Kants Erziehungsverständnis

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Im Bereich der praktischen Vernunft wird die Freiheit von Kant durch die Fähigkeit des Menschen, sich aus seinem Naturzusammenhang zu erheben und sich gegen ihn durchzusetzen, bestimmt. Auf keinen Fall tritt Freiheit in der Sphäre der praktischen Vernunft als Naturanlage im folgenden Sinne auf: Die Naturanlagen zeigen sich erst in ihrer Realisierung. Sie treten dann als empirische Gegebenheiten auf, werden als solche fassbar und könnten theoretisch erkannt und durch natürliche Maßnahmen beeinflusst werden. In dieser Weise kann das Freiheitsvermögen nicht erkannt und beeinflusst werden. Wenn man eine moralische Handlung als Äußerung einer Naturanlage in diesem Sinne verstehen würde, so könnte man sich zu ihrer Erfassung mit dem Gebrauch empirischer Begriffe zufrieden geben, ohne von Freiheit zu wissen. Der Nachweis der Freiheit und der Moralität des Menschen findet aber jenseits der Grenze der Anwendbarkeit empirischer Begriffe statt. Für die Handlung als moralische kommt es auf nichts an, was mittelbar oder unmittelbar empirisch zugänglich gemacht werden kann. Für die Handlung als moralische kommt es auf nichts an, was unmittelbar und mittelbar zugänglich gemacht werden kann. Von dem her, was sich beobachten und durch Einwirkung am Verhalten des Menschen beeinflussen lässt, ist zu sagen, dass die Begriffe moralisch und frei einer Sphäre unzugänglicher Innerlichkeit angehören, über die es kein empirisches Wissen geben kann. Wenn Erziehen nur ein Entwickeln von Naturanlagen ist, dann ist es fraglich, ob und wie es überhaupt einen Einfluss auf die Sphäre praktischer Vernünftigkeit nehmen kann

Was Kant unter Erziehung verstanden hat, lässt sich verschiedenenartiger Weise explizieren.[1] Zum ersten lässt sich aus den anthropologisch-pädagogischen-geschichtsphilosophischen Schriften ein Verständnis von Erziehung ablesen, dem Kant selber ausführlich Ausdruck gegeben hat. Zum zweiten kann man aus der praktischen Philosophie erschließen, wie Kant die sittliche Erziehung aufgrund seiner Moralphilosophie gedacht haben muss, ohne dies mehr als beiläufig auszusprechen. Drittens äußert sich Kant über Erziehung in empirischen Sätzen, die noch nicht in einem modernen Sinne empirisch-wissenschaftlich abgesichert sind, z.B in der Pädagogik, der Anthropologie und der Methodenlehre der Kritik der praktischen Vernunft. Viertens finden sich in Kants Lehre vom Schönen wichtige Hinweise auf den Beitrag einer ästhetischen zu einer moralischen Bildung. Das Problem, wie diese verschiedenen Aspekte der Erziehung in eine Einheit gebracht werden können, ist noch nicht endgültig gelöst.[2]

In der Schrift „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ sind die Gedanken Kants zur Geschichts- und Erziehungsphilosophie abzulesen:[3] „Denn was hilfts, die Herrlichkeit und Weisheit der Schöpfung im vernunftlosen Naturreiche zu preisen und der Betrachtung zu empfehlen, wenn der Theil des großen Schauplatzes der obersten Wahrheit, der vor allem diesem den Zweck enthält, - die Geschichte des menschlichen Geschlechts- ein unaufhörlicher Einwurf dagegen bleiben soll, dessen Anblick uns nöthigt unsere Augen von ihm mit Unwillen wegzuwenden und indem wir verzweifeln jemals darin eine vollendete vernünftige Absicht anzutreffen, uns dahin bringt, sie nur in einer anderen Welt zu hoffen?“

Nach der Lehre der drei Kritiken besteht weder Anlass noch Möglichkeit, die Natur als ein Werk des planenden Schöpfers zu preisen. Ordnung und Gesetz bringen wir selbst in sie hinein- zum Zwecke der Lebenserhaltung und Lebenssteigerung; oder zum Zwecke einer in sich sinnleeren Erkenntnis, die nur als Mittel der Naturbeherrschung durch und für den Menschen dienen kann. Im 18. Jahrhundert begann sich für die europäische Menschheit die reale Möglichkeit einer Beherrschung und Gestaltung der Welt zu eröffnen. Wissenschaft, Technik, Industrie, Wirtschaft, Gesellschaft und Staat im modernen Sinne zeichneten sich am Horizont der Zukunft ab.[4]

