Rostock: 1. Mai - Die Nazis haben verloren

Kombinat Fortschritt 03.05.2014 20:25 Themen: Antifa
Ganz wie erwartet verlief der 1. Mai in Rostock nicht. Wirklich erfolgreiche Blockaden gegen Naziaufmärsche hatte es in Rostock bisher kaum gegeben. Doch die bis zu 2000 Menschen, die an diesem 1. Mai gegen die NPD auf die Straße gegangen waren, haben den Neonazis eine empfindliche Niederlage beigebracht. Dabei war es ihnen alles andere als leicht gemacht worden. Im Vorfeld war die ohnehin nur kurzfristig bekannt gewordene Route des Naziaufmarsches in ein anderes Stadtviertel, mit weniger Gegenkundgebungen, verlegt und fast sämtliche Gegenveranstaltungen praktisch verboten worden.

Doch davon ließ sich niemand abschrecken. Mit einer Fahrraddemo und zwei Treffpunkten für Anreisende per S-Bahn begannen sich die DemonstrantInnen aus ganz Mecklenburg-Vorpommern, Hamburg und Schleswig-Holstein am späten Vormittag in den Nordwesten, Richtung Groß Klein zu bewegen. Die NPD hatte die Demo nur wenige Tage zuvor in den Stadtteil verlegt. Der Grund waren offenbar die zahlreichen Gegenveranstaltungen, die in Dierkow und Toitenwinkel, dem ursprünglich geplanten Aufmarschgebiet, angemeldet worden waren. Darüber, wer die Verlegung nun initiierte, ob die NPD selbst oder die Polizei, gibt es verschiedene Angaben. Vollständig wird sich diese Frage kaum mehr aufklären lassen.

Die Fahrraddemo erreichte ihren Zielort, den S-Bahnhaltepunkt Lütten Klein, und die RadlerInnen schloßen ihre Räder zu einer Blockade zusammen. Kurz danach trafen mit zwei S-Bahnen viele hundert DemonstrantInnen am Haltepunkt Lichtenhagen ein, und begaben sich zum Startpunkt einer antifaschistischen Demonstration auf die Groß Kleiner Seite. Die Demonstration, angemeldet von der IG Metall Jugend, war erst in der Nacht zuvor vom Oberverwaltungsgericht (OVG) als einzige Protestveranstaltung in Groß Klein erlaubt worden. Stadtverwaltung und Polizei hatten nach Kräften versucht, jeden Gegenprotest in Groß Klein faktisch zu verbieten. Als sich auch überregional und in den sozialen Netzwerken Empörung begann breit zumachen, versuchte man in der Stadtverwaltung zurück zu rudern, in dem man darauf bestand, dass keine Veranstaltung verboten, sondern sie lediglich beauflagt worden seien. Die beiden Bündnisse „Rostock Nazifrei“ und „Nazis stoppen!“ machten jedoch von Anfang an klar, dass Auflagen, die jeden Protest im Stadtteil verhindern, Verboten gleichkämen und riefen bis zuletzt zu einer Anreise nach Groß Klein auf.

Während sich die geplante Demonstration vom Lichtenhägener Haltepunkt nicht in Bewegung setzen will, sondern lieber vor dem Ausgang des S-Bahnhofes Platz nimmt, zünden Unbekannte auf der S-Bahnstrecke mehrere mit Holzstämmen beladene Güterwaggons an. Für die Löscharbeiten wird zeitweilig der Bahnverkehr eingestellt. Abgesehen von den hunderten BlockiererInnen auf dem Anreiseweg der Nazis, gibt es damit für sie zeitweilig auch keine Möglichkeit mehr, ihren Antreteplatz in Groß Klein zu erreichen. Doch dass die überhaupt nach Groß Klein kommen wollten, daran gibt es Zweifel. Beobachter die im Stadtteil unterwegs waren berichteten, dass sich entlang der möglichen Demostrecke – die bis zuletzt geheim gehalten wurde – eine Vielzahl Baustellen, zum Teil mit Kleinpflastersteinen, befand. Es wäre nicht die erste Demonstration gewesen, die von der Polizei mit Verweis auf die vielfältigen Gefahrenquellen am Rand verlegt wird. Hinzu gesellt sich das recht schmale Polizeiaufgebot am Bahnhof Lichtenhagen. Man konnte den Eindruck gewinnen, dass es niemals geplant war, die Neonazis hier entlang zu führen. Beweisen lassen wird sich dies freilich nicht.

