Eine etwas andere Buchbesprechung von Didier Eribon's "Rückkehr nach Reims"

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In der Onlinezeitung TREND erschien in der Oktoberausgabe eine Rezension des Buches von Didier Eribon, das nicht nur breit in der bürgerlichen Presse sondern auch in linken Spektren von der Jungen Welt, über Graswurzelrevolution bis zur Jungle World über alle Maßen gelobt wird. Die TREND Rezension grenzt sich von diesem Beifall deutlich ab und will zeigen, dass es in Eribons Buch für Linke politisch nichts zu lernen gibt.

 

 

„Denn ich war gewissermaßen klassenflüchtig“*
"Rückkehr nach Reims"  von Didier Eribon
besprochen von Karl-Heinz Schubert

 

 

  • Die Arbeiterkultur und »Armutskultur«, die mich belastete und von der ich fürchtete, sie könne auch nach meiner überstürzten Flucht an mir haften. Ich musste den Teufel austreiben, der sich in mir eingenistet hatte, dafür sorgen, dass er meinen Körper verließ. Oder ihn unsichtbar machen, damit niemand seine Gegenwart spürte. Dies sollte sich für Jahre als eine Aufgabe erweisen, mit der ich in jedem einzelnen Moment meines Lebens beschäftigt war.“ Rückkehr nach Reims / S.105
  • „Warum ist »Rückkehr nach Reims« ein Ereignis? Einmal handelt es sich um ein brillant geschriebenes Stück Dokumentarliteratur, wie sie der hiesige Buchmarkt nicht mehr hervorbringt. Vor allem aber, weil Eribon eine beträchtliche Anzahl triftiger Erkenntnisse liefert, die uns wirklich zur Veränderung unserer scheußlich-neoliberalen Gesellschaft befähigen.“ Junge Welt vom 27.8.2016

 

2008 erhält der Soziologieprofessor aus Amiens - Didier Eribon - in den USA den Brudner-Preis für seine Verdienste auf dem Gebiet der Lesbian, Gay, Bisexual, and Transgender Studies (LGBTS). Eribon nimmt dies zum Anlass, um in seiner Dankesrede dem geneigten Publikum seine Vita als bekennender Schwuler, der aus dem Arbeitermileu in die Mittelschicht zum Hochschullehrer aufgestiegen ist, vorzustellen. Bereits zuvor hatte er mit dem Gedanken gespielt, seine Selfmademan-Story literarisch zu vermarkten. Nun begann er wie ein "Bessener" daran zu arbeiten.

2009 erscheint seine Autobiografie unter dem Titel "Rückkehr nach Reims", bleibt aber im deutschsprachigen Raum ziemlich unentdeckt. Das sollte sich im Mai 2016 ändern, als der Suhrkamp-Verlag eine deutsche Übersetzung auf den Markt bringt. Bereits im Juli gehört sie beim NDR zu den Sachbüchern des Monats. Und stellvertretend für das bürgerliche Feuilleton gerät der Spiegel ins Schwärmen darüber, wie es Eribon gelingt, mit seinem Buch eine "neue Lesart von Linkssein" zu entwickeln. Dieses Prädikat verlängert sich wie ein Selbstläufer bis ins linke Spektrum.

Mit "Rückkehr nach Reims" bedient sich Eribon des bekannten Plots des Entwicklungsromans, worin er sich als "lonesome hero" inszeniert:

"Die Trennwände, mit denen ich mein Selbst gebaut hatte, ließen sich nur sehr langsam dekonstruieren." (S. 50f).

 

Entlang dieses Plots werden seine Leser*innen 240 Seiten lang durch seine eigentümlichen Einsichten über Identität und Strukturen belehrt, die häufig als Zirkelschlüsse oder Tautologien daherkommen.

"Transformationsprozesse des Selbst, Momente der Konstitution und Zurückweisung der eigenen Identität waren für mich schon immer mit Prozessen sozialer Zugehörigkeit verbunden. Beide sind ineinander verschachtelt, bedingen, begrenzen und bekämpfen einander." (S.89)

 

Und durch die Einbindung literarischer Produkte von James Baldwin, Annie Ernaux, John Edgar Wideman und Raymond Williams versucht Eribon, die Bedeutsamkeit seines Aufstiegs in die lehrende Bedienstetenklasse der Bourgeoisie mit entsprechender Contenance noch ein wenig aufzuwerten.

