Gefangen auf einer Insel – Eindrücke aus Lesbos

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Gefangen auf einer Insel – Eindrücke aus Lesbos

 

Ahsan (Name geändert) sitzt mit ernster Miene auf einer Bank am Strand der griechischen Insel Lesbos. Unter einem Sonnensegel des „No Border Social Centers“ macht er eine Pause und trinkt einen Tee, bevor er wieder in das Flüchtlingslager Moria zurücklaufen muss. Der vierzigjährige Pakistaner kommt von einem Arztbesuch in der nächstgelegenen Stadt Mytilene und trägt eine Tüte voller Schlafmittel und Psychopharmaka bei sich.

Vor uns liegt das Meer und die türkische Küste ist in Sichtweite. Ein idyllisches Bild, wäre da nicht das Kriegsschiff der Grenzschutzorganisation Frontex, das gerade an der Küste patroulliert. Auch die griechische Küstenwache ist unterwegs, nur die türkische Flotte und das von der deutschen Bundeswehr bemannte NATO-Schiff, das Tag und Nacht die griechisch-türkische Seegrenze abfährt, sind von hier aus nicht zu sehen. Ahsan ist wie so viele andere in einem labilen Schlauchboot über das Meer gekommen. Dabei hat er Glück gehabt, denn er ist nicht gekentert und wurde erst von der Küstenwache entdeckt, als er es weit genug in griechische Gewässer geschafft hatte, sodass sein Boot nicht zurückgedrängt werden konnte. Seit drei Monaten wartet er nun im Flüchtlingslager Moria darauf, dass sein Asylantrag bearbeitet wird. Wie lange es noch dauert und was danach passieren wird kann niemand sagen. Inzwischen muss er nicht mehr im abgeriegelten inneren Sicherheitstrakt des Camps leben und darf es wenigstens tagsüber verlassen. Doch seine Chancen auf Asyl stehen aufgrund seiner pakistanischen Herkunft sehr schlecht.

Hinter uns liegt eine Fabrik und kurz davor ein altes Gebäude, das seit Jahren leer stand. Eine Gruppe von ungefähr zwanzig No Border Aktivist_innen haben es wochenlang hergerichtet und in ein buntes und einladendes Social Center verwandelt. Sie kommen aus verschiedenen Ländern Europas und Amerikas, großteils jedoch aus Deutschland, und einige von ihnen sind selbst Geflüchtete aus arabischen Ländern. Sie alle teilen die Vision einer Welt ohne Grenzen, in der sich jeder Mensch unabhängig von Herkunft, Hautfarbe und Geschlecht frei bewegen darf. Das bunte „Welcome“-Schild am Eingang ist in verschiedene Sprachen übersetzt. An der Wand hängt ein großes Transparent mit der Aufschrift „For Humanity against Borders“ und daneben der Schriftzug „You can't evict a movement“.

 

 

            .Only local images are allowed.

            Das Social Center kurz vor der Eröffnung

 

Das Social Center war ein Ort der Begegnung und des Austauschs, ausgestattet mit einem Café, einem extra abgegrenzten Bereich für Frauen, Räumen für Sprachunterricht und Spielräumen für Kinder. In den Spielbereichen hängen ihre Bilder an den Wänden. Auf einigen sind Menschen in  Schlauchbooten dargestellt, auf anderen Alltagsszenen aus Flüchtlingslagern. Einmal pro Tag wird neben Kaffee und Tee auch Essen und Kleidung ausgegeben.

Doch schon vier Tage nach der Eröffnung des Centers begann der Traum einer dauerhaften hierarchiefreien Begegnungsstätte zu platzen. Die Polizei erschien mehrfach und versuchte, das Gebäude zu schließen. Einige der Aktivist_innen harrten mehrere Nächte auf dem Dach aus und widersetzten sich der Räumung. Die von der Polizei versiegelte Tür wurde wieder geöffnet, und sie machten weiter wie zuvor. „Die Menschen brauchen diesen Ort, wir fühlen uns alle so wohl hier“, erklärt eine junge Frau. Sie hatte zahlreiche Postkarten gesammelt, auf denen von geflüchteten Menschen aufgeschrieben wurde, warum das Social Center bleiben sollte. Die Postkarten waren für die Alpha Bank gedacht, der das Grundstück gehört und mit der die Aktivist_innen einen Kauf- oder Mietvertrag aushandeln wollten. Doch die Bank sperrte sich und die Karten landeten unbesehen im Müll.

