Nationale Trauerarbeit: Liebe Angehörige und Freunde, liebes Deutschland!

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Original-Zynismus von der Internetseite von germanwings

 

Ein Flugzeug der Germanwings stürzt ab, 72 Deutsche sind unter den Opfern,

 

Familienangehörige und Freunde trauern, Kollegen, Nachbarn oder Mitschüler

 

sind geschockt, viele Menschen leiden mit ihnen. Wie immer bei solchen Katastrophen

 

heißt es: Die Nation ist betroffen.

 

 

Die tiefere Bedeutung des Satzes erkennt man daran, dass die politisch Zuständigen für die Geschicke eines Landes immer noch einmal extra ihr Beileid bekunden – gerade nicht privat, sondern als Repräsentanten der Nation. Staatspräsidenten und Regierungschefs, Könige und Prinzenpaare, sind es sich schuldig, öffentliche Worte des Trostes zu sprechen und die Trauernden aufzusuchen, um ihnen persönlich nahe zu sein. Joachim Gauck bedauert sehr, zum Zeitpunkt der Nachricht in Peru zu weilen, ist trotz der Entfernung für seine Landsleute da („Ich bin bei Ihnen mit meinen Gedanken und meinen Gefühlen“) und fliegt sofort zurück. Angela Merkel sagt für den Unglückstag alle Kanzlerinnen-Termine ab. Deutsche Politiker und ihre französische Kollegen geben an der Absturzstelle zu Protokoll, das Gesehene sei „mit Worten nicht zu fassen“.

 

 

 

Diese Gewohnheit, bei Unglücken mit einem größeren Anfall von Toten, vornehmlich der eigenen Nationalität, sich vor Ort um die Hinterbliebenen zu kümmern, ist ein Ritual, dessen Inszeniertheit kein Geheimnis ist: Es gehört zum Berufsbild, sich dem Volk menschlich betroffen zu zeigen. Die Trauer bleibt nicht den Angehörigen alleine überlassen: Sie ist, verkörpert im Defilee der Politprominenz, ein Staatsakt. Warum Politiker das machen, das wird uns dankenswerterweise von der Bildzeitung erläutert. Der hauseigene „Briefe“-Schreiber Franz Josef Wagner, seit Jahrzehnten dafür zuständig, das handfeste patriotische BILDEmpfinden zu gefühliger Poetry zu verarbeiten, schafft das in wenigen Zeilen.

 

 

 

Liebes Deutschland, Fahnen auf Halbmast, Schweigeminuten, Kerzen, die wie Tränen tropfen, Blumen in Bierflaschen, die vielen tröstenden Worte der Offiziellen, die Kanzlerin am Unglücksort. Wir sind ein Land in Trauer. Mit dem Absturz hat sich unser Land verändert. Wir sind zusammengerückt. Wir sind Mitfühlende geworden. In Freud und Leid. Wir sind geschwisterlich geworden. Wir sind uns nähergekommen. Über das Leid der Opferfamilien sind wir uns nähergekommen. Wir Deutschen gehen ja normalerweise unseren Geschäften nach, keiner guckt sich an. Wir gehen aneinander vorbei wie Fremde. Und da ist dieses Unglück. Wir umarmen uns. Wir sind uns alle plötzlich so nah. Wenn es irgendetwas Gutes gibt an dieser Katastrophe, ist es, dass wir uns alle so nah sind. Herzlichst, Ihr F.J.Wagner“.

 

 

 

Die schlichte Aneinanderreihung der offiziellen Symbole nationaler Trauer – Halbmastbeflaggung, Schweigeminuten, Kanzlerbeileid – und der Symbole persönlicher Anteilnahme – Kerzen, Blumen – subsumiert Wagner unter ein großes „Wir“. Er setzt ein Gleichheitszeichen zwischen jede Art von Betroffenheit, wobei das Zusammengezählte disparateste Äußerungen umfasst: tatsächliches Mitleid, offizielle Statements von Politik und Lufthansa, Wichtigtuerei von Promis, sensationshungriges Reporter- und voyeuristisches Publikumsinteresse. Die Reihung ist gewollt. Im Trauern sollen schon alle vereint sein, von der Führungsspitze bis runter zum einfachen Volk, denen unter dem Eindruck des Ereignisses eine Gemeinsamkeit aus „Mitgefühl“ bescheinigt wird. Mit-Gefühl ist Wir-Gefühl, was sonst. Im Umkehrschluss ist die Nation zu einer Gemeinde verschönert, deren Bewohner in jeder Lebenslage wie eine Mannschaft zusammenstehen. So weit, so verlogen. Dabei verschweigt Wagner nicht, dass die Deutschen „normalerweise“ etwas anderes miteinander zu tun haben. Er betont den Kontrast zum Alltagsleben, wo „wir unseren Geschäften nachgehen“, und fällt darüber ein seltsames Urteil. Welcher Art von Geschäft der Einzelne nachgeht, ob man sein Geld als Arbeitnehmer oder als Chef verdient; dass manches Geschäft des einen die Schädigung des anderen einschließt: All das spielt keine Rolle, da Wagner am deutschen Kapitalismus nur eine einzige Abstraktion festhalten will – die Leute kümmern sich „wie Fremde“ bloß um ihre eigenen Angelegenheiten.