Sein Buch folgt dem bekannten Spannungsbogen der Fünfteilung, um zwischendurch im 3. Kapitel den erzählerischen Fluß seiner "Klassenflucht"  zu bremsen und um politisch Grundsätzliches loszuwerden. Gleichsam als Vorbereitung darauf gewähren Kapitel 1 und 2 den Leser*innen  einen Blick in das soziale Milieu und die Klassenlage von Eribons Familie, wo "die Gesetze der sozialen Endogamie" (S.73) herrschen. Hier erfahren sie auch, warum Arbeiter*innen durchs Wählen zur politischen Klasse werden:

"In dieser Selbstdelegation an die Wortführer, durch deren Vermittlung die Arbeiter als konstituierte Gruppe und selbstbewusste »Klasse« existierten, vollzog sich die Selbstkonstitution als politisches Subjekt. Die Werte und Haltungen, an die man glaubte und an denen man sich orientierte, waren maßgeblich von der Weltanschauung geformt, welche »die Partei« im Bewusstsein zu verankern und im sozialen Körper zu verbreiten suchte. Die Wahl war also ein wichtiger Moment der kollektiven Selbstaffirmation, man versicherte sich des eigenen politischen Gewichts." (S.37)

 

Indem Eribon die Arbeiter*innen wie eine Ethnie behandelt, schafft er sich für das 3. Kapitel eine Argumentationsfigur, die ihn behaupten lässt, dass die Wahl der Front National durch  Arbeiter*innen "als eine Art politische Notwehr" (S.124) anzusehen sei, die ihrem  "tiefsitzenden Rassismus" (S.133) eine neue politische Orientierung gibt und ihrer "Lebensrealität wieder eine Sinn verleiht" (S.122). Um diese Notwehrthese plausibel zu machen, konstruiert er die Legende von der linken Mitterand-Regierung, die sich angeblich nach 1981 einer "Metamorphose des Ethos und der intellektuellen Koordinaten" (S.120) unterzog und "fortan nicht mehr die Sprache der Regierten, sondern der Regierenden" (S.121) sprach.

Der Suhrkamp-Verlag hatte ein gutes Gespür für Umsätze, als er sich entschied, angesichts der Wahlerfolge der AfD und der Ausbreitung der Pegida-Bewegung über die gesamte BRD, Eribons Rückkehr-Buch in deutscher Übersetzung 2016 auf den Markt zu bringen. Die Rezensent*innen stürzten sich förmlich auf jene Buchpassagen, wo Eribon in einer als links geltenden Mischung aus Strukturalismus, Sprach- und Kulturtheorie sowie Marxismen und Geschlechterforschung, rassistisches Wahlverhalten von "Unterprivilegierten" als sogenannte Verschränkung von Ungleichheit generierender Strukturen ausdeutet. Dass Eribon in diesem Zusammenhang seinem Antikommunismus freien Lauf lässt, störte hingegen nicht einmal die Junge Welt. Obwohl Eribon freimütig gegen "jene Autoren", die eine "Rückkehr zum Marxismus" propagieren, polemisiert:

"Und ich fürchte, dass sich manche Intellektuelle, die noch immer auf das »spontane Wissen« der volkstümlichen Klassen setzen, auf bittere Enttäuschungen und die krachende Widerlegung ihrer Thesen einstellen müssen. (Was sie damit eigentlich demonstrieren, ist eine bestimmte Art des Klassenethnozentrismus: Sie projizieren ihre eigene Denkweise auf die, deren Stimme zu hören und in deren Namen zu sprechen sie vorgeben - und zwar umso enthusiastischer, als sie Angehörigen dieser Klassen noch nie begegnet sind, außer vielleicht in Texten aus dem 19. Jahrhundert.)" (S.142)

 

und weiter:

