenarbeit mit Niederländischen Gesellschaften. Die Rheinische Mission ging in ihrer Missionstätigkeit davon aus, dass nur ihre religiösen Überzeugungen in der Welt ihren Platz haben, von der Vorstellung religiöser Pluralität kann dort keine Rede sein.

 

Die Furcht vor einer Benachteiligung am gesamten deutschen Westafrikahandels dürfte der Grund gewesen sein, dass er 1884 den „Reichsschutz“ über deutsche Interessensgebiete in Afrika und in der Südsee zu formalisieren begann.

Daher war es für die europäischen Eliten attraktiv, in Afrika neue Märkte zu erobern sowie der einheimischen Bevölkerung Errungenschaften ihrer Zivilisation zu bringen. Da sich Europa von 1873 bis 1896 in einer langen Depression befand und die europäischen Märkte schrumpften, gleichzeitig deren Abschottung aber zunahm, bot sich in Schwarzafrika für Großbritannien, Deutschland, Frankreich und andere (europäische) Staaten eine gute Möglichkeit, Waren abzusetzen und die chronisch negativen Handelsbilanzen zu verbessern. Besonders für Großbritannien, das als erstes Land in das Postindustrielle Zeitalter vorstieß, waren ausländische Märkte von enormer Bedeutung. Durch Finanzexporte und deren Gewinne konnte man die höchst defizitäre Handelsbilanz entlasten. Weltweit wichtige Märkte für Großbritannien waren damals Afrika, Kolonien mit weißen Siedlern, der mittlere Osten, Südasien, Südostasien sowie Ozeanien. Investitionen in Übersee waren oft profitabler als in der Heimat. Das lag an billigen einheimischen Arbeitskräften, wenig Wettbewerb und sehr leicht verfügbaren Rohstoffen. Neben diesen Vorteilen bot Afrika auch Ressourcen, die die europäischen Staaten brauchten, in Europa aber nicht oder kaum existierten. Hier sind besonders Kupfer, Baumwolle, Kautschuk, Tee und Zinn zu nennen.

 

Im Vorfeld der Reichstagswahlen vom Herbst 1884 stärkte Bismarck mit            Kolonialparolen die nationalliberalen und konservativen Kräfte zu Lasten der bürgerlichen Linken und der Sozialdemokratie. Mit der Aussicht auf lukrative Geschäfte in den Kolonien wurde die wirtschaftsliberale Fraktion geködert, Besitzungen außerhalb Deutschlands wurden als neue Marktstrategie (erfolgreich) verkauft.

 

Gegen Ende der 1870er Jahre setzte die öffentliche Diskussion über die Notwendigkeit einer deutschen überseeischen Expansion und Kolonialpolitik ein. Es existieren drei Persönlichkeiten, die die kolonialagitatorische Argumentation vorformulierten und quasi systematisiert haben: Friedrich Fabri, Wilhelm Hübbe-Schleiden und Ernst von Weber.[1]

Als „Vater der deutschen Kolonialbewegung“ gibt der Kolonial- und Sozialpolitiker Friedrich Fabri (1824-1891), von dessen Schriften wohl die stärkste kolonialpolitische Wirkung ausging.[2] Nach seinem Theologiestudium  wurde Fabri 1857 Leitender Inspektor der Rheinischen Mission in Barmen. Im Jahre 1828 wurden die ersten Missionare nach Südafrika geschickt. Es gab eine gute Zusammenarbeit mit den dortigen Missionsstationen der Londoner Mission. Ebenso gut war die Zusammenarbeit mit Niederländischen Gesellschaften. Die Rheinische Mission ging in ihrer Missionstätigkeit davon aus, dass nur ihre religiösen Überzeugungen in der Welt ihren Platz haben, von der Vorstellung religiöser Pluralität kann dort keine Rede sein.

In dieser Position führte Fabri eine bessere Ausbildung der Missionskandidaten ein, die sowohl die alten Sprachen umfasste als auch darauf achtete, dass die Persönlichkeit der Missionare berücksichtigt und gestärkt wurde. Er verbesserte die Kommunikation mit den Missionaren durch regelmäßige Rundschreiben über politische und kirchliche Entwicklungen und gab der Missionsgesellschaft ein ausgearbeitetes Statut mit einer Generalversammlung als oberstem Organ. Fabri veröffentlichte in seiner Funktion auch Werke über die „Heidenmission“ wie „Von der Entstehung des Heidenthums und der Aufgabe der Heidenmission“ aus dem Jahre 1859, „Von dem sensus communis als dem Organ der Offenbarung Gottes in allen Menschen“ aus dem Jahre 1861 sowie „Über die neuesten Erweckungen in Amerika, Holland und andern Ländern“ aus dem Jahre 1860, wo schon Grundzüge der Begründung von Kolonien enthalten waren.[3]