Die Aufgabe einer Erziehung der Menschen zur Vollkommenheit ist bei Kant ein realisierbares Projekt:[5] „Ein Entwurf zu einer Theorie der Erziehung ist ein herrliches Ideal, und es schadet nichts, wenn wir auch nicht gleich im Stande sind, es zu realisieren. Und die Erziehung einer Erziehung, die alle Naturanlagen im Menschen entwickelt, ist allerdings wahrhaft.“

Kant legte Wert darauf, dass die Lehre von der Erziehung zur Wissenschaft werden müsse: [6] „Der Mechanismus in der Erziehungskunst muß in Wissenschaft verwandelt werden (…)“ Die zur Wissenschaft erhobenen Erziehungskunst soll zugleich eine Idee der Erziehung voranleuchten. Es ist ein charakteristischer Zug des Aufklärungsdenkens, einen Ausblick auf das Ganze der Menschheitsgeschichte, in dem theologische Reminiszenzen anklingen, für nötig zu halten und gleichzeitig die Wissenschaft als Hilfe auf dem Wege zur fortschreitenden Vervollkommnung zu Hilfe zu rufen. Die Menschheit soll durch Erziehung in einen vollkommenen Zustand versetzt werden. Es heißt bei Kant:[7] „Zuvörderst muß man anmerken; dass bei allen übrigen sich selbst überlassenen Thieren jedes Individuum seine ganze Bestimmung erreicht, bei den Menschen aber allenfalls nur die Gattung; so dass sich das menschliche Geschlecht nur durch Fortschreiten in einer Reihe unabsehlich vieler Generationen zu seiner Bestimmung emporarbeiten kann.“

Die geschichtsphilosophisch- erziehungsphilosophische Stellungsnahme Kants zur Bestimmung des Menschen von der Betrachtungsweise seiner praktischen Philosophie ist problematisch. Denn Freiheit und Autonomie des Menschen als eines Vernunftswesens sind nur in der Selbstbestimmung von einzelnen Menschen realisierbar. Die Einzelnen sind es nämlich, die sich zur Idee der Freiheit erheben und in dieser Erhebung Freiheit verwirklichen, die damit die höchste Bestimmung erreichen, die Menschen erreichen können.

Kant gibt eine genaue Bestimmung, was er unter Erziehung versteht:[8] „Es liegen viele Keime in der Menschheit, und nun ist es unsere Sache, die Naturanlagen proportionirlich zu entwickeln und die Menschheit aus ihren Keimen zu entfalten und zu machen, dass der Mensch seine Bestimmung erreiche.“ Es existieren laut Kant drei Naturanlagen:

 

  1. die technische

  2. die moralische

  3. die pragmatische

     

    In diesem Zusammenhang auf die Erziehung bezogen geht er von allen dreien aus, d.h. es ist von Kant nicht gedacht, dass menschliche Naturanlagen solche sind, die in sich endlose Möglichkeiten zur Ausgestaltung, Steigerung und Verwandlung enthalten. Die aufklärerische Rede von allen Naturanlagen und ihrer Entfaltung zur Vollkommenheit hat eine Bedeutungskomponente, die auf ältere Vorstellungen von der festen, guten Ordnung der Welt zurückweist. Das zeigt sich daran, dass der Fortschritt vom Aufklärungsdenken durch ewige Naturgesetze gebunden oder durch einen Vollendungszustand aufgefangen wird. Man kann die Rede von den Naturanlagen durch den Rückgriff auf einen Naturbegriff erläutern, der sich in Kants Schriften findet: In der „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht heißt es:[9] „Die Natur hat gewollt: dass der Mensch alles, was über die mechanische Anordnung seines thierischen Daseins steht, gänzlich aus sich selbst herausbringe und keiner anderen Glückseligkeit und Vollkommenheit teilhaftig werde, als er sich frei von Instinct, durch eigene Vernunft, verschafft hat.“

    Kant bedient sich hier eines teleologischen Naturbegriffes, der auf die Eigenart der Menschenwelt bezogen ist. Zu einem solchen Naturbegriff kann weder die Naturwissenschaft noch die Transzendentalphilosophie noch die Lehre der Urteilskraft führen. Die Natur hat dem Menschen Vernunft gegeben, damit die Gattung der Menschen zur vollständigen und vollkommenen Entwicklung aller ihrer Anlagen gelange.