"Aus diesem Grund ist eine Philosophie der »Demokratie«, die sich (so radikal ihre Vertreter sich auch geben mögen) damit begnügt, die grundsätzliche »Gleichheit« aller Menschen zu feiern und immer wieder zu betonen, dass alle Individuen über die gleichen »Kompetenzen« verfügen, letztlich alles andere als emanzipatorisch." (S.143)

 

Die politischen Schlußfolgerungen, die Eribon für die Linke daraus zieht und die von der Jungen Welt als "triftiger Erkenntnisse" gefeiert werden, sind alles andere als originell:

"Zunächst einmal müssen wir zu verstehen versuchen, wie und warum es dazu kommt, dass die populären Klassen aus ihren Lebensumständen manchmal den Schluss ziehen, dass sie notwendigerweise der politischen Linken angehören, und manchmal, dass sie selbstverständlich zur politischen Rechten gehören....Die Parteien spielen dabei eine wichtige, fundamentale Rolle, denn jene, die keine Stimme haben, können nur sprechen, wenn sie von jemandem vertreten werden, wenn jemand für sie, in ihrem Namen und in ihrem Interesse, spricht. Die Rolle der Parteien ist auch deshalb fundamental, weil es die organisierten Diskurse sind, die die Wahrnehmungskategorien, die Wege, sich selbst als politisches Subjekt zu denken, und auch die Begriffe, die man sich von seinen »Eigeninteressen« und wahltaktischen Optionen macht, hervorbringen."(S. 145)

 

Dieses paternalistische Geschwurbel mündet in einer Elitentheorie, deren Ergebnis lautet, dass Eribon & Co. - also die bezahlten Ideolog*innen der bürgerlichen Klasse -  gehalten sind, auf  linke Parteien einzuwirken, um

"...einen theoretischen Rahmen und eine politische Sichtweise auf die Realität zu konstruieren, die es erlauben, jene negativen Leidenschaften, die in der Gesellschaft insgesamt und insbesondere in den populären Klassen zirkulieren, zwar nicht auszumerzen - denn das wäre unmöglich -, aber doch weitgehend zu neutralisieren; Theorien und Sichtweisen, die neue Perspektiven erschließen und der Linken einen Weg in die Zukunft weisen, in der sie ihren Namen wieder verdient." (S.146f)

 

In den nachfolgenden beiden Kapiteln erfahren die Leser*innen, dass durch die sexuelle Orientierung Eribons Ausscheiden aus dem Reimser Arbeiter*innenmilieu gleichsam unausweichlich ist und wie er sich dabei als schwuler Intellektueller "neu erfinden" musste.

"Ich wurde von zwei sozialen Verdikten gebrandmarkt, einem sozialen und einem sexuellen. Solchen Urteilen entkommt man nicht. Diese beiden Einschreibungen trage ich in mir. Als sie in einem bestimmten Moment meines Lebens miteinander in Konflikt traten, musste ich, um mich selbst zu formen, die eine gegen die andere ausspielen." (S. 219)

 

Die in den Kapiteln 1, 2 und 3 vorgetragenen Ansichten über Menschen im Besonderen und Strukturen im Allgemeinen - bzw. umgekehrt - werden wiederholt eingeflochten, sodass im 4. und 5. Kapitel eine gewisse Redundanz entsteht. In diesem Kontext werden Autor*innen erwähnt, die Eribon ideologisch formten und deren Lehrmeinungen offensichtlich in popularisierter Form zur Unterweisung der Leser*innen seines Buches dienen:

Jean-Paul Sartre, Maurice Merleau-Ponty, Karel Kosik, der frühe(!) Georg Lukacs, Karl Korsch, Lucien Goldmann (S.176), Friedrich Nietzsche, Arthur Schopenhauer (S.181), Edmund Husserl, Martin Heidegger (S.183) Platon, René Descartes, Immanuel Kant, Baruch de Spinoza, Georg-Wilhelm Hegel (S.185),  Gottfried W. Leibniz (S.186) - indirekt genannt werden: Claude Lévi-Strauss, Georges Dumézil, Fernand Paul Braudel, Émile Benveniste, Jacques Lacan, Louis Althusser, Michel Foucault, Jacques Derrida, Gilles Deleuze, Roland Barthes (S.179).