 Mit seinem Werk „Bedarf Deutschland der Colonien?“ aus dem Jahre 1879 verhalf er der Kolonialdiskussion in einer breiten Öffentlichkeit zum Durchbruch.[4] Er sah die Ursachen der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Krisenerscheinungen des Kaiserreiches im Überbevölkerung, Überproduktion sowie Kapitalüberschuss und propagierte das Problem, durch eine Kolonisationsoffensive lösen zu können. Wegen der nationalen und ökonomischen Wechselwirkung mit dem Mutterland („Expansion und Repulsion“) ergab sich für ihn die Möglichkeit, die deutsche Auswanderung in eigene Kolonien zu lenken.[5] Der Export der „sozialen Frage“ durch gelenkte Auswanderung der von ihr Betroffenen in Siedlungskolonien, die gleichzeitig als Absatzgebiete der industriellen Überproduktion dienen sollten und Deportation von systemändernden Vertretern der revolutionären Arbeiterbewegung- das waren die Ansichten Fabris über eine deutsche Kolonialpolitik.[6]

Im selben Jahr wie Fabris Broschüre erschien unter dem Titel „Ethiopien“ ein weiteres kolonialagitatorisches Werk des Hamburger Juristen und Schiffsreeders Wilhelm Hübbe-Schleiden (1846-1916). Darin suchte er nach realistischen Möglichkeiten für eine deutsche Marktausweitung in Afrika.[7] Er erhoffte sich von Kolonialgründungen eine Belebung der nationalen Wirtschaft, wobei er auf die Interdependenz von Industrieproduktion und Außenhandel verwies. Sein wirtschaftspolitisches Kolonialprogramm sah die Gründung und Ausweitung überseeischer Handelsgesellschaften und Produktionsunternehmungen vor.

Friedrich Fabri bemühte sich um Kontakt zu Hübbe-Schleiden, der diesen sowohl materiell als auch ideell förderte. In seinen anschließenden Schriften machte sich Hübbe-Schleiden die von Fabri vorgeschlagenen sozialen Krisenargumente zunutze. Hübbe-Schleidens Vorstellungen von einer deutschen Weltmacht fußten nicht nur auf wirtschaftspolitischen Vorstellungen, sondern auch auf die Überzeugung einer besonderen deutschen Kulturmission.[8]

Weniger von kulturpolitischen Zielen als vielmehr von sozialimperialistischen Krisenstrategien war das Kolonialprogramm Ernst von Webers (1830-1903) bestimmt.[9] Der sächsische Rittergutsbesitzer propagierte eine staatlich gesteuerte Auswanderung „als Massenexport des sozialen Sprengstoffes“, womit er die sozialdemokratische Forderung für soziale Mindeststandards meinte. Als konkretes Ziel nannte er die Gründung eines „Neu-Deutschland“ in Südafrika sowie die Anlage deutscher Kolonien in Südamerika. Er wollte im eigenen Lande die von ihm vorhergesehene Revolution unterbinden und als Lösungsstrategie die Umsiedlung zahlreicher Deutscher in Kolonien empfehlen.[10]

Das Erleben einer krisenhaften Zeit und die daraus resultierenden sozialen und politischen Ängste des bürgerlichen katholischen Lagers führte schließlich dazu, dass die Kolonialdiskussion als Ausweg für die bestehenden  Probleme gesehen wurde. Der nationalistische und antisemitischen Historiker Heinrich von Treitschke stieß in dasselbe Horn: „ Für ein Volk, das an einer beständigen Überproduktion leidet und Jahr für Jahr an 200.000 seiner Kinder in die Fremde sendet, wird die Kolonisation zur Daseinsfrage.“[11]

 

 

 

 

Der Eintritt in das Kolonialzeitalter

 

Die völlige Durchdringung des afrikanischen Kontinents durch die Europäer wurde weniger von Händlern und Politikern als vielmehr von Forschern, Abenteurern und Missionaren vorangetrieben. Geprägt von den Ideen der Aufklärung entwickelte sich ein Wettlauf zwischen den Entdeckern, um die letzten weißen Flecken auf der afrikanischen Landkarte zu tilgen. Es wurde als große Herausforderung empfunden, daß gerade jener fremde Kontinent am wenigsten erforscht war, der "vor der Haustür" Europas lag. Im Mittelpunkt des Forscherinteresses lag die Entdeckung der Quellgebiete der großen Flüsse Afrikas, des Niger, des Kongo und des Nil. Insbesondere der Wettlauf um die Entdeckung der Nilquellen nahm schon fast absurde Formen an – nicht zuletzt deshalb, weil damit die Hoffnung verbunden war, die sagenumwobenen Goldvorkommen der Königin von Saba zu finden.