    Im Bereich der praktischen Vernunft wird die Freiheit von Kant durch die Fähigkeit des Menschen, sich aus seinem Naturzusammenhang zu erheben und sich gegen ihn durchzusetzen, bestimmt. Auf keinen Fall tritt Freiheit in der Sphäre der praktischen Vernunft als Naturanlage im folgenden Sinne auf: Die Naturanlagen zeigen sich erst in ihrer Realisierung. Sie treten dann als empirische Gegebenheiten auf, werden als solche fassbar und könnten theoretisch erkannt und durch natürliche Maßnahmen beeinflusst werden. In dieser Weise kann das Freiheitsvermögen nicht erkannt und beeinflusst werden. Wenn man eine moralische Handlung als Äußerung einer Naturanlage in diesem Sinne verstehen würde, so könnte man sich zu ihrer Erfassung mit dem Gebrauch empirischer Begriffe zufrieden geben, ohne von Freiheit zu wissen. Der Nachweis der Freiheit und der Moralität des Menschen findet aber jenseits der Grenze der Anwendbarkeit empirischer Begriffe statt. Für die Handlung als moralische kommt es auf nichts an, was mittelbar oder unmittelbar empirisch zugänglich gemacht werden kann. Für die Handlung als moralische kommt es auf nichts an, was unmittelbar und mittelbar zugänglich gemacht werden kann. Von dem her, was sich beobachten und durch Einwirkung am Verhalten des Menschen beeinflussen lässt, ist zu sagen, dass die Begriffe moralisch und frei einer Sphäre unzugänglicher Innerlichkeit angehören, über die es kein empirisches Wissen geben kann. Wenn Erziehen nur ein Entwickeln von Naturanlagen ist, dann ist es fraglich, ob und wie es überhaupt einen Einfluss auf die Sphäre praktischer Vernünftigkeit nehmen kann.[10]

    Die Theorie der Erziehung wird von Kant nicht auf einzelne Menschen, sondern auf die ganze Menschengattung bezogen. Das ist in einem gewissen Sinne konsequent, denn die Entwicklung zur Vollkommenheit soll nur für die Gattung am Ende eines langen Weges erreicht werden können. Wenn die Vollkommenheit erreicht wäre, würden einige Menschen vollkommen; seien diese auch alle Menschen, die zu jener Zeit leben.

    Kant bringt die Vollkommenheit der Gattung vernünftiger Lebewesen mit der Ausbildung einer auch äußerlich-vollkommenen Staatsverfassung und schließlich einem kosmopolitischen Friedenszustand zusammen:[11] (…) wobei dann ihr Wollen im Allgemeinen gut, das Vollbringen aber dadurch erschwert ist, dass die Erreichung des Zwecks nicht von der freien Zusammenstimmung der Einzelnen, sondern nur durch fortschreitende Organisation der Erdbürger in und zu der Gattung als einem System, das kosmopolitisch verbunden ist, erwartet werden kann.“

    Für die damalige Zeit war es zukunftweisend, den Begriff einer republikanischen Verfassung und eines Rechtsstaates im modernen Sinne zu denken. In einem solchen politischen Zustand sind die Menschen in wichtigen Dingen einander gleichgestellt. Sie haben gleiche Befugnisse und Pflichten: sie können sich innerhalb gewisser Grenzen frei betätigen. Wie der vollkommene Zustand zur Erziehung stehen soll, ist nicht ohne weiteres klar. Die Erziehung soll wohl auch auf einen vollkommenen politischen Zustand hinwirken.