Als die Polizei schließlich mit Festahmen drohte, entschieden sich die Aktivist_innen das Gebäude zumindest zeitweise für die Öffentlichkeit zu verschließen. So weit wie es möglich war, wurden die Angebote des Social Centers in ein provisorisches Zeltlager an den Strand verlegt. Denn die Bilder von den gewaltsamen Räumungen der von Aktivist_innen besetzten Häuser in Thessaloniki auf dem griechischen Festland waren noch lebhaft in den Köpfen. Die drei ehemals leerstehenden Häuser hatten vielen Geflüchteten Menschen und gerade Familien ein neues Zuhause geboten, bis sie vor kurzem von einem bewaffneten Sondereinsatzkommando der Polizei gestürmt worden waren – für die zum Teil kriegstraumatisierten Bewohner_innen ein Schock. Dazu kamen die Verurteilungen einiger der Aktivist_innen zu mehreren Monaten Bewährungsstrafe und Schadensersatzzahlungen im fünfstelligen Bereich.  Inzwischen ist selbst das Zeltlager am öffentlichen Strand von Lesbos von einer Räumung bedroht und die Polizei hat ein Ultimatum zur freiwilligen Auflösung des Lagers gestellt.

 

 

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                                     „Du kannst nicht in Moria leben. Nicht mal Tiere können so leben.“

  

Ashan schaut auf das Meer hinaus und fängt stockend und in gebrochenem Englisch an zu erzählen.

Er berichtet von den menschenunwürdigen Zuständen im Flüchtlingslager Moria: „Du kannst dort nicht leben, es ist unmöglich. Nicht mal Tiere könnten so leben. Ich bin seit drei Monaten dort. Komm vorbei, du würdest es keine drei Tage aushalten.“ Auf einem Handy zeigt er Fotos von seinem Wohnort: ein kleines Zelt direkt neben völlig verdreckten sanitären Anlagen und einem hohen Stacheldrahtzaun, der das Gelände wie ein Gefängnis umgibt. Von den vielen wütenden Protesten und internen Auseinandersetzungen der Eingeschlossenen hat er Videos gemacht.

Dann folgt der Schock. Er reicht mir sein Handy und wendet sich ab. „Hier, sieh dir das an. Ich kann es nicht anschauen.“ Auf dem Foto liegen eine junge Frau und ein kleines Mädchen blutüberströmt auf dem Boden. Seine Frau und seine Tochter. Sie sind tot, ermordet von Taliban, weil sich Ahsan entschied, zum Christentum zu konvertieren. Auch er wurde schwer verletzt und floh zusammen mit seinem Vater in die Türkei, wo dieser von türkischen Grenzsoldaten erschossen wurde. Nun ist Ashad ganz alleine.

„Ich bin immer wieder tagelang ins Koma gefallen. Gestern bin ich aufgewacht und heute zum Arzt gegangen“, sagt er. „Ich bin froh, dass ich diesen Ort hier auf dem Weg gefunden habe. Moria ist überfüllt, aber ich bin ganz alleine. Es gefällt mir, dass die Menschen hier lachen. Und dass ich reden kann. In Moria kann ich mit niemandem reden. Wenn ich in Moria an zu Hause denke, nehme ich diese Tabletten. Dann schlafe ich.“

 

     „Der EU-Türkei-Deal wurde in vielen Fällen von einer griechischen Berufungsinstanz ausgesetzt.   

     Die Griechen wissen, dass der Tag kommt, wo dafür jemand für Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt werden würde.“

 

Am Nachmittag ankert ein Frontex-Schiff vor der Küste. „Sie erwarten einen größeren Andrang an Menschen, jetzt, wo Erdoğan die Türkei in eine Diktatur geführt hat. Vielleicht halten sie uns auch für Schmuggler, dann müssen wir bald mit Polizeibesuch rechnen“, erklärt eine der freiwilligen Seenotretterinnen, die seit mehreren Monaten auf Lesvos arbeitet und schon zahllose Flüchtlingsboote entgegengenommen hat. Ich frage sie, ob noch Menschen in die Türkei abgeschoben werden und sie erklärt: „Der EU-Türkei-Deal wurde in vielen Fällen von einer griechischen Berufungsinstanz ausgesetzt. Die Gerichte wollen ihn nicht mittragen, denn sie wissen, dass der Tag kommt, wo dafür jemand für Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt werden würde. Es ist bekannt, dass die meisten der rückgeführten Menschen in der Türkei inhaftiert werden, bis sie sich zur sogenannten freiwilligen Ausreise bereit erklären und damit wieder in Krisengebiete abgeschoben werden können.“

 

Schon wenige Tage später muss ich die Insel verlassen. Bevor ich auf die Fähre steige, treffe ich eine Gruppe junger Männer aus dem Kongo und Äthiopien in Mytilene. Sie lachen mir zu und begrüßen mich freudig. „My friend, where are you going?“ ruft mir einer von ihnen zu. Ich zögere und zeige dann wortlos auf die Fähre nach Athen. „Already now?“ Bedrückt nicken sie und sagen auf Wiedersehen. „I hope to see you in Germany!“, sagt einer von ihnen und wir wissen beide, dass dies wohl nicht so schnell, wenn überhaupt passieren wird.

 

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