Gefördert wurde dieser Wettlauf unter anderem von der britischen Royal Geographic Society, von Handelsunternehmen und europäischen Zeitungen. Die Ideen der Aufklärung hatten aber auch indirekt dem Missionsgedanken neuen Aufschwung gegeben. Während lange Zeit die schwarze Bevölkerung Afrikas vornehmlich als „gottlose Wilde“ betrachtet wurde, die deshalb nicht in den Genuss der christlichen Heilsbotschaft kommen könnten, hatte die bürgerliche Aufklärung das Bild des „Wilden“ verändert und zumindest seine Menschlichkeit und damit seine mögliche „Besserung“ im erzieherischen Sinne als unzweifelhaft definiert.[12] Damit stand für die europäischen Kirchen die „Verpflichtung“ außer Frage, ihre christliche Missionstätigkeit auch auf den afrikanischen Kontinent auszudehnen.[13]

Im Gefolge der Missionare und Entdecker drangen auch zahlreiche Händler in bis dahin unbekannte Gebiete vor und versuchten, mit den Herrschern vor Ort Handelsabkommen zu schließen, die ihnen wirtschaftliche Monopol- oder zumindest Vorrechte garantierten.[14] Je stärker sich der Wettbewerb zwischen den einzelnen Händlern intensivierte, desto mehr versuchten sie, ihre Heimatstaaten in Schutzabkommen einzubinden. Dies führte vor allem in Großbritannien zu verstärktem Interesse an Afrika und seiner Eroberung, da dies auch den wirtschaftlichen Interessen des Staates auf lange Sicht nutzen würde.

Die anschwellende Bevölkerung und der Wunsch nach Auswanderung wurden völkisch  interpretiert und unter diesem Vorzeichen nach brauchbaren nationalen Lösungen gesucht. Unter den Vorzeichen einer weltweiten Konkurrenz machte es sehr wohl einen Unterschied, wem die Auswanderung letztlich zugute kam, die sich in Deutschland schubweise vollzog. Es schien angeraten, den deutschen Emigranten Alternativen zu bieten, damit sie sich nicht als „Völkerdünger“ in die Welt zerstreuten. Vielmehr sollten sie nach Möglichkeit ein „Deutschland in Übersee“ gründen oder wenigsten als „Brückenköpfe“ des deutschen Einflusses wirken.[15] Dies setzte voraus, dass die Auswanderer sich auch in ihrer neuen Heimat als Deutsche definierten, was in vielen Fällen der Fall war, aber nicht immer zutraf. Wenn es den Auswanderer gelang, ihre wirtschaftliche Situation zu verbessern, nahmen sie meist die Sitten und Bräuche des Aufnahmelandes immer mehr an und nahmen nicht mehr auf ihre deutsche Vergangenheit Bezug.

Entscheidende Punkte für das Desinteresse staatlicherseits an Kolonien war die Begrenzung des deutschen politischen Denkens zu der Zeit auf die Belange in Deutschland und Europa und das Fehlen einer deutschen Seemacht, die für den Erwerb überseeischer Kolonien erst den machtpolitischen Rückhalt bieten konnte. Mit dem Aufbau der österreichischen Flotte und der preußischen Flotte ab 1848 wurden solche Machtmittel geschaffen.[16] Im Jahre 1868 hatte Bismarck in einem Brief an den preußischen Kriegs- und Marineminister Albrecht von Roon seine Ablehnung jeglichen Kolonialerwerbs noch deutlich gemacht: „Einerseits beruhen die Vorteile, welche man sich von Kolonien für den Handel und die Industrie des Mutterlandes verspricht, zum größten Teil auf Illusionen. Denn die Kosten, welche die Gründung, Unterstützung und namentlich die Behauptung der Kolonien veranlaßt, übersteigen sehr oft den Nutzen, den das Mutterland daraus zieht, ganz abgesehen davon, daß es schwer zu rechtfertigen ist, die ganze Nation zum Vorteil einzelner Handels- und Gewerbezweige zu erheblichen Steuerlasten heranzuziehen. – Andererseits ist unsere Marine noch nicht weit genug entwickelt, um die Aufgabe nachdrücklichen Schutzes in fernen Staaten übernehmen zu können.“[17]