 

 

 

So werden alle Gegensätze ökonomischer Benutzung in das verharmlosende Bild vom Nebeneinanderhergehen und Sichnichtangucken gefasst. Der Tugendwächter zwischenmenschlichen Umgangs entdeckt im Treiben der Konkurrenzgesellschaft einen Mangel, der die Beschäftigungen der Deutschen kennzeichnen und dahinter ihr wahres Wesen erkennen lassen soll. In die vermeintlich Fremden hat er längst hineingesteckt, was sie eigentlich sind: Mitbürger – nur dann echt und als Menschen einander „nah“, wenn sie nicht an sich und ihren Nutzen denken. Das Sittenbild gleichgültigen Wurschtelns und egoistischen Gegeneinanders verkündet die frohe Botschaft: Nur im Miteinander der nationalen 1. Person Plural bist Du wirklich Ich, also Wir! Da ist das Fremdwort Nationale Identität doch sehr schön erklärt. „Wir umarmen uns“, als Teil eines starken Teams! In dem jeder – egal, wie er darin vorkommt – aufgehoben und distanzlos, von keiner abwägenden Berechnung angekränkelt, mit sich und allen Mitbürgern identisch ist. Im Licht der Katastrophe sagt der Hofnarr die bittere Wahrheit: Heimat, das ist die kompensatorische Moralität der Konkurrenzgesellschaft. Was da kompensiert wird, geht F.J. nichts an; dass patriotische Trauerarbeit tröstet und zusammenschweißt, findet er aber prima. Jedenfalls kann er dafür locker ein halbes Dutzend funktionalistischer Metaphern aufsagen.

 

 

 

Fazit: Es mag irritieren, dass Wagner von Mitgefühl „in Freud und Leid“ redet. Eine schriftstellerische Entgleisung liegt aber nicht vor. Die öffentliche Dauerberieselung mit Fakten, Bildern und Stimmen zum Flugzeugabsturz ist wohl hinsichtlich der Leistung fürs Gemüt ähnlich einzuschätzen wie ein Public Viewing beim 7:1 über Brasilien – und damit hat der ideelle Gesamtknallkopf der Nation völlig recht. Denkt man an den geistigen Ertrag fürs patriotische Empfinden, ist beides geeignet, den Seelen deutscher Volkskörperchen „irgendetwas Gutes“ zu tun. Das traurige Ereignis ist – genauso wie die eher freudig stimmenden Feste – eine Gelegenheit, die eigene Nation als ein Kollektiv zu feiern, das auf einer natürlichen, zutiefst menschlichen Zusammengehörigkeit beruht. Die Inszenierung der Lüge vom „geschwisterlichen“ Verhältnis ihrer Bürger untereinander sowie von Volk und Führung lassen sich demokratische Politiker nicht nehmen.

 

 

 

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Die SZ greift das Stichwort auf und überführt es in einen retrospektiven Systemvergleich: „FLUG OHNE WIEDERKEHR! Die Hinterbliebenen der Germanwings-Absturzopfer haben bei einer Gedenkfeier im Kölner Dom Abschied genommen. Als 1986 eine Tupolew in der DDR zerschellte, wurde den Angehörigen eine öffentliche Trauerfeier verwehrt. Sie blieben allein mit der quälenden Frage: Warum?“ Schlimme Zeiten! Die Nation ehrt ihre Opfer, die von uns gegangen sind; das wiederum ehrt den Staat, der ihnen den letzten Respekt erweist: Diesen Zirkus hat die DDR unseren Brüdern & Schwestern vorenthalten; dafür wurde sie 4 Jahre später zu Recht BRDigt

Der Artikel ist entnommen aus der kostenlosen Zeitung „Versus“ Nummer 52. Die ganze Ausgabe kann auf www.gegen-kultur.de heruntergeladen werden und für den Portopreis auch bestellt werden (gerne auch in größeren Mengen für Infoläden oder zum selbst verteilen

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