 

Autor*innen, die dem dialektischen und historischen Materialismus zugerechnet werden, fehlen hingegen fast gänzlich.

Zählt mensch noch die Aneignung einiger marxistischer Grundbegriffe dazu, als Eribon in seiner Oberschülerzeit in einer trotzkistischen Jugendorganisation mitmachte, (S.79-82), dann haben wir es heute bei  Eribon mit einem sich als links inszenierenden Vertreter des sozialwissenschaftlichen Mainstreams an den bürgerlichen Lehrstätten (nicht nur in Frankreich) zu tun.

Wie jedoch dem Epilog des Rückkehr-Buches zu entnehmen ist, war es nicht so einfach, ohne den sogenannten wissenschaftlichen Nachweis durch eine Promotion eine Professorenstelle zu ergattern. So arbeitete Eribon zunächst als Feuilleton-Journalist kurze Zeit bei der "Liberation" und dann viele Jahre bei der Wochenzeitung "Nouvel Observateur", die als Claqueur der sozialistischen Partei fungierte.

Am Ende des Buches erfahren die Leser*innen in aller Kürze, nicht nur dass Eribon zum Professor an die Universität von Amiens berufen wurde, sondern auch was es mit dem Titel des Buches auf sich hat. Eribon referiert dazu die Überlegungen des Raymond Williams beim Versuch, angesichts des nahenden Todes seines Vaters,  nach Jahrzehnten an seinen Heimatort zurückzukehren. Das gelingt Williams nicht und er umschreibt diesen gescheiterten Versuch mit der Formulierung "Durchmessen einer Distanz". Eribons physische Rückkehr findet ebenso wie die von Williams  nicht statt. Sie ist ganz offensichtlich rein gedanklicher Natur -   abgesehen von den Besuchen bei der Mutter, wo er sich den narrativen Füllstoff für die Verbreitung seiner eigentümlichen sozialen Theorien besorgt.

Im Übrigen weisen seine theoretischen Bemühungen, wenn sie sich der Wirklichkeit der französischen Gesellschaft widmen, eine Reihe blinder Flecken auf:

  • So kommt Eribons Schilderung der französischen Gesellschaft und ihrer Strukturen  ganz ohne die Behandlung des Grundwiderspruchs von Lohnarbeit und Kapital aus. Sein "linkes" Politikangebot  beinhaltet folglich nicht einmal die Forderung nach einer gerechteren Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums.
  • Stattdessen wird der Rassismus zu einem bestimmenden Strukturelement dieser gesellschaftlich Verhältnisse erklärt, ohne dass ein Zusammenhang zwischen Rassismus, Kapitalismus und Imperialismus nur in Erwägung gezogen wird. Auch die Besonderheit, dass gerade in der Zeit, als er sein Buch verfasst, der Antisemitismus in Frankreich zusehends anschwillt, ist ihm keine Zeile wert. [Siehe dazu in unserer Zeitung die einschlägigen Berichte von Bernard Schmid.]
  • Die neoliberale Wende der Sozialistischen Partei und der Attraktivitätsverlust kommunistischer Politik werden als ein gemeinsames und nur innenpolitisches Phänomen behandelt, anstatt den internationalen Kontext zu bestimmen, der diese Entwicklung hervortrieb. Hätte Eribon über den Tellerrand der französischen Verhältnisse hinausgeblickt, dann wäre ihm aufgefallen, dass die Legitimationsverluste linker Politik unmittelbar mit der Implosion der realsozialistischen Staaten und ihrem nachholenden Kapitalismus zusammenhängen.

 

Fazit: Würde mensch aus der Perspektive der BRD-Parteienlandschaft dem Eribon mit Bezugnahme auf sein Rückkehr-Buch ein politisches Etikett verpassen, dann wäre er irgendwo zwischen  SPD und Grünen anzusiedeln. Für Linke kann es deshalb nur heißen: Eribon - nein danke!

*) Rückkehr nach Reims / S. 23

 

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