Nach der Reichsgründung von 1871 behielt er zunächst diese Meinung bei. Im Laufe der 1870er Jahre gewann die Kolonialpropaganda in Deutschland allerdings zunehmend an Öffentlichkeitswirksamkeit. 1873 wurde die „Afrikanische Gesellschaft in Deutschland“ gegründet, die ihre Hauptaufgabe in der geographischen Erkundung Afrikas sah. 1882 folgte die Gründung des Deutschen Kolonialvereins, der sich als Interessenverein für die Kolonialpropaganda sah. So sah sich Reichskanzler Bismarck immer mehr unter Druck gesetzt, bis er dann die Entscheidung, dass Deutschland nach Jahren der Abstinenz im Frühsommer 1884 in die Auseinandersetzung mit den anderen europäischen Kolonialmächten um überseeische Territorien eintrat.[18] Die Agitatoren des Kolonialismus bereiteten dieser Entscheidung den Boden, aber erst der Entschluss Bismarcks stellte den „definitiven Umschlagpunkt zum informell indirekten Freihandelsexpansionismus seit den 1860er Jahren zum direkt-formellen Kolonialbesitz dar.“[19]

Bis zu diesem Zeitpunkt im Frühsommer 1884 hatte Bismarck es immer abgelehnt, sich mit der Kolonialfrage überhaupt ernsthaft zu beschäftigen. Die Deutungsversuche für diese Wandlung Bismarcks sind heterogener Natur. Friedrich Meineke und Hermann Onken vertraten die These, dass Bismarck dem öffentlichen Druck nachgeben musste. Auf der anderen Seite waren M.E. Townsend und H.A. Turner der Ansicht, der Reichskanzler habe nur auf eine Möglichkeit der Kolonisationspolitik gewartet.[20] Die Furcht vor einer Benachteiligung am gesamten deutschen Westafrikahandels dürfte der Grund gewesen sein, dass er 1884 den „Reichsschutz“ über deutsche Interessensgebiete in Afrika und in der Südsee zu formalisieren begann.[21]

Daher war es für die europäischen Eliten attraktiv, in Afrika neue Märkte zu erobern sowie der einheimischen Bevölkerung Errungenschaften ihrer Zivilisation zu bringen. Da sich Europa von 1873 bis 1896 in einer langen Depression befand und die europäischen Märkte schrumpften, gleichzeitig deren Abschottung aber zunahm, bot sich in Schwarzafrika für Großbritannien, Deutschland, Frankreich und andere (europäische) Staaten eine gute Möglichkeit, Waren abzusetzen und die chronisch negativen Handelsbilanzen zu verbessern. Besonders für Großbritannien, das als erstes Land in das Postindustrielle Zeitalter vorstieß, waren ausländische Märkte von enormer Bedeutung. Durch Finanzexporte und deren Gewinne konnte man die höchst defizitäre Handelsbilanz entlasten. Weltweit wichtige Märkte für Großbritannien waren damals Afrika, Kolonien mit weißen Siedlern, der mittlere Osten, Südasien, Südostasien sowie Ozeanien. Investitionen in Übersee waren oft profitabler als in der Heimat. Das lag an billigen einheimischen Arbeitskräften, wenig Wettbewerb und sehr leicht verfügbaren Rohstoffen. Neben diesen Vorteilen bot Afrika auch Ressourcen, die die europäischen Staaten brauchten, in Europa aber nicht oder kaum existierten. Hier sind besonders Kupfer, Baumwolle, Kautschuk, Tee und Zinn zu nennen.

Es war dort auch wenig militärischer einheimischer Widerstand zu erwarten, der die Ausbeutung von Rohstoffen verhindern könnte. Daher konnte mit wenig militärischem Aufwand und niedrigen Kosten ein schneller Profit für das imperialistische Land in Afrika herausspringen.

Es herrschte zur Zeit des Eintritts Deutschlands in den Kolonialwettlauf eine außenpolitisch günstige Konstellation. In Afghanistan spitzten sich die russisch-englischen Rivalitäten zu, zudem stand England mit Frankreich in einem Konflikt um Ägypten. Die Kolonien konnten daher ohne größere Rückwirkungen für die deutschen außenpolitischen Beziehungen in Besitz genommen werden.[22]

Die in direkter Abhängigkeit von Bismarcks Modell des europäischen Gleichgewichtes stehende außenpolitische Lage des Reiches hat somit den Kolonialerwerb ganz maßgeblich erleichtert. Es war Bismarcks Absicht, durch den Erwerb von Kolonien die notwendige Grundlage für eine koloniale Entente mit Frankreich zu schaffen, um die französischen Revanchegedanken, was den Erwerb Elsaß-Lothringen betraf, abzulenken. Seit Beginn der 1880er Jahre tauchte bei Bismarck immer wieder der Gedanke auf, mit Frankreich über eine Begünstigung im kolonialen Bereich zu einem Ausgleich zu kommen.

