Zum Tode von Günther Grass eine Klarstellung zur ‚moralischen Autorität‘

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Deutschlands moralischer Zeigefinger ist abgefallen - er wird dieser Nation fehlen

„Als Schriftsteller überragte er die Literatur der Bundesrepublik, als streitlustiger Debattierer prägte er das politische Selbstverständnis des Landes. Günter Grass war eine der großen Figuren der jüngeren deutschen Geschichte.“ (1) So nimmt der Spiegel Abschied von der ‚moralischen Großmacht‘ Günter Grass, der wie kaum ein anderer die ‚moralische Autorität‘ der BRD verkörpert hat. Was genau ist aber eine solche Autorität?

Soll der moralische Diskurs einer bürgerlichen Öffentlichkeit ein gedeihlicher sein, muss der schöne Schein des Kapitalismus und der staatlichen Gewalt, die ihn verwaltet, verbindliche Ausdrucksformen finden. Sachbezogene Argumente kommen dafür nicht in Betracht. Es geht ja gerade darum, sich von objektiven Urteilen über das reale Gemeinwesen in Richtung erhebender Gesichtspunkte zu verabschieden, um auf diesen lichten Höhen Meinungen zu bilden und auszutauschen. Also werden Sprachregelungen eingebürgert, in denen die moralische Überhöhung von gegensätzlichen Interessen und politischen Antagonismen zu festen Formeln gerinnt. Das vermittelt dem Bürger Sinn und Orientierung und sorgt dafür, dass die moralische Meinungsvielfalt ihren Konnex zu den politisch definierten Problemen und Zielen der Nation nicht verliert.

Auf diese Weise kommt es zu einem Phänomen, das nur vordergründig betrachtet widersprüchlich erscheint: Die bunte Vielfalt der Meinungen, die in allen Kommentaren und Diskussionen immerzu als ganz persönliche und ureigene vorstellig gemacht werden, reduziert sich regelmäßig auf einige wenige, allgemein bekannte Stereotypen. Dazu gehören z.B. schönfärberische Synonyme wie ‚Antiterrorkrieg‘ für die amerikanisch betriebene Neuordnung der Welt oder ‚Globalisierung‘ für die unwidersprechliche Notwendigkeit einer schonungslosen Standortpolitik. Konkurrierende politische oder gesellschaftliche Interessen und Vorhaben treten immer gleich mit festen moralischen Referenzen auf. Wenn man etwa in Berlin ehrgeiziger, also gewalttätiger in weltpolitischen Ordnungsfragen mitmischen will, heißt es, man könne sich ‚der gewachsenen Verantwortung als potente Mittelmacht nicht länger entziehen‘, muss andererseits jedoch ‚wegen der deutschen Geschichte mit besonderem Bedacht‘ vorgehen. Wird das nationale Lohnniveau gesenkt, um den Geschäftsstandort aufzumöbeln, dient das der ‚Erhaltung unserer Arbeitsplätze‘; andererseits soll sich ‚Leistung weiterhin lohnen‘. Werden die Kosten für Gesundheit privatisiert oder die des Arbeitslosenheeres heruntergefahren, dient das der ‚Gerechtigkeit zwischen den Generationen‘, andererseits muss für den verdienten Arbeitsmann ‚Gesundheit bezahlbar‘ und ein ‚Alter in Würde möglich‘ bleiben. Und so weiter. Kein Interesse, das sich nicht in Form standardisierter Werte-Bezüge vorträgt – und umgekehrt darauf festgelegt ist. Das sorgt dafür, dass kein politischer Streit und noch nicht mal eine triviale Talkshow aus dem Rahmen fallen.

Solche Sprach- und Denkregelungen wollen erfunden und in Umlauf gebracht sein. Das schaffen nur Leute, die nicht bloß das Moralisieren beherrschen – das kann jeder –, sondern damit öffentlich Eindruck machen und dem Moralismus des Gemeinwesens anerkannten Ausdruck verleihen. Dafür gibt es das vielgestaltige Angebot moralischer Autoritäten. Die beglaubigen mit dem Gewicht ihrer gesellschaftlich-politischen Stellung, dem Rang ihres persönlichen Ansehens und mit dem Charme ihrer Persönlichkeit, die sich alle drei aus ihrer schieren Macht und ihrem herausragenden Erfolg in irgendeiner Sparte des öffentlichen Lebens ableiten, die Gültigkeit der Sprachregelungen. So verankern sich die ideologischen Klischees fest im Assoziationsbestand des mündigen Bürgers und sorgen für ein allzeit konstruktives, auf der Höhe ‚der Zeit‘ angesiedeltes, sprich den definierten Problemlagen und Handlungsbedürfnissen der Politik gemäßes Denken und Argumentieren. Umgekehrt dient der Kanon der in Kraft befindlichen Sprachregelungen der Selbstvergewisserung von Leuten, die sich als mündige Mitglieder einer nationalen Gemeinschaft verstehen. Denen verschafft er die Sicherheit, mit ihrer jeweiligen Fasson eines moralischen Weltbildes richtig, d.h. im Spektrum des politisch ‚vernünftigen‘ Denkens zu liegen. Wer sich auf alles einen moralischen, d.h. auf allgemeingültige Werte bezogenen Reim macht, möchte damit auch durch eine allgemeine, d.h. öffentlich anerkannte Billigung dieses Urteils bestätigt werden. Der demokratische Untertan will sich in einer moralischen Autorität wiedererkennen und sich von Zeit zu Zeit sagen können: ‚Endlich sagt es mal einer!‘

Für den Nimbus hoher moralischer Kompetenz sind epische Dichtung produzierende Schöngeister besonders qualifiziert, weil sie ohnehin von Berufs wegen den Weltenlauf als Realisierung oder Verfehlung von hohen Werten hererzählen. Und Grass hat dabei auch noch die Grundvoraussetzung einer Autorität für deutsche Moral erfüllt: Er hat “trotz allem” Deutschland geliebt, wie er in dem gleichnamigen Band “Eintagsfliegen” veröffentlichten Gedicht schreibt. Trotz Waffenexporten, trotz sozialen Auseinanderdriftens und trotz der Tatsache, selber hoch verschuldet andere Länder zum Sparen zu zwingen. „Meiner Liebe gewisses Land,/dem ich verhaftet bin,/notfalls als Splitter im Auge.” (2) Derart affirmative Splitter werden auch und gerade posthum geschätzt.

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(1) http://www.spiegel.de/kultur/literatur/guenter-grass-nachruf-abschied-vo...
(2) http://www.heute.de/literaturnobelpreistraeger-und-blechtrommel-autor-gu...

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