Den Neonazis wird derweil nach Verhandlungen mit der Polizei eine Ausweichstrecke in Dierkow angeboten. Während die nun mit Straßenbahnen in den Nordosten gebracht werden, kommt hektische Betriebsamkeit in die AntifaschistInnen in Groß Klein. Alles macht sich auf den Weg zurück in die Innenstadt, um von dort nach Dierkow zu gelangen. Hier zeigt sich der Mobilitätsvorteil der Critical Mass – die FahrradfahrerInnen sind deutlich schneller wieder in der Stadt als die übrigen DemonstrantInnen und können sogar noch mit einer spontanen Materialblockade – aus zusammengeschlossenen Fahrrädern - die Straßenbahn mit den Neonazis stoppen. Die Polizei geht mit roher Gewalt gegen sie vor, Wasserwerfer und Räumpanzer fahren auf. Als auch der Rest der Menschen aus Groß Klein in der Stadt eintrifft, sind die Neonazis bereits in Dierkow und alle Brücken über die Warnow von der Polizei abgesperrt. Auf normalem Wege gibt es kein Hineinkommen mehr. Eine angemeldete Demonstration des Migrantenrates wird so lange mit vermeintlichem Kompetenzgerangel unter den einzelnen Einsatzleitern hingehalten, bis sich die Nazis bereits wieder auf dem Rückweg befinden. Nun plötzlich soll die Demonstration nach dem Willen der Polizei ganz zügig losgehen. Lust haben die TeilnehmerInnen jedoch nicht mehr, denn nun hat sich die Polizei selbst ein Bein gestellt: Die zwischenzeitlich zur Dauerkundgebung gewordene Veranstaltung mit etwa 600 Menschen blockiert einen der beiden möglichen Rückwege der Nazis. Die zweite große Verkehrsachse in Richtung Innenstadt, über den Mühlendamm, muss als einzige Ersatzstrecke für den gesamten nach Rostock einfahrenden PKW und LKW-Verkehr herhalten und wird überdies immer wieder von kleineren, aber an dieser Stelle extrem effizienten, Blockaden dicht gemacht. Der aufgestaute Verkehr verkompliziert die Einsatzlage zusätzlich. Es scheint als gäbe es für die Nazis keinen freien Weg mehr in Richtung Innenstadt. Der Twitter des Antifa-Bündnisses schlägt vor: "#1mHRO 1639 Die Nazis könnten natürlich noch in die Warnow gehen...". Die BlockiererInnen am Mühlendamm werden immer wieder geräumt, gekesselt, abgefilmt und müssen Personalien abgeben. Trotzdem, der Stau bleibt und legt Rostock lahm.

Die Neonazis werden unterdessen immer ungehaltener. Wolfram Nahrath, der frühere Bundesführer der verbotenen Wiking Jugend und Aktivist der ebenfalls verbotenen Heimattreuen Deutschen Jugend, hält eine Rede, die selbst PolizistInnen die Tränen in die Augen treibt. Auf Twitter wird ein Polizeisanitäter sinngemäß zitiert, dass man dem Nahrath ja helfen könne, man habe ja schließlich 9mm. Aber man dürfe ja nicht.

Als um 17.21 Uhr über den Ticker die Nachricht kommt, dass Anmelder Petereit den Naziaufmarsch mitten auf der Rövershäger Chaussee abgebrochen und für aufgelöst erklärt hat, sind einige Aktivist_innen schon seit über 10 Stunden auf den Beinen.

In der Folge der überraschenden Auflösung zeigt sich bei der Einsatzleitung der Polizei eine strukturelle Schwäche angemessen auf die neue hochdynamische Situation zu reagieren. Als der hierarchische Apparat mit seinen langen Befehlsketten reagiert, haben Nazis schon die Polizeiketten durchflossen und Gegendemonstrant_innen bedroht. Der Antifa-Ticker mahnt: „Kurz jubeln & dann wieder volle Konzentration! Die Nazis sind noch da & müssen da weg. Achtet jetzt aufeinander, bleibt in Bezugsgruppen!“ Journalisten und Landtagsabgeordnete, die den Naziaufmarsch direkt begleitet haben, melden über Twitter, dass sich immer wieder Kleingruppen von Nazis absetzen.

Angesichts des Vorgeschehens der letzten Tage ist zu diesem Zeitpunkt das Unwahrscheinliche doch geglückt, die Neonazis sind in Rostock gestoppt und zur Aufgabe gezwungen worden und dass obwohl der Aufmarsch kurzfristig vom Nordwesten in einen völlig anderen Teil der Stadt verlegt wurde. Das notorische Raumtrennungskonzept der Rostocker Polizeiführung und der Versammlungsbehörde wurde durch demokratischen Druck von unten massiv in Frage gestellt.