Die Kolonialfrage bot sich für Bismarck auch als Mittel zur Festigung der eigenen Machtbasis an:[23] „Die öffentliche Meinung legt gegenwärtig in Deutschland ein so starkes Gewicht auf die Kolonialpolitik, dass die Stellung der Regierung im Innern von dem Gelingen desselben wesentlich abhängt.“

Im Vorfeld der Reichstagswahlen vom Herbst 1884 stärkte Bismarck mit            Kolonialparolen die nationalliberalen und konservativen Kräfte zu Lasten der bürgerlichen Linken und der Sozialdemokratie. Mit der Aussicht auf lukrative Geschäfte in den Kolonien wurde die wirtschaftsliberale Fraktion geködert, Besitzungen außerhalb Deutschlands wurden als neue Marktstrategie (erfolgreich) verkauft.

Die Verwaltung der Kolonien sollte im Sinne eines freihändlerischen kommerziellen Expansionismus geschehen:[24] „(…) der regierende Kaufmann und nicht der regierende Bureaukrat (ist das Ziel, M.L.) in jenen Gegenden, nicht der regierende Militär und der preußische Beamte; unsere Geheimen Räte sind ganz vortrefflich bei uns; aber dort in den kolonialen Gebieten erwarte ich von den Hanseaten, die draußen gewesen sind, mehr (…). Mein Ziel ist die Regierung kaufmännischer Gesellschaften, über denen nur die Aufsicht und der Schutz des Reiches und des Kaisers zu schweben hat.“

Der Deutsche Kolonialverein gehörte zu den Interessensorganisationen, die sich für ein imperialistisches Wettrüsten Deutschlands mit den anderen europäischen Mächten stark machten. Der Verein wurde am 6. Dezember 1882 in Frankfurt/Main unter der Leitung von Hermann Fürst zu Hohenlohe-Langenburg gegründet, der auch der erste Präsident wurde. Schon im Februar 1885 wechselte der Sitz nach Berlin, um näher an den Entscheidungsträgern in Politik und Wirtschaft zu sein. Im Verein gab es um die 15.000 Mitglieder. Sie kamen überwiegend aus der Politik, der Industrie, dem Handel und dem Bankwesen. Unter den Motiven verbanden sich nationalistische Rivalität mit anderen Großmächten, Sorge um eine Übervölkerung und Hoffnung auf Wirtschaftswachstum mit der Spekulation auf eine innenpolitische Entspannung im Kampf gegen die Sozialdemokratie.

Führende Mitglieder des Deutschen Kolonialvereins waren Johannes von Miquel, führender Vertreter der Disconto-Gesellschaft, Carl Ferdinand Stumm, Vertreter der Saar-Industrie, Louis Baare, Vertreter der rheinisch-westfälischen Großindustrie, Henry Axel Bueck , Generalsekretär des Zentralverbandes Deutscher Industrieller, Friedrich Ratzel, Geograph und Begründer der Anthropogeographie und Heinrich von Treischke, deutscher Historiker, Antisemit und Mitglied des Reichstages.[25]

Der Deutsche Kolonialverein versuchte, durch Publizistik das Interesse der Deutschen für die Kolonialpolitik zu wecken sowie die Regierung und den Reichstag zu kolonialen Annexionen zu drängen. Die Mitglieder des Kolonialvereins forderten eine wirtschaftliche Förderung der bestehenden Kolonien und die Erschließung neuer Kolonialgebiete. Der Deutsche Kolonialverein wurde am 19. Dezember 1887 mit der 1884 von Carl Peters   gegründeten, radikaleren Gesellschaft für deutsche Kolonisation zur Deutschen Kolonialgesellschaft verschmolzen.[26]

Anfang der 1880er Jahre nahm das europäische Interesse an Afrika stark zu. Henry Morton Stanley hatte mit der Erforschung des Kongobeckens 1874 bis 1877 den letzten großen „weißen Fleck“ von der Landkarte Afrikas beseitigt.[27] 1878 erhielt er eine Einladung von Leopold II., dem König der Belgier, der bereits 1876 die Internationale Afrika-Gesellschaft mit dem Ziel der Erforschung und „Zivilisierung“ Afrikas gegründet hatte. 1879 wurde die Internationale Kongo-Gesellschaft gegründet, die wirtschaftliche Ziele verfolgen sollte, mit der AIA aber eng verknüpft war. Leopold kaufte die fremden Anteile der Kongogesellschaft heimlich auf, die philanthropische Afrikanische Gesellschaft diente hauptsächlich zur Kaschierung der imperialistischen Ziele der Kongogesellschaft.