    Kant plädiert für eine Einheit von Erziehung und Staat:[12] „ (…) man kann die Geschichte der Menschengattung im Großen als die Vollziehung eines verborgenen Planes der Natur ansehen, um eine innerlich- und zu diesem Zwecke auch äußerlich-vollkommene Staatsverfassung zu Stande zu bringen, als den einzigen Zustand, in welchem die Menschengattung alle ihre Anlagen in der Menschheit völlig entwickeln kann.“

    Kant sieht den Zukunftszustand der Menschheit im Lichte eines modifizierten, abgeschwächten älteren teleologischen Begriffes.[13] Von ihm aus gewinnt die Zukunft gelegentlich einen eindeutig positiven Akzent, so dass sich die Qualität der sittlichen Selbstbestimmung vom Einzelmenschen auf einen Zustand der Menschengattung zu übertragen scheint. Kant betont jedoch auch immer wieder, dass sich der positive Menschheitszustand über die Köpfe der Menschen hinweg und trotz ihrer durchaus vorhandenen boshaften Eigenschaften durchsetzen wird. Zugleich hält Kant daran fest, dass einzelne aufgeklärte Menschen an der Vorbereitung einer vollkommeneren Zukunft mitarbeiten müssen. Man kann diese Art des Erziehungsdenkens, die sich bei Kant teleologisch-geschichtsphilosophisch ausnimmt aus einer Perspektive, in der wichtige philosophische Traditionsbestände verloren gegangen sind: In ihm werden Aussagen über die Zukunft der Menschheit qua Gattung Aussagen gemacht. Diese können in einer Gegenwart gewünschte, befürchtete oder in neutraler Einstellung vorhergesagte Regelungen des menschlichen Zusammenlebens betreffen. Die Gesetze, die Kant in seiner Geschichtsphilosophie im Auge hat, sind auch sicherlich eher im Sinne von statistischen Gesetzen der großen Zahl als im Sinne von strengen Natur- und Moralgesetzen zu verstehen.[14]

    Seine Vorstellungen über die Erziehenden lauten folgendermaßen:[15] „Ein Princip der Erziehungskunst, das besonders solche Männer, die Pläne zur Erziehung machen, vor Augen haben sollten, ist: Kinder sollen nicht nur dem gegenwärtigen, sondern dem zukünftig möglich besseren Zustand des menschlichen Geschlechts, das ist: der Idee der Menschheit und deren ganzer Bestimmung angemessen erzogen werden.“

    Seine teleologischen Erziehungsgedanken kommen auch bei dem Verhältnis zwischen Eltern und Kindern bei Kant zum Vorschein:[16] „Eltern erziehen gemeiniglich ihre Kinder nur so, dass sie in die gegenwärtige Welt, sei sie auch verderbt, passen. Sie sollten sie aber besser erziehen, damit ein zukünftig besserer Zustand dadurch hervorgebracht werde. Kant beachtet dabei nicht, dass es wahrscheinlich dabei bleiben wird, dass Eltern vornehmlich auf das individuelle Wohl ihrer Kinder innerhalb vorgegebener Rahmenbedingungen abzielen, die irgendeinem besseren Zustand des Menschengeschlechts im Wege stehen könnten.




[1] Eine ausführliche Diskussion aller Differenzierungen des pädagogischen Denken Kants und seiner Interpretationsmöglichkeiten finden sich bei Weisskopf, T.: Immanuel Kant und die Pädagogik, Zürich 1970, Paderborn 1963, S. 158 ff

[2] Vgl. dazu die Methoden zu einer „Gesamtschau“ von Ballauff, T.: Vernünftiger Wille und gläubige Liebe. Interpretationen zu Kants und Pestalozzis Werk, Meisenheim am Glan 1956 oder Hornstein, H.: Bildsamkeit und Freiheit. Ein Grundproblem des Erziehungsdenken bei Kant und Herbart, Düsseldorf 1959

[3] Kant, I.: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, Berlin 1936, S. 30

[4] Paton, H.J.: Der kategorische Imperativ, Berlin 1962, S. 22

[5] Groothoff, H.H./Reimers, E.(Hrsg.): Ausgewählte Schriften zur Pädagogik Immanuel Kants und ihrer Begründung, Paderborn 1963, S. 444

[6] Kant, Pädagogik, S. 450

[7] Ebd., S. 445

[8] Ebd.

[9] Kant. Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, S. 19

[10] Vgl. dazu Menzer, P.: Kants Lehre von der Entwicklung in Natur in Geschichte, Berlin 1911

[11] Kant, Anthropologie, a.a.O., S. 333

[12] Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, a.a.O., S. 27

[13] Pleines, J.-E. (Hrsg.): Kant und die Pädagogik: Pädagogik und praktische Philosophie, Würzburg 1985, S. 38

[14]Paton, H.J.: Der kategorische Imperativ, Berlin 1962, S. 37

[15] Kant, Pädagogik, a.a.O., S. 447

[16] Ebd.

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