Doch ab 17.30 bricht am 1. Mai auch allmählich die Mobilisierungs- und Durchsetzungsfähigkeit Stück für Stück weg. Bei der Abreise der Nazis kommt es noch mehrfach zu unübersichtlichen Situationen. Die Drohung von neuen Spontandemos durch die Neonazis steht immer wieder im Raum. Dieser Abschluss des Tages bleibt denn auch einer der kritischen Aspekte: Es ist erst vorbei, wenn es vorbei ist! Am Hauptbahnhof dauerte es noch Stunden bis die letzten Nazis die Stadt verlassen hatten. Zeitgleich waren Genoss_innen aus Hamburg und Greifswald am Bahnhof und mussten zum Teil mit den Nazis in einem Zug fahren. Gerade vor dem Hintergrund der Attacken der NPD unter Aufsicht der Parteiführer am Bahnhof Pölchow sollte klar sein, dass auch abends am Bahnhof der Druck aufrecht erhalten werden muss, damit es nicht zu Gelegenheitstaten durch frustrierte Nazis kommen kann.

Die Blockaden; der Protest an den Nazis in Hör- und Sehweite; die breite Mobilisierung; das solidarische Zusammenarbeiten vieler, zum Teil sehr unterschiedlicher Akteure; das Einsetzen neuer Aktionsformen wie der Critical Mass – all dies sind großartige Aspekte des Tages. Die Nazis haben am 1. Mai in Rostock verloren. Aber wir sollten alle bis zum Schluss aufmerksam sein, bis die letzten Nazis die Stadt wieder verlassen haben.

Fazit des Ermittlungsausschusses

Nach Kenntnis des Ermittlungsausschuss (EA) gab es zwei Ingewahrsamnahmen. Hinzu kommen eine Vielzahl an Personalienfeststellungen und das Videografieren von GegendemonstrantInnen. Solltet ihr Post von Polizei oder Staatsanwaltschaft erhalten, wendet euch an die Rote Hilfe Rostock (auch ohne PGP verschlüsselt möglich), oder eure lokale Ortsgruppe der Roten Hilfe. Dort findet ihr Beratung, Unterstützung und wenn es notwendig wird, werden euch AnwältInnen vermittelt.

Übergriffe durch Nazis und PolizistInnen

Während der Anreise der Neonazis kam es in der Nähe des Hauptbahnhofes zu einem versuchten Übergriff auf einen Lautsprecherwagen des DGB. Aus einem Großraumtaxi sprangen etwa sieben mit Knüppeln bewaffnete Neonazis. Unter ihnen konnte der Rostocker JN-Aktivist Thomas Nowak identifiziert werden.

Die Rote Hilfe Greifswald teilte in einer Pressemitteilung mit, dass es während der Abreise am Hauptbahnhof zu Übergriffen von BundespolizistInnen auf die Greifswalder Reisegruppe gekommen sei. Dabei wurden den Angaben zufolge mehrere Menschen verletzt. Auch nach Aufforderung hätten die BeamtInnen ihre Dienstnummern nicht genannt, wozu sie jedoch verpflichtet sind. Als Konsequenz forderte Sprecherin Susanne Ernst die individuelle Kennzeichnungspflicht für PolizistInnen: „Leider ist ein juristisches Vorgehen der Betroffenen, insbesondere der Verletzten, aufgrund der Anonymität der Uniformierten nahezu unmöglich. Eine individuelle Kennzeichnungspflicht der BeamtInnen, wie sie in anderen europäischen Staaten längst üblich ist, ist überfällig und würde den einen oder anderen gewaltaffinen Behelmten vielleicht daran hindern, zuzuschlagen.“

Alle Fotos: H. Schlechtenberg, alle Rechte vorbehalten.

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Ergänzungen

Nach Rostock ist Demmin dran

Antifaschistische Traumatherapie 04.05.2014 - 00:55
Nachdem die Nazis in Rostock so gut blockiert werden konnten, ist jetzt Demmin dran. Viele Nazis werden wohl den 8. Mai in Demmin nutzen, um den 1. Mai in Rostock vergessen zu lassen. Kommt zahlreich in die Provinz!! Busse gibt es aus Neubrandenburg, Berlin, Hamburg, Rostock etc.
Checkt die webseiten:
kaffeefahrten.wordpress.com
 http://antifarostock.wordpress.com/
 https://defiantantifa.wordpress.com/

weitere Fotos aus Rostock

Mein Name 04.05.2014 - 08:23

weitere Bilder

anonym 04.05.2014 - 21:40

Der Polizeischläger aus der Gutenbergstraße

Der Polizist. 04.05.2014 - 21:48
Dieser Polizist hat in der Gutenbergstraße mehrere Linke Demonstranten bei der ersten Sitzblockde geschlagen.