Von 1879 bis 1884 reiste Stanley erneut an den Kongo, diesmal nicht als Reporter, sondern als Abgesandter Leopolds mit dem geheimen Auftrag, den Kongostaat zu organisieren. Gleichzeitig reiste der französische Marineoffizier Pierre Savorgnan de Brazza im westlichen Kongobecken und hisste im neu gegründeten Brazzaville 1881 die französische Flagge. Portugal, das aus alten Verträgen mit dem einheimischen Kongo-Reich ebenfalls Ansprüche auf das Gebiet herleitete, schloss am 26. Februar 1884 mit Großbritannien einen Vertrag, der vorsah, der Kongogesellschaft den Zugang zum Atlantik zu versperren.

Zur gleichen Zeit drangen mehrere europäische Staaten nach Afrika vor und es begann der „Wettlauf um Afrika“[28]: Frankreich besetzte 1881 Tunesien und die heutige Republik Kongo sowie 1884 Guinea. Großbritannien besetzte 1882 das nominell auch weiterhin osmanische Ägypten, das wiederum über den Sudan und Teile Somalias herrschte. Italien nahm 1870 und 1882 erste Teile Eritreas in Besitz. Deutschland unterstellte 1884 die Küsten Togos und Kameruns sowie Deutsch-Südwestafrika seinem „Schutz“.

Die politischen Machtbereiche wurden auf der Kongo-Konferenz 1884 abgesteckt. Leopold II. von Belgien gelang es, Frankreich und Deutschland davon zu überzeugen, dass ein gemeinsames Handeln in Afrika in ihrem Interesse sei. Otto von Bismarck, der deutsche Reichskanzler, lud die Vertreter der USA, des Osmanischen Reiches und der europäischen Mächte Österreich-Ungarn, Belgien, Dänemark, Frankreich, Großbritannien, Italien, Niederlande, Portugal, Russland, Spanien und Schweden-Norwegen (bis 1905 Personalunion) zu einer Konferenz nach Berlin ein.[29]

Die Kongo-Konferenz trat am 15. November 1884 im Reichskanzlerpalais in der Wilhelmstraße zusammen.[30] Stanley nahm als technischer Berater der amerikanischen Delegation teil, hatte aber wenig Einfluss. Die Konferenz endete am 26. Februar 1885 mit der Unterzeichnung der Kongoakte durch die beteiligten Staaten. Leopold II. hatte einen großen Triumph erzielt, da er seinen Privatstaat bekam.

Der Kongo, das rohstoffreichste Gebiet Afrikas, war nicht in den Besitz einer Großmacht übergegangen, sondern faktisch an Belgien, das für die europäische Kontinentalpolitik kaum von Bedeutung war. Außerdem hatte sich herausgestellt, dass die Interessen Englands und Frankreichs, was die Kolonialpolitik betraf, miteinander unvereinbar waren. Bismarck hatte sich einmal mehr als „ehrlicher Makler“ bewährt, sein Interesse an der Kolonialpolitik blieb dominiert von innenpolitischen und europäischen Überlegungen.[31]

Die Kongoakte regelte in 38 Artikeln folgende Punkte:[32]

 

  • Die 14 teilnehmenden Staaten genossen Handelsfreiheit im gesamten Einzugsgebiet des Kongos sowie des Njassasees und östlich davon im Gebiet südlich des 5. nördlichen Breitengrades. Es umfasste die heutigen Staaten Demokratische Republik Kongo, Republik Kongo, Uganda, Kenia, Ruanda, Burundi, Tansania und Malawi sowie den Großteil von Zentralafrika, den Süden von Somalia, den Norden von Mosambik und Angola sowie kleinere Teile von Gabun, Kamerun, Südsudan, Äthiopien und Sambia.

  • Die Flüsse Niger und Kongo wurden für die Schifffahrt freigegeben.

  • Das Verbot des Sklavenhandels wurde international festgelegt.

  • Der Grundsatz wurde festgeschrieben, dass nur jene Macht das Recht auf Erwerb einer Kolonie haben sollte, die sie tatsächlich in Besitz nahm (Prinzip der Effektivität).

  • Für den Fall bewaffneter Konflikte zwischen Vertragsstaaten wurde die Möglichkeit der Neutralität der „im konventionellen Kongobecken einbegriffenen Gebiete“ vorgesehen (Artikel 10–11). Die Begrenzung des Gültigkeitsbereiches ist im Artikel 1 genau geregelt.

  • In parallel verlaufenden Verhandlungen und der Abschlusskonferenz wurde der Kongofreistaat als Privatbesitz der Kongogesellschaft bestätigt. Das Territorium der heutigen Demokratischen Republik Kongo mit mehr als zwei Millionen Quadratkilometern gehörte damit praktisch Leopold II. Dies geschah zwar im Kontext der Kongokonferenz, allerdings wird es nicht in der Kongoakte erwähnt.

     

    Unter Kaiser Wilhelm II. (1888–1918) versuchte Deutschland durch Erwerb weiterer Handelsvertretungen seinen Kolonialbesitz auszubauen. Die wilhelminische Ära steht für eine schwärmerisch-expansionistische Politik und eine forcierte Aufrüstung, insbesondere der kaiserlichen Marine. Die Kolonialbewegung war zu einem ernstzunehmenden Faktor in der deutschen Innenpolitik angewachsen. Der nationalistische und rassistische Alldeutsche Verband vertrat eine expansionistische Außenpolitik und begründete dies mit der Weltmachtstellung Deutschlands.[33] Die für das deutsche Überlegenheitsdenken symbolische  Wortprägung „Platz an der Sonne“ entstand durch eine Äußerung von Bernhard von Bülow (1849–1929) in einer Reichstagsdebatte am 6. Dezember 1897, wo er im Zusammenhang mit der deutschen Kolonialpolitik formulierte: „Mit einem Worte: wir wollen niemand in den Schatten stellen, aber wir verlangen auch unseren Platz an der Sonne.“[34] Diese Prämisse eines nationalen Prestigedenkens sollte die deutsche imperialistische Politik bis 1914 prägen. Auch danach empfanden viele Deutsche den Verlust der Kolonien nach dem Versailler Vertrag als unrechtmäßig und versuchten mit nationalistischen und rassistischen Argumenten, eine Revision des Status Quo durchzusetzen.

     

    Kolonialbesitz schien auch im Licht der sozialdarwinistischen Interpretation der Konkurrenz zwischen den sich entwickelnden imperialistischen Industriestaaten eine Notwendigkeit und eine Verpflichtung gegenüber den nachfolgenden Generationen zu sein.[35] Gewöhnlich wird von Sozialdarwinisten damit eine Höherentwicklung zu einer wertvolleren Lebensform verbunden so etwa bei Herbert Spencer und William Graham Sumner. Dabei kann zwischen sozialdarwinistischen Ansätzen danach unterschieden werden, ob sie sich auf individuellen oder kollektiven Wettbewerb beziehen. Konventionelle Ansätze des Sozialdarwinismus werden mit politischem Konservatismus, Imperialismus und Rassismus verbunden. Angeblich für die nachfolgende Generation wollte man sicherstellen, dass sie zu den Gewinnern in diesem Wettkampf – in dem es nur den survival of the fittest geben würde – gehören würden. War das nationale Bürgertum in weiten Teilen schon davon überzeugt, innerhalb der europäischen Nationen zu einer überlegenen zu gehören, so galt dies umso mehr im Vergleich zu außereuropäischen Kulturen. Aufgrund der eigenen, überlegenen Stellung glaubte man zur Kultivierung der vermeintlich zurückgebliebenen und primitiven Bewohnerinnen und Bewohner der außereuropäischen Welt berufen zu sein und besaß damit eine positive Rechtfertigung jeglichen kolonialen Strebens.

     




[1]Graudenz, K./Schindler, H.-M.: Die deutschen Kolonien, Augsburg 1994, S. 30

[2]Bade, K. J.: Friedrich Fabri und der Imperialismus in der Bismarckzeit Revolution – Depression – Expansion, Freiburg i.Br. 1975, S. 15

[3] Bautz, F.W.: Fabri, Friedrich, in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon (BBKL). Band 1,. 2., unveränderte Auflage Hamm 1990 , Sp. 1587–1588

[4] Ebd.

[5]Möhle, H. (Hrsg.): Branntwein, Bibeln und Bananen. Der deutsche Kolonialismus in Afrika,  Hamburg 1999, S. 55

[6] Bade, Friedrich Fabri und der Imperialismus in der Bismarckzeit Revolution – Depression – Expansion, a.a.O., S. 83f

[7]Schinzinger, F.: Die Kolonien und das Deutsche Reich. Die wirtschaftliche Bedeutung der deutschen Besitzungen in Übersee, Stuttgart 1984, S. 73

[8]Klatt, N.: Theosophie und Anthroposophie, neue Aspekte zu ihrer Geschichte aus dem Nachlass von Wilhelm Hübbe-Schleiden (1846-1916) mit einer Auswahl von 81 Briefen, Göttingen 1993, S. 85

[9] Bade, Friedrich Fabri und der Imperialismus in der Bismarckzeit Revolution – Depression – Expansion, a.a.O., S. 96f

[10] Ebd., S. 105

[11] Zitiert aus Ebd., S. 163

[12] Möhle, H. (Hrsg.): Branntwein, Bibeln und Bananen. Der deutsche Kolonialismus in Afrika,  Hamburg 1999, S. 45

[13] Nagl, D.: Grenzfälle. Staatsangehörigkeit, Rassismus und nationale Identität unter deutscher Kolonialherrschaft,  Frankfurt a. M. 2007, S. 46

[14] Ebd., S. 49

[15] Schinzinger, F.: Die Kolonien und das Deutsche Reich. Die wirtschaftliche Bedeutung der deutschen Besitzungen in Übersee, Stuttgart 1984, S. 58f

[16] Möhle, H. (Hrsg.): Branntwein, Bibeln und Bananen. Der deutsche Kolonialismus in Afrika,  Hamburg 1999, S. 18

[17] Zitiert aus Nagl, D.: Grenzfälle. Staatsangehörigkeit, Rassismus und nationale Identität unter deutscher Kolonialherrschaft,  Frankfurt a. M. 2007, S. 53

[18] Ebd., S. 68

[19] Gründer, Christliche Mission und deutscher Imperialismus, a.a.O., S. 51

[20]Höpker, T./Petschull, J.: Der Wahn vom Weltreich. Die Geschichte der deutschen Kolonien, Herrsching 1986, S. 136

[21]Nagl, D.: Grenzfälle. Staatsangehörigkeit, Rassismus und nationale Identität unter deutscher Kolonialherrschaft,  Frankfurt a. M. 2007, S. 92

[22] Ebd., S. 101

[23]Zitiert ausKundrus, B. (Hrsg.): Phantasiereiche. Zur Kulturgeschichte des deutschen Kolonialismus, Frankfurt a. M. 2003, S. 108

[24]Zitiert ausSchinzinger, F.: Die Kolonien und das Deutsche Reich. Die wirtschaftliche Bedeutung der deutschen Besitzungen in Übersee, Stuttgart 1984, S. 86

[25] Pogge von Strandmann, H.: Imperialismus vom Grünen Tisch. Deutsche Kolonialpolitik zwischen wirtschaftlicher Ausbeutung und „zivilisatorischen“ Bemühungen, Berlin 2009, S. 112

[25] Ebd., S. 118

[26] Nagl, D.: Grenzfälle. Staatsangehörigkeit, Rassismus und nationale Identität unter deutscher Kolonialherrschaft,  Frankfurt a. M. 2007, S. 128

[27]Reinhard, W.: Kleine Geschichte des Kolonialismus, Stuttgart 1996, S. 76

[28] Höpker, T./Petschull, J.: Der Wahn vom Weltreich. Die Geschichte der deutschen Kolonien, Herrsching 1986, S. 72

[29] Schinzinger, F.: Die Kolonien und das Deutsche Reich. Die wirtschaftliche Bedeutung der deutschen Besitzungen in Übersee, Stuttgart 1984, S. 57

[30] Reinhard, W.: Kleine Geschichte des Kolonialismus, Stuttgart 1996, S. 81f

[31] Pogge von Strandmann, H.: Imperialismus vom Grünen Tisch. Deutsche Kolonialpolitik zwischen wirtschaftlicher Ausbeutung und „zivilisatorischen“ Bemühungen, Berlin 2009, S. 82

[32]Osterhammel, J.: Kolonialismus. Geschichte, Formen, Folgen, 6. Auflage, München 2009, S. 79f

[33] Ebd., S. 88

[34][34] Zitiert aus Brehl, M.: »Diese Schwarzen haben vor Gott und Menschen den Tod verdient« Der Völkermord an den Herero 1904 und seine zeitgenössische Legitimation, in: Wojak, I./Meinl, S. (Hrsg.): Völkermord. Genozid und Kriegsverbrechen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Frankfurt am Main 2004 (= Jahrbuch zur Geschichte und Wirkung des Holocaust 8), S. 77–97, hier S. 81

[35] Bley, H.: Kolonialherrschaft und Sozialstruktur in Deutsch-Südwestafrika 1894-1914, Hamburg 1968, S